Afrika retten
Der Kenianer James Shikwati will die Entwicklungshilfe abschaffen von Dieter Neubert
Die öffentliche Debatte über Afrika wird wesentlich vom Bild des Krisenkontinents bestimmt. Dazu passt die Forderung, die Entwicklungshilfe zu erhöhen – sie kann sich auf eine breite Koalition aus Politik, Entwicklungsorganisationen und engagierten Prominenten verlassen, von Bundesentwicklungsministerin Wieczorek-Zeul und dem britischen Expremier Tony Blair bis zu Popstars wie Bono und Bob Geldof. Ins selbe Horn stößt auch der US-Ökonom Jeffrey Sachs mit seinem Buch „Das Ende der Armut“.1 Die von Südafrika und Nigeria initiierte Neue Partnerschaft für Entwicklung in Afrika (New Partnership for African Development, Nepad) will selbst gesteuerte afrikanische Entwicklungsanstrengungen mit zusätzlichen Mitteln internationaler Geber finanzieren.
Gegen diese scheinbare Einigkeit wendet sich seit einiger Zeit in öffentlichkeitswirksamer Weise der Kenianer James Shikwati. Seine Forderung: Schluss mit der Entwicklungshilfe! Denn sie schade Afrika in Wahrheit nur. Sie verhindere die freie Entfaltung der afrikanischen Ökonomie, die den eigentlich wohlhabenden Erdteil in eine bessere Zukunft führen könnte.
Auf der einen Seite steht also die dringende Forderung nach massiver Erhöhung der Entwicklungshilfe, weil sich Armut und Entwicklungsprobleme nur so besiegen ließen. Die andere Seite plädiert dafür, die Entwicklungshilfe sofort zu beenden und ganz auf die in Afrika bislang unterdrückten Marktkräfte zu setzen.
Shikwati wird in den Medien meist als „kenianischer Ökonom“ bezeichnet, obwohl er keine formale ökonomische Ausbildung vorzuweisen hat. 1970 geboren, erwarb er einen Bachelor in Pädagogik an der Universität von Nairobi und arbeitete danach einige Zeit als Lehrer. Schon während des Studiums begann er sich für Fragen des Kapitalismus und des freien Marktes zu interessieren. Dabei traf er auf den US-Ökonomen Lawrence Reed, der ihm Förderung durch konservative US-Forschungsinstitute verschaffte.
2001 gab Shikwati seinen Lehrerposten auf und gründete die kenianische NGO „Inter-Region Economic Network“ (Iren). Iren versteht sich „als unabhängiger Thinktank, der Ideen und Strategien für ein prosperierendes Afrika entwickelt“ und ein „freies Afrika fördert, in dem die Entscheidungen der Menschen auf Informationen des Marktes gegründet sind“.2 Unterstützt von liberal-konservativen Organisationen in den USA, betätigt sich Shikwati seither mit einigem Erfolg publizistisch und politisch: Er hält Vorträge, schreibt kurze Essays3 und gibt Interviews. Darüber hinaus hat er das Buch „Reclaiming Africa“4 herausgegeben.
Shikwati unterwirft zunächst das System der Entwicklungshilfe einer grundsätzlichen Kritik. Dieses System – er selbst spricht von der „Entwicklungsindustrie“ – finanziere nur riesige Bürokratien, unterdrücke den Unternehmergeist und schaffe ein wirtschaftsfeindliches Klima. Die Entwicklungsorganisationen würden die Probleme Afrikas überdies übertreiben, um die Hilfsmaschinerie, von der sie profitieren, in Gang zu halten. So sei beispielsweise immer von 3 Millionen HIV-Infizierten in Kenia die Rede gewesen, bis es plötzlich hieß, es seien doch nur eine Million. Auf den vergleichsweise gut bezahlten Arbeitsplätzen in den Entwicklungsorganisationen säßen oft überqualifizierte Afrikaner, die in der Wirtschaft fehlen.
Ohnehin folge die Entwicklungshilfe vor allem den ökonomischen und geostrategischen Interessen der Geber. „Es geht um Arbeitsplätze für Entwicklungshelfer, und es geht um politischen Einfluss und um Rohstoffe“, fasste Shikwati in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen.5 Die „Entwicklungsindustrie“, so Shikwati weiter, schaffe ihrerseits eine spezifisch afrikanische „politische Industrie“. Da die Entwicklungsgelder direkt an die afrikanischen Regierungen gingen, bestimmen die Politiker über deren Verteilung, was dazu führe, dass die Menschen alles daran setzten, politisch mitzuspielen. Das Geld werde dann entlang von Patronagestrukturen vergeben. So finanziere die Entwicklungshilfe letztlich die ausufernde Korruption in Afrika. Als Beispiel nennt Shikwati die ohnehin problematische Nahrungsmittelhilfe: Von korrupten Politikern veruntreut, lande sie auf dem Schwarzmarkt und dränge die einheimischen Bauern aus dem Markt.
Den Entwicklungshilfegebern ist das natürlich nicht unbekannt. Sie setzen daher seit einiger Zeit verstärkt auf Korruptionsbekämpfung. Laut Shikwati kann dies aber nicht funktionieren, weil das veruntreute Geld aus Steuermitteln der Geberländer und nicht aus afrikanischen Mitteln stammt. Müssten dagegen die Bürger der afrikanischen Staaten mit ihren eigenen Steuern dafür aufkommen, würden sie korrupte Politiker eben nicht mehr ohne weiteres akzeptieren. Shikwatis Kritik trifft auch die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie seien auch nicht besser als die bilaterale Hilfe von Regierungen oder die multilaterale Hilfe von UN-Organisationen, Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF).
Einen Stopp der Entwicklungshilfe würden die meisten Afrikaner kaum bemerken, weil sie ohnehin nichts von der Hilfe haben, ist sich Shikwati sicher. Für den Teil der Wirtschaft, der von der politisch gelenkten Nutzung der Mittel profitiert, wäre das wie der Entzug für einen Drogenabhängigen. Die dadurch ausgelöste Krise könnte jedoch einen Neuanfang in Gang setzen – ein neues Leben gewissermaßen jenseits der Sucht. Dann würden die Afrikaner endlich sehen, dass sie ihre Probleme aus eigener Kraft und mit ihren eigenen Mitteln bewältigen können.
Um Abhilfe gegen die Dauerkrise zu schaffen, brauche es den unbedingten Willen der Betroffenen, die Missstände selbst zu beheben. Nicht Geld, sondern eine Änderung der inneren Einstellung, eine veränderte Mentalität sieht Shikwati als Schlüssel zum Erfolg. Letztlich müsse Afrika seine ersten Schritte in die Moderne allein machen. „Wir müssen anfangen, in Wirtschaftskategorien zu denken und unsere Probleme zu lösen, statt andauernd die internationale Gemeinschaft zu bitten, es für uns zu tun“, sagt er auf der Website von Iren.6 „Wir müssen persönlich Verantwortung übernehmen.“
Shikwatis Appell, die Entwicklungshilfe sofort zu beenden, passt zu seiner marktliberalen Grundeinstellung. In freien Märkten sieht er die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgversprechende Eigeninitiative. Die afrikanischen Spitzenpolitiker sollten auf Handelsschranken verzichten, während die Industrieländer ihrerseits Afrika freien Marktzugang für Rohstoffe, aber vor allem auch für Fertigprodukte gewähren sollen. In der konsequenten Öffnung der afrikanischen Märkte sieht Shikwati attraktive Chancen für heimische Unternehmen. So könnte Afrika beispielsweise den Kaffee- und Teebedarf der 950 Millionen Afrikaner problemlos selbst decken. Ergänzt werden müsste die Handelsfreiheit durch freie Reise- und Migrationsmöglichkeiten, liberalisierte Arbeits- und Kapitalmärkte sowie die Erweiterung des afrikanischen Aktienmarkts durch die Privatisierung von Staatsunternehmen und die Umwandlung von mittleren Betrieben in Aktiengesellschaften.
Die Sicherung von Rechtsstaatlichkeit und die Marktöffnung für ausländische Investoren werde das Investitionsklima verbessern – umso mehr, wenn auch kleine Unternehmen und Kleinbauern Zugang zu Kapital erhalten, etwa durch die Umwandlung informeller lokaler Sparringe in ein basisnahes Bankensystem. Die Schwäche der afrikanischen Infrastruktur will Shikwati durch den Ausbau des Luftverkehrs auch zwischen kleineren Flughäfen überbrücken. Ein Ausbau des Straßen- und Bahnnetzes soll später folgen. Sogar in den sozialen, ökologischen und medizinischen Problemen Afrikas erkennt Shikwati ein brachliegendes Marktpotenzial. Kleine Unternehmen könnten die Wasserversorgung sichern oder Gesundheitsdienstleistungen erbringen und so zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen. Der Erfolg der Mobiltelefone zeige doch, dass sich in Afrika gewinnträchtig investieren lässt und es selbst in ländlichen Regionen sowohl Kaufkraft als auch Nachfrage gibt.
Wie ideologisch geprägt Shikwatis Programmatik ist, zeigt sich an seiner Vorstellung, die mannigfachen sozialen Probleme Afrikas mithilfe der Marktkräfte zu bekämpfen. Denn wie eine privat finanzierte Versorgung als Alternative zu den – noch so mangelhaften – öffentlichen Angeboten in der Realität aussieht, kann man am Beispiel der Schulbildung in Shikwatis Heimatland Kenia studieren: Die staatlichen Schulen sind unterfinanziert, schlecht ausgestattet, und weiterführende Schulen gab es in vielen Gemeinden einfach gar nicht. Diese Lücke wurde und wird von einem großen Privatschulsektor geschlossen, der jedoch die existierende Ungleichheit in aller Schärfe abbildet.
Die Grenzen marktwirtschaftlich erbrachter Sozialleistungen sind in Afrika sogar noch stärker spürbar als in den entwickelten Ländern. Alle Industriestaaten, selbst die marktliberalen USA, betreiben aufgrund dieser Schwierigkeiten eine aktive Sozialpolitik, die je nach politischer Tradition durch private Wohlfahrtsorganisationen flankiert, aber keinesfalls ersetzt wird.
Shikwati dagegen blendet die Sozialpolitik und deren Finanzierung völlig aus. Vielmehr geht er davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung letztlich alle erreichen und irgendwie auch zu den Ärmsten durchsickern werde – eine Hoffnung, die sich seit den 1960er-Jahren als völlig haltlos erwiesen hat.
Gerade die heutigen Industriestaaten haben sich – ganz im Gegensatz zu Shikwatis Vorstellungen für Afrika – keineswegs unter Bedingungen eines radikal freien Weltmarkts entwickelt. In entscheidenden Phasen waren ihre Unternehmen durch Zollschranken geschützt. Auch ist keines der Entwicklungsländer, das in den letzten 30 Jahren den Anschluss an die Industrieländer geschafft hat, den von Shikwati empfohlenen radikalen Weg gegangen.
Die Geschichte zeigt, dass Entwicklungsprozesse generell unter gesellschaftlich und politisch äußerst unterschiedlichen Bedingungen zustande kamen. Großbritannien und die USA haben sich zugleich ökonomisch entwickelt und demokratisiert, während sich die Schweiz als basisdemokratisches Land fast ohne eigene natürliche Ressourcen entwickelt hat. Die asiatischen Beispiele Taiwan, Südkorea oder China haben ihre Entwicklung dagegen unter höchst autoritären und teilweise wirtschaftsdirigistischen Systemen begonnen oder werden im Falle Chinas noch heute autoritär geführt.
Bleibt die Frage: Warum hat Shikwati mit seinen Thesen einen derartigen Erfolg? Warum wird er mit seinen eher banalen Ideen überhaupt so breit wahrgenommen?
Da wäre zunächst seine Radikalität. Schließlich stellt er nicht nur bestimmte Organisationen oder Programme, sondern die Entwicklungshilfe an sich infrage und macht sie für die Entstehung oder zumindest für die Fortdauer der Probleme verantwortlich, die sie vorgibt zu beseitigen. Das ist zwar nicht neu, aber – und das ist der zweite Grund für die Öffentlichkeitswirksamkeit seiner Thesen – er formuliert seine Kritik ausgesprochen einfach und scheut sich nicht vor problematischen Verkürzungen. Ein dritter Grund für die Aufmerksamkeit, die Shikwati entgegengebracht wird, liegt in seiner Herkunft. Kritik an Entwicklungshilfe gewinnt an Gewicht, wenn sie aus Afrika selbst kommt, also von jemandem, der eigentlich dankbar sein müsste für die erwiesene Hilfe.
Der vierte und letzte Grund: Er bricht ein Tabu. Die meisten Entwicklungsexperten wissen um die Probleme der Entwicklungshilfe und des gesamten Systems, vermeiden es aber, ihre Kritik gegenüber einer breiten Öffentlichkeit so zuzuspitzen, weil sie „das Kind nicht mit dem Bade ausschütten“, das heißt die ohnehin labile politische Legitimität für die Hilfe für die Dritte Welt nicht gefährden wollen.
Shikwati würde vermutlich weniger Aufmerksamkeit ernten, wenn die Fachleute ihre Kritik am Entwicklungshilfesystem selbst nicht so vorsichtig äußern würden. Ein Stopp der Entwicklungshilfe wäre sicherlich nicht hilfreich. Dennoch sollte man sich ehrlicher- und realistischerweise vom Ziel verabschieden, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der Industrieländer für die Entwicklungshilfe bereitzustellen. Ernstzunehmende Kritiker weisen zu recht darauf hin, dass eher zu viel als zu wenig Geld in das System der Entwicklungshilfe fließt. Viele Entwicklungsorganisationen und auch die NGOs klagen immer wieder über ein „Mittelabflussproblem“: Es gibt gemessen an den zur Verfügung stehen Mitteln oft nicht genügend sinnvolle konkrete Vorhaben. Weniger könnte in diesen Fällen mehr sein.
Bei aller Kritik an Shikwatis Thesen: Er hat einiges dazu beigetragen, die überfällige öffentliche und kritische Debatte über Entwicklungshilfe anzustoßen. Es liegt nun an den Experten aus Praxis, Politik und Wissenschaft, darauf zu reagieren, das öffentliche Schweigen über die Schwächen des Systems zu beenden und das Mandat und die Anlage der Entwicklungshilfe offen zu diskutieren. Denn eines ist nach 50 Jahren Entwicklungshilfe gewiss: Einfache Lösungen gibt es nicht.
Dieter Neubert ist Professor für Entwicklungssoziologe an der Universität Bayreuth. © Le Monde diplomatique, Berlin