Die Autobahn der nationalen Korruption
Eine albanische Reise von Pristina nach Tirana von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin
Diese Autobahn ist das bedeutendste Projekt der vorangegangenen und kommenden zehn Generationen von Albanern.“ Trotz Dunkelheit, beißender Kälte und dichtem Schneetreiben spürt man die Begeisterung des Polizeichefs der Region Pukë. Schon seit mehreren Stunden helfen seine Leute den in Schnee und Glatteis gefangenen Auto- und Lastwagenfahrern auf dem Qaf-Shllak-Pass in den Bergen Nordalbaniens. Zehn Autos sind steckengeblieben, zwei Lastwagen neigen sich gefährlich zum Abgrund. Eigentlich nichts besonderes. „Die Leute hier können gut fahren“, bemerkt maliziös der Polizist, der den Stau aufzulösen versucht. „Proportional haben wir weniger Unfälle als im Rest des Landes.“
Die schmale Bergstraße ist die einzige Verbindung zwischen dem Kosovo1 , Nordalbanien und der Küstenebene. Mit dem ersten Frost wird die Fahrt zum Abenteuer. Hier rechnet man in Stunden, nicht in Kilometern. Im Sommer braucht man sieben Stunden für die 130 Kilometer von Shkodra in Albanien bis zur Grenze zum Kosovo. Im Winter dauert es noch länger – wenn man überhaupt durchkommt. Im Januar war das Städtchen Kukës mehrere Tage lang im tiefen Schnee vom Rest der Welt abgeschnitten.
Nach den Nato-Bombardements flohen im Frühjahr 1999 zehntausende Kosovo-Albaner vor den serbischen Repressionen über diesen Pass. „Die Flüchtlinge waren in einem erbärmlichen Zustand“, erinnert sich Bashkim Shala, ein Journalist aus Kukës. „Sie strömten in die Stadt, kampierten in den Straßen und auf den Plätzen.“ Ende April 1999 waren es 160 000. In Kukës befand sich auch eines der zahlreichen Lager, in denen die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) Serben, Roma und Albaner, die der Kollaboration mit dem Belgrader Regime beschuldigt wurden, festgehalten und gefoltert hat.
Ein Jahrzehnt nach dem Krieg ist die Bevölkerung des neuen Staats Kosovo1 ethnisch nahezu homogen. Die verbliebenen 100 000 Serben leben in Enklaven im Norden des Territoriums, die anderen Minderheiten werden ausgegrenzt. Die Gründung eines zweiten albanischen Staats auf dem Balkan belebt unweigerlich den Traum von der Vereinigung der albanischen Territorien, die durch den Zerfall des Osmanischen Reichs 1912 getrennt wurden. Der Londoner Vertrag vom 30. Mai 1913, der den Ersten Balkankrieg beendete, bestätigte zwar die Gründung der unabhängigen Republik Albanien, berücksichtigte allerdings nicht die albanischen Siedlungsgebiete im Kosovo, in Mazedonien, Montenegro, Griechenland und im Presovo-Tal in Südserbien.
Heute gibt es kaum wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen Albanien und dem Kosovo. Während der Hoxha-Ära gab es ein halbes Jahrhundert lang keinerlei Kontakt zwischen der Bevölkerung der beiden Staaten. Um deren Annäherung zu beschleunigen, hat der albanische Ministerpräsident Sali Berisha ein altes Projekt wieder ausgegraben, das jahrelang in der Schublade lag: den Bau einer Autobahn zwischen Tirana und der Grenze zum Kosovo. Irgendwann soll diese Schnellstraße bis nach Pristina führen und die Fahrtzeit zwischen den beiden Hauptstädten auf drei Stunden verkürzen.
In Albanien teilt sich das Projekt, das insgesamt mehr als eine Milliarde Euro kosten wird, in drei Abschnitte. Für den ersten – von der Grenze des Kosovo bis nach Kukës – hat die Islamische Entwicklungsbank einen Kredit gewährt. Die Weltbank engagiert sich für den letzten Abschnitt von Rrëshen bis nach Milot, von wo eine gut erhaltene Nationalstraße nach Tirana führt. Übrig bleibt das schwierige Stück von Kalimash bis Rrëshen – 61 Kilometer durch die Berge. Dutzende Viadukte werden die Täler überspannen, ein Tunnel von 5,6 Kilometern muss gebohrt werden. Dieser Abschnitt wird vollständig vom albanischen Staat finanziert, der dafür einen Kredit von der griechischen Alpha-Bank erhalten hat.
Die Zeit drängt. Die Arbeiten wurden im Sommer 2006 begonnen und sollen vor den Parlamentswahlen am 28. Juni 2009 abgeschlossen sein. Am 20. März stürzte der Tunnel zwischen Rhëshen und Kalimash ein, was das Bauunternehmen mehrere Tage zu verheimlichen suchte. „Wenn es sein muss, verkaufen wir den Schmuck unserer Frauen, um diese Autobahn fertig zu bauen“, tönte der Ministerpräsident vor dem Parlament. Seine politische Zukunft hängt vom Erfolg dieses gigantischen Projekts ab. Auch wenn die albanischen Bürger damit für Jahrzehnte verschuldet sein werden.
Von Pristina aus gesehen ist Albanien weit weg. Abgesehen von den Politikern bewegt die zukünftige Straße hier kaum jemanden. Transportminister Fatmir Limaj gibt sich in seinem großen Büro im Regierungssitz als effizienter Technokrat: „Diese Autobahn wird alle Beziehungen in der Region beeinflussen. Sie wird bis nach Nis in Serbien weitergehen und Belgrad mit Sofia verbinden. In zehn Jahren werden Serben an Albaniens Stränden Urlaub machen.“ Die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo sind seit der Unabhängigkeitserklärung der einstigen serbischen Provinz auf dem Gefrierpunkt, aber der Minister sagt: „Man muss langfristig denken, in Zeiträumen von zwanzig, dreißig Jahren.“
Transportminister mit strategischem Talent
Die mit dem Autobahnprojekt verknüpften nationalen Fragen werden ausgeklammert. So weist Limaj die Bezeichnung „großalbanische Autobahn“ entschieden von sich: „Wer so redet, schadet der Entwicklung im Kosovo und in Albanien. Das ist ein Projekt von regionaler Bedeutung im Kontext der europäischen Integration der Balkanstaaten.“ Er beugt sich über die Karte des Kosovo. Limaj war einmal der UÇK-Kommandant Çelliku („Stahl“). 2005 wurde er vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag von schwerwiegenden Anschuldigungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit2 freigesprochen. Nun nutzt er seine strategischen Erfahrungen und skizziert mit dem Bleistift den künftigen Verlauf der Autobahn.
Auf der kosovarischen Seite haben die Arbeiten noch nicht richtig begonnen – abgesehen von einigen Abschnitten an der künftigen Umfahrung von Pristina: „Sie ist nötig, um Pristina zu entlasten und die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zu sichern“, erklärt Limaj. Die künftige Verkehrsachse soll den Flughafen von Pristina bei Fushë-Kosovë/Kosovo Polje mit der Straße nach der mazedonischen Hauptstadt Skopje verbinden, die bei Preoc/Preovce abzweigt. Sie führt mitten durch die letzten serbischen Enklaven rings um Pristina. „Die Grundstückpreise gehen bereits in die Höhe. Die Bewohner der Region können ihre Immobilien sehr vorteilhaft verkaufen. Preoc wird eine sehr attraktive Gegend werden“, sagt der Minister, ohne zu erwähnen, dass die Bewohner der betroffenen Gebiete Serben sind.
„Albanische Investoren kaufen das Gelände an der künftigen Umgehungsstraße“, erzählt ein Journalist aus Pristina. „Man kann damit rechnen, dass nach der Fertigstellung neue Häuser wie Pilze aus dem Boden schießen werden, genauso wie auf den ersten zehn Kilometern bei der Autobahn nach Skopje.“ Diese früher von Serben bewohnte Gegend wurde zunächst bei den Märzunruhen 2004 geräumt, dann errichtete man dort Bürogebäude, womit die letzten serbischen Viertel von den großen Verkehrsachsen weggedrängt wurden.
Etwa 15 000 Serben leben noch in einer Hand voll Dörfer nahe der Hauptstadt, untereinander verbunden durch ein Netz kleinerer Straßen, die die Albaner nicht benutzen. Das Überleben dieser Parallelwelt ist durch den Autobahnbau bedroht. In den Dörfern hat man von den Plänen gehört, aber was soll man machen? Der Tierarzt Jovan floh 1995 aus dem kroatischen Knin ins Kosovo. Heute lebt er in einem von Russland gespendeten Fertighaus neben einer Ruine, in der vor dem Krieg von 1999 Roma wohnten. Seine Behelfsunterkunft liegt mitten auf dem Gelände der künftigen Straße. „Ich denke nicht an die Zukunft“, sagt der alte Mann: „Ich züchte meine Schweine, sie leisten mir Gesellschaft.“
Im Kosovo ist die Autobahn noch Zukunftsmusik, aber sobald man die Grenze bei Morinë überquert hat, sieht man, dass alles daran gesetzt wird, das Projekt möglichst schnell zu realisieren. Baumaschinen aller Art bohren sich in den Berg. Hunderte Arbeiter werkeln unter den neugierigen Blicken der Schäfer an Brücken und Viadukten. Marko arbeitet seit zwei Jahren auf der Baustelle als Angestellter der mazedonischen Firma Granit, die für die Viadukte zuständig ist. „Hier verdient man 500 Euro im Monat, da kann man sich nicht beklagen“, findet er, auch wenn er nur ein freies Wochenende im Monat hat.
Kurz vor Kukës, der einzigen Stadt in dieser Region, hallen Explosionen durch die Berge. Von den Felswänden steigen Rauchfahnen auf. Wenige Minuten später haben die Bauarbeiter die Straße wieder leergeräumt, der Weg nach Kukës ist frei. In Kukës ist man froh über den Bau der Autobahn. „Sie wird den Handel mit Prizren und dem ganzen Kosovo beleben und endlich Investoren anziehen“, hofft der Journalist Bashkim Shala. Die Erwartungen sind groß, die wirtschaftliche Not erdrückend. Kupfer- und Chromminen haben den Übergang zur Marktwirtschaft nicht überlebt. Die Holzindustrie reicht nicht aus, um die Bewohner dieser abgelegenen Berge zu ernähren. Seit 1990 ist fast die Hälfte der Bevölkerung des Bezirks nach Tirana oder ins Ausland gezogen.
„Abends, wenn die Händler in ihre Dörfer zurückkehren, ist die Stadt verlassen. Sie hat nur noch 12 000 Einwohner“, berichtet uns Shala. „Die neue Straße ist unsere letzte Hoffnung. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Baus sind schon spürbar. Mehr als 3 000 Leute arbeiten auf den Baustellen, die Hälfte davon sind Albaner.“ Die beiden Camps, die für die US-amerikanischen Ingenieure und die slowenischen, türkischen und mazedonischen Arbeiter errichtet wurden, kommen den Händlern und Gastronomen in der Umgebung sehr gelegen. Arme Familien halten ihre Kinder an, bei den Amerikanern um Essen zu betteln.
Die durch die Berge der Mirdita von Tirana und Shkodra isolierten Bewohner Nordalbaniens orientierten sich schon immer nach der Ebene von Dukagjin/Metochien und waren mit den Märkten von Peja/Pec und Prizren im Kosovo verbunden. Bis zum Zerfall des Osmanischen Reichs fanden Schäfer und Händler aus Nordalbanien in den großen Handelsstädten der Ebene einen Absatzmarkt für ihre Produkte. Die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen endeten jäh nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Machtergreifung von Enver Hoxha, der 1948 mit Titos Jugoslawien brach.
Der Zusammenbruch der stalinistischen Diktatur in Albanien 1991 und das 1992 verhängte internationale Embargo gegen Serbien und Montenegro begünstigten den intensiven Schmuggel in der Bergregion beider Länder. „1999, während des Kosovokriegs, konnte man alles verkaufen. Die Bewohner von Kukës mischten Wasser ins Benzin und lieferten das Gebräu auf die andere Seite der Grenze. Einer der beliebtesten Schmuggelpfade führte durch die von den Gorani3 kontrollierten Bergregionen. Man beruhigte sein Gewissen, indem man sich einredete, den Kampf unserer Brüder im Kosovo zu unterstützen, dabei landete ein Großteil des Benzins in den Kasernen der jugoslawischen Armee“, erzählt Shala. „Das waren goldene Zeiten. Alle haben vom Schmuggel profitiert. Doch seit die Grenzen offen sind, ist Ebbe. Jetzt setzen wir auf die Autobahn.“
Die alte, während des Zweiten Weltkriegs von den Italienern gebaute Straße führt von Kukës hinunter nach Shkodra, vorbei an Dörfern wie Fushë Arrëz, die zum Untergang verurteilt sind. Hier überlebt man dank der Durchreisenden, die wegen Schnee und Eis nicht bis zur Küste durchkommen. Ein paar bescheidene Verkaufsstände und Hotels bilden seit der Schließung der Kupferminen die Existenzgrundlage für einen Teil der Bevölkerung. Ein Händler auf dem erbärmlichen Basar der früheren Kooperative meint: „Die Autobahn? Sie ist natürlich für Albanien unbedingt nötig, aber unser Dorf wird dadurch noch schneller sterben. Auf der alten Straße wird keiner mehr fahren, niemand wird in Fushë Arrëz anhalten. Wir werden von der Welt abgeschnitten sein.“
Mit dem Tunnel von Kalimash wird man dieses Gebiet tatsächlich umgehen. Die Autobahn wird direkt nach Tirana führen und nach Durrës, dem wichtigsten Hafen des Landes, dessen technische Ausstattung allerdings veraltet und kaum noch funktionstüchtig ist. Überdies versandet das Hafenbecken, Schiffe mit großem Tiefgang können dort nicht festmachen.
Suzana Guxholli, Wirtschaftsberaterin von Albaniens Ministerpräsident Berisha, versichert, dass die Privatisierung der Häfen des Landes ihre Modernisierung ermöglichen werde. Mehrere ausländische Konsortien hätten bereits Interesse bekundet. Durrës und Shengjing würden für den Binnenstaat Kosovo zu maritimen Umschlagplätzen werden.4
Ein Importeur am Hafen ist wesentlich weniger optimistisch hinsichtlich der möglichen Privatisierung und Modernisierung: „Das Amt des Hafendirektors ist eines der einträglichsten im Land. Der Direktor wechselt ja mit jeder neuen Regierung, und während seiner Amtszeit denkt er nur daran, sich so schnell wie möglich zu bereichern.“ Der Handel mit dem Kosovo ist nach wie vor bescheiden. „Etwas Getreide im Transit über Durrës, und das war’s auch schon. Bei der ökonomischen Situation in beiden Ländern ist einfach nicht mehr drin.“
Bei Albaniens Politikern sorgt die Finanzierung der Autobahn weiterhin für Aufregung. „Sie wollen über die Autobahn reden? Ich hole meine Akten“, sagt der Abgeordnete Erjon Braçe. Der kleine, redselige Mann ist einer der Sprecher der sozialistischen Opposition im Parlament. Er kritisiert die Berisha-Regierung wegen der zahlreichen Korruptionsaffären, die in Albanien regelmäßig publik werden. Die Sozialisten sprechen aus, was in Albanien viele denken: „Autobahn der nationalen Korruption“ heißt das Projekt im Volksmund, obwohl die Idee schon 2001 vom damaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Pandeli Majko aufgebracht wurde. Anfänglich gab es drei Optionen: In der ersten sollte die aktuelle Route ausgebaut werden, die zweite war die jetzt beschlossene Route, aber ohne Tunnel, sprich ohne Schutz vor Schneeverwehungen, und die dritte Option mit dem Tunnel von Kalimash wurde am 7. Oktober 2003 angenommen, trotz der Bedenken der Weltbank, die keine Autobahn finanzieren wollte.
Auch für die Finanzierung waren mehrere Varianten im Gespräch. 2002 hatte Ministerpräsident Majko dafür eine spezielle Steuer beschlossen, die als Majko-Steuer bekannt wurde. Der Internationale Währungsfonds (IWF) kritisierte diese Methode. Die Steuereinnahmen – nach Schätzungen 60 bis 70 Millionen Euro – versickerten im Staatsbudget. 2004 dachte man daran, den Vertragsunternehmen Maut-Konzessionen für die Straßennutzung zu erteilen. Es wurde sogar ein Vertrag zwischen der sozialistischen Regierung, die damals von Fatos Nano geführt wurde, und der österreichischen Strabag AG über eine Konzession für den Abschnitt Rrëshen–Kalimash über 335 Millionen Euro abgeschlossen. Dieser Abschnitt wäre dann natürlich mautpflichtig gewesen. Durch den Sieg der Demokratischen Partei bei den Wahlen im Juli 2005 wurde jedoch alles wieder infrage gestellt. Der neue Ministerpräsident Berisha fühlte sich nicht an das Abkommen gebunden, und die Regierung beschloss den Beginn der Arbeiten für 2006.
Der Sozialist Braçe findet die seltsame Eile verdächtig. Am 10. Juli 2006 wurde das Beratungsunternehmen Ecorys für die Kontrolle der Arbeiten ausgewählt. Am 14. Juli wurde eine Ausschreibung eröffnet, an der sich mehrere Unternehmen beteiligten, vor allem die Strabag, die Croate Konstruktor und das US-amerikanische Unternehmen Bechtel, im Gemeinschaftsunternehmen mit der türkischen Enka.
Dieses Konsortium erhielt den Zuschlag für den Abschnitt Rrëshen–Kalimash, allerdings erfüllen die Kriterien nicht die albanischen Gesetze über öffentliche Aufträge. „Es gibt keine Limits für die bewilligten Mittel. Das Prinzip besteht darin, gleichzeitig zu bauen und das Projekt anzupassen, wie es in den USA üblich ist“, kritisiert Braçe. Er verweist auf die fortwährenden Budgetüberschreitungen: „Als der Vertrag am 6. Oktober 2006 unterschrieben wurde, betrug das darin genannte Budget 418 Millionen Euro. Am 3. April 2007 verlangte Bechtel eine Erhöhung des Vertragsvolumens auf 560 Millionen, heute ist von 620 Millionen Euro die Rede. Die Experten sprechen von Gesamtkosten von 1 026 Millionen Euro für diesen Abschnitt von 60 Kilometern, also mehr als das Doppelte des ursprünglich festgelegten Budgets.“
Bechtel ist weltweit eines der größten Unternehmen im Straßenbau und hat beste Kontakte zur US-Regierung. Man kann also vermuten, dass die amerikanische Botschaft in Tirana alles unternommen hat, um diese Entscheidung zu befördern. Vielleicht hätten sich die Albaner informieren sollen, was in Rumänien geschehen ist.
Dort baut Bechtel ebenfalls in Zusammenarbeit mit Enka die Transsilvanische Autobahn, die Brasov mit der ungarischen Grenze verbinden soll, eine Strecke von mehr als 400 Kilometern. Die ursprünglich vorgesehenen Kosten für diesen Bau, der 2004 begann, lagen bei 2,2 Milliarden Euro. Nach großen Verzögerungen dürfte die Autobahn nicht vor 2013 fertig sein, die Kosten werden die 7-Milliarden-Grenze überschreiten. Die rumänischen Behörden haben versucht, den Vertrag aufzulösen, aber dann hätten sie Milliarden Euro Schadenersatz zahlen müssen.
Eine große Frage bleibt in Albanien offen: Woher kommt das Geld? Offiziell hat die griechische Alpha-Bank der albanischen Regierung einen Kredit von 300 Millionen Euro gewährt, aber niemand weiß, welche Garantien der Staat dafür gegeben hat. Für den Rest werden alle Ressourcen des Staats in Anspruch genommen. „65 Prozent der Investitionssumme steuert das Transportministerium bei, also drei Viertel seines Gesamtbudgets fließen allein in die Autobahn“, rechnet Braçe vor. „Die Weltbank hatte allerdings andere Prioritäten für unser Land empfohlen, nämlich Bildung und Gesundheitswesen.“
Eine Straße für das US-Camp Bondsteel
Im November 2008 hat die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen Lulzim Basha eingeleitet, der zum Zeitpunkt des Arbeitsbeginns Transportminister war. Seine Karriere hatte er im Kosovo begonnen, wo er mehrere Jahre für die internationale Verwaltung arbeitete. Inzwischen ist er Außenminister. Der 34-Jährige gilt als einer der engsten Vertrauten von Ministerpräsident Berisha. Braçe zufolge „schätzen Spezialisten, dass Bechtel mit dem Projekt einen Gewinn von 44 Prozent macht. Das Gericht will aufklären, welche Verbindungen zwischen dem Minister und diesem Unternehmen bestehen.“
Die Untersuchung begann in einem sehr spannungsreichen Umfeld. Basha saß bereits schon einmal wegen seiner vermuteten Beziehungen zu dem bosnischen Mafioso Damir Fazlic auf der Anklagebank. Fazlic, der Anfang Oktober in Sarajevo kurz inhaftiert war, wird des Schmuggels und der Geldwäsche verdächtigt. Er hatte in Albanien zwei Phantomfirmen gegründet, beide liefen auf den Namen des Schwiegervater von Minister Basha. Und der Geschäftsführer war ein Schwager eben dieses Ministers. Dennoch hat das Gericht von Tirana am 15. Dezember 2008 das Verfahren des Generalstaatsanwalts eingestellt und Bashas Immunität aufgrund seiner Funktion anerkannt, was in Albanien natürlich einen Aufschrei der Empörung auslöste.
Ein Mann jedoch wird sich sehr wohl hüten, die Polemik um die Autobahn für politische Zwecke auszunutzen: Der ehemalige sozialistische Ministerpräsident Pandeli Majko bleibt ein glühender Anhänger des Projekts und will nichts von Korruptionsaffären hören. Er empfängt uns in seinem Büro. Heute hat Majko den Vorsitz im Parlamentsausschuss für die Zusammenarbeit mit der Nato. Er räumt ein, dass die künftige Autobahn auch strategische Bedeutung hat, vor allem im Hinblick auf den offiziellen Nato-Beitritt Albaniens, der am 1. April 2009 vollzogen wurde.
Die Autobahn zwischen Pristina und der Adria bietet dem US-Militär in Camp Bondsteel im Südwesten des Kosovo – sie ist eine der größten US-amerikanischen Militärbasen in Europa – einen gesicherten Zugang zum Meer und damit zu den Schiffen der 5. US-Flotte, die vor der Küste kreuzen. Die USA, die die Unabhängigkeit des Kosovo unterstützt und ermutigt haben, gewinnen so einen schnellen und gesicherten Verbindungsweg ins Zentrum Europas.
Wenige Kilometer von Kukës entfernt wurde vor zwei Jahren ein wenig bekannter Flughafen fertiggestellt. Er ist voll funktionsfähig und hat die Betriebslizenz im Oktober 2007 erhalten. Da aber das mit der Bewirtschaftung des Mutter-Teresa-Flughafens in Tirana-Rinas beauftragte deutsch-amerikanische Unternehmen Tirana Airport Partners ein Monopol für sämtliche Flughafenaktivitäten in Albanien hat, gibt es dort keinerlei Flugverkehr. „Es landen regelmäßig Nato-Flugzeuge in Kukës“, versichert Majko. Diese Information können die Anwohner kaum bestätigen. Niemand hat dort je ein Flugzeug landen sehen, auch wenn manche behaupten, nachts Motorengeräusche zu hören. Tagsüber sind Rollfeld und Wartesäle menschenleer. Nur ein paar Sicherheitsmänner joggen an den Zäunen um die Startbahnen entlang, um sich aufzuwärmen.
Offiziell wurde das Projekt mit 30 Millionen Dollar von den Vereinigten Arabischen Emiraten finanziert, um „dem Volk von Kukës zu helfen“, als Erinnerung an das Flüchtlingslager, das während des Kosovokriegs von den Emiraten errichtet worden war. Aber das kleine Städtchen braucht keinen Flughafen. Er wäre nur dann von wirtschaftlichem Interesse, wenn er Reisende aus dem Osten des Kosovo anlocken würde.
Verbergen sich hinter der US-amerikanischen Unterstützung für die neue Straße strategische Ziele? Während der von der Europäischen Union vorgesehene Gesamteuropäische Korridor VIII – er soll Tirana mit dem Skopje und des weiteren mit Thessaloniki in Griechenland verbinden – außerordentlich langsam vorangeht, war die Unterstützung der USA offenbar entscheidend für die Realisierung dieser Autobahn, die die beiden wichtigsten albanischen Gebiete miteinander verbindet.
Ist es nun unsere „großalbanische Autobahn“? Der Universitätsprofessor Enis Sulstarova lacht: „Man braucht mehr als eine Straße, um eine Nation zu schmieden.“ Er versucht zwar, die nationalen Mythen auseinanderzunehmen, betont aber ausdrücklich, dass es sehr wohl eine „albanische Frage“ gibt. Auch wenn die Politiker im Kosovo und in Albanien heute vermeiden, davon zu sprechen, um ihre ausländischen Mentoren nicht zu verärgern.
„Die von den internationalen Akteuren diktierte Logik besteht darin, den nationalen Gehalt der Unabhängigkeit des Kosovo zu verschweigen“, stellt Sulstarova fest. „Die Nutzung nationaler Symbole wurde verboten, um die Entstehung eines multiethnischen Kosovo zu fördern, aber das ist ziemlich sinnlos.“ Die Serben lehnen die Unabhängigkeit ab und betreiben eine unverhohlene Spaltungspolitik, während die Albaner bei den Unabhängigkeitsfeiern des neuen Staates die rote Fahne mit dem schwarzen Adler, dem Symbol der albanischen Nation schwenkten und nicht etwa die neue, für diesen Anlass geschaffene Kosovofahne.
Die Autobahn wird die Beziehungen zwischen Kosovo und Albanien fördern. Eine Nebenwirkung wird allerdings die Ausgrenzung der 500 000 Albaner in Mazedonien sein. Das kann im labilen politischen Umfeld Mazedoniens zu einer erneuten Radikalisierung dieser Gemeinschaft führen, die in diesem Fall daran erinnern könnte, dass die nationale albanische Frage eine ist, die sich für die Albaner der gesamten Region stellt.
Der Präsident der Republik Albanien, Bamir Topi, hat am 9. Januar 2009 bei seinem ersten offiziellen Besuch seit der Ausrufung der Unabhängigkeit im Kosovo die baldige Unterzeichnung eines Freizügigkeitsabkommens zwischen beiden Ländern vollmundig als „balkanisches Mini-Schengen“ dargestellt. Dieses Abkommen könnte irgendwann einmal auf Mazedonien und Montenegro ausgedehnt werden. Aber zunächst geht die Annäherung zwischen den „beiden albanischen Staaten des Balkans“ weiter, und die Autobahn könnte dazu beitragen. Sulstarova formuliert es so: „Eine Autobahn kann zwar keine Nation schaffen, aber sie sie hat das gefährliche Potenzial, den Keim einer kosovarischen Nation zu zerstören.“
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin sind Chefredakteure des Online-Presseportals Courrier des Balkans und Autoren von „Comprendre les Balkans. Histoire, sociétés, perspectives“, Paris (Non Lieu, 2. Auflage) 2008.