Die größte Demokratie
Die Nöte des Volkes spielen bei den indischen Wahlen keine Rolle von Praful Bidwai
Am 17. April haben die Wahlen zum 15. indischen Parlament begonnen, die Mitte Mai zu Ende gehen werden. In gewisser Weise sind Wahlen in Indien genauso gigantisch, vielfältig und hoffnungslos kompliziert wie das Land selbst. Sie ziehen sich mit ihren fünf Abstimmungsphasen über einen vollen Monat hin; es gibt 714 Millionen stimmberechtigte Bürger, die in über 828 000 Wahllokalen und an 1,3 Millionen Wahlautomaten abstimmen werden; der Ablauf wird von 6,1 Millionen zivilen Wahlhelfern und Polizisten beaufsichtigt und abgesichert.
Das Unterhaus des indischen Parlaments hat 543 Sitze, die alle per Direktwahl vergeben werden. Da keine Partei eine Mehrheit erringen wird, läuft es auf eine Koalition hinaus. Seit der dritten Wahlrunde vom 30. April sind aller Augen auf zwei unterschiedliche Muster gerichtet.
Da ist zunächst das Duell der großen Parteien, wie in Gujarat und Madya Pradesch. Dort stehen sich die Congress Party (CP), die derzeit die Regierung stellt, und die chauvinistische Hindu-Partei Bharatiya Janata (BJP) gegenüber. Besonders bedeutsam ist das Ergebnis im Bundesstaat Gudscharat, der 2002 Schauplatz eines schrecklichen, von der dortigen BJP-Regierung angestachelten Pogroms gegen die muslimische Bevölkerung war. Das Oberste Gericht Indiens hat gerade ein Ermittlungsverfahren gegen Ministerpräsident Narendra Modi und andere Funktionäre angeordnet, denen Anstiftung zum Mord an 2 000 Muslimen vorgeworfen wird.
Das andere Muster sind die multipolaren Konstellationen in den bevölkerungsreicheren Bundesstaaten im Norden und Osten. Hier spielen neben der CP und der BJP auch andere Parteien eine maßgebliche Rolle, weil sie die niedrigen und mittleren Kasten repräsentieren, die innerhalb der sozialen Hierarchie Indiens im Aufstieg begriffen sind.
Dazu gehören die linken Parteien unter Führung der Communist Party of India, CPI (Marxist), und der in Westbengalen regierenden Communist Party of India, CPI ohne „Marxist“, des Weiteren die Samajwadi Party (SP) unter Führung von Mulayam Singh Yadav, deren Hochburg der größte indische Bundesstaat Uttar Pradesch ist, die Rashtriya Janata Dal (RJD) des populistisch auftretenden Eisenbahnministers Lalu Prasad; die Bhuian Samaj Party (BSP) unter Führung von Mayawati, einer Angehörigen der Dalit (auch als Kastenlose bekannt), die in Uttar Pradesch regiert, und schließlich die Janata Dal (United), die in Bihar an der Macht ist.
Das Abschneiden dieser Parteien wird entscheidend sein für die Stärke und exakte Zusammensetzung der drei großen Blöcke, die heute die indische Parteienlandschaft ausmachen: die United Progressive Alliance unter Führung der Congress Party; die National Democratic Alliance unter Führung der BJP; eine noch embryonale „dritte Front“ aus linken Parteien und bunt gemischten regionalen Gruppierungen.1
Der Ausgang des Duells zwischen Congress und BJP wird in bestimmten Staaten darüber entscheiden, wer in der BJP die politische Führung übernimmt. Sollte die BJP in Gudscharat klar gewinnen, wird der jetzige Vorsitzende Lal Krischna Avani wohl durch den Extremisten Modi abgelöst werden. Das wiederum würde die Ängste der indischen Muslime schüren, die 13 Prozent der Bevölkerung stellen. Sie stimmen traditionell für Congress, unterstützen neuerdings aber auch kleinere Parteien, die eher in der Lage sein könnten, die BJP von der Macht fernzuhalten. Die indischen Muslime sehen sich in letzter Zeit immer stärker diskriminiert, was zum Teil an den schlechteren Beziehungen zu Pakistan seit den Anschlägen von Mumbai im November 2008 liegt, aber auch an der islamfeindlichen Wahrnehmung des Terrorismus im indischen Sicherheitsapparat.
Dem großen Kräftemessen fehlt dieses Mal der zentrale politische Inhalt. Es gibt weder ein wichtiges Thema noch größere ideologische Auseinandersetzungen noch scharfe politische Bruchlinien. Aber es gibt eine neue Vielfalt und Beliebigkeit politischer Bündnisse und den schier unglaublichen Kuhhandel, der damit verbunden ist. Das ist ein scharfer Kontrast zu den letzten Wahlen von 2004, die zum Plebiszit über die fast sektiererische Politik der BJP und deren Slogan von einem „glänzenden“ Indien wurden. Damals verlor die BJP in 23 von 28 Bundesstaaten.
In früheren Wahlen ging es auch um wichtige Trends: um das politische Erwachen der Unterprivilegierten, um den Niedergang der Congress und den Aufstieg der regionalen Parteien. Im jetzigen Wahlkampf, der außerordentlich demagogisch geführt wurde, ging es wenig um politische Programme. Ein Beispiel für den vorherrschenden üblen Ton sind die Beleidigungen, mit denen Varun Gandhi gegen Muslime agitierte. Der Urenkel des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru, der für die BJP in Uttar Pradesch kandidiert, verkündete drohend, er werde die Muslime in Stücke hacken, und forderte die Zwangssterilisierung muslimischer Männer.
Gandhis Hasstiraden haben die Öffentlichkeit schockiert, zumal der Spross dieser prominenten Familie, der unter anderem an der London School of Economics studiert hat, zuvor keine islamfeindlichen Neigungen gezeigt hatte. Eigentlich hätte die autonome Wahlkommission, die Gandhis Sprüche verurteilt hat, auch gegen ihn vorgehen müssen. Aber ist sie rechtlich nicht befugt, Gandhi von den Wahlen auszuschließen.2
Diese institutionelle Schwäche ist nur eine der Eigenheiten der indischen Demokratie. Eine weitere ist die zentrale Rolle, die im Basar der Wahlbündnisse und -absprachen die Gruppenzugehörigkeit spielt, also die ethnische, sprachliche, regionale, religiöse oder kastenmäßige Identität (und in schwächerem Maße auch die ökonomisch definierte Klassenzugehörigkeit). Die BJP lebt von der Ausbeutung der politisierten religiösen Identität. Die Dalit Mayawati Kumari will die Kaste als politischen Hebel zur Mobilisierung im Norden nutzen. Ähnlich wichtig sind die Zugehörigkeit zu niedrigen und mittleren Kasten (die im offiziellen Jargon als OBCs oder „Other Backward Classes“ bezeichnet werden), zu einem Stamm oder Clan sowie regionale und lokale Identitäten.
Diese Identitäten schlagen sich in der Parteienlandschaft unterschiedlich nieder. Sehr vereinfacht sieht das etwa so aus: Kastenzugehörigkeit spiegelt sich im hindisprachigen „cow belt“ in Parteien mit ausgeprägtem OBC-Profil. Diese Parteien sind aus der sozialistischen Bewegung hervorgegangen, die sich in der Janata Partei (JP) organisiert hat. Die im Süden dominierenden Parteien bauen ebenso sehr auf regionale wie auf kastenmäßige Identitäten. Und große Volksparteien wie die CP sammeln ganz unterschiedliche Gruppen.
Merkwürdigerweise spielen die ökonomischen Stellung oder Klassenzugehörigkeit in den Parteistrategien des Wahlkampfs eine weit geringere Rolle als sonst in gesellschaftlichen und ökonomischen Auseinandersetzungen. Die Parteiprogramme äußern sich nie direkt zu Themen wie manifeste Armut oder Unterernähung (unter der die Hälfte der indischen Kinder leiden), wie Mängel in der Gesundheitsversorgung und im Bildungswesen, fehlende Trinkwasserversorgung und sanitäre Einrichtungen. Die meisten Parteien fordern weder ein Wachstumsmodell, das die sozialen Unterschiede verringert, noch eine Politik staatlicher Umverteilung. Stattdessen begnügen sie sich mit beschwichtigenden Leistungen wie kostenloser Stromversorgung, subventionierten Lebensmitteln oder sogar Gratisfernsehern und Smartphones.
Erstaunlich ist auch, dass keine Partei – auch keine linke – auf angemessener Besteuerung der Reichen besteht oder eine bessere steuerliche Erfassung fordert, um die staatliche Finanzlage zu verbessern. Und das, obwohl die Schicht der Vermögenden in Indien einen der niedrigsten Steuersätze in der ganzen Welt zahlen (wenn sie es denn überhaupt tun). Der Einkommensteuer unterliegen nicht einmal 7 Prozent aller indischen Bürger. Und eine Erbschaftsteuer gibt es in dieser extrem hierarchisierten Gesellschaft nicht, in der Geburtsprivilegien lebenslang einen hohen Sozialstatus garantieren, Herkunft aus armen Familien dagegen lebenslangen Mangel bedeutet – an Nahrungsmitteln wie an Bildung wie an Berufschancen.
Eine Landreform und andere Umverteilungsprogramme sucht man auf der politischen Agenda vergebens. Es gibt lediglich begrenzte Ansätze positiver Diskriminierung wie Quoten für den Zugang zu Schulen, Colleges und bestimmte Jobs. All das erklärt, warum in Indien das sogenannte natürliche Gravitationszentrum der Politik und deren tatsächliche Mitte nicht dasselbe sind. Das „natürliche“ Zentrum liegt – angesichts struktureller Armut, schändlicher Einkommensunterschiede und eines Mangels an gerechtem und nachhaltigem Wachstum – klar in der linken Hälfte des politischen Spektrums. Aber die Eigenheiten der politischen Kultur sorgen dafür, dass das tatsächliche Zentrum diffus bleibt und in die Nähe der rechten Mitte gerückt ist.
Weder die 150 000 Bauern, die in den letzten zehn Jahren Selbstmord begangen haben, noch der Verlust von Millionen Arbeitsplätzen in der aktuellen Rezession haben die Mehrzahl der indischen Parteien dazu veranlasst, eine überzeugende politische Antwort auf die Probleme zu formulieren. Das liegt zum Teil daran, dass der Marktliberalismus in der indischen Elite nach wie vor in Mode ist – einer Elite, die nur ein Zehntel der Gesellschaft ausmacht, aber durch die Gestaltung der Politik und der mediengesteuerten Wahrnehmung sehr viel einflussreicher ist. Es hat aber auch mit der schieren Größe des Landes zu tun. Jeder der direkt gewählten Abgeordneten des indischen Parlaments repräsentiert fast zwei Millionen Menschen. Damit haben kleine Gruppen auf die politische Willensbildung so gut wie keinen Einfluss. Eine effektive lokale Selbstverwaltung ist praktisch nicht existent, die arbeitende Bevölkerung, auch aufgrund der schwachen Gewerkschaftsbewegung, kaum irgendwo repräsentiert. Diese Wahlen werden also keinen dramatischen Wandel bringen – es sei denn, die BJP gewinnt. Aber wenn es zu einer Koalition unter Führung der Congress Party oder einem Bündnis der Linken mit den regionalen Parteien kommt, sind nur bescheidene Veränderungen zu erwarten.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Praful Bidwai ist Journalist in Mumbai und Fellow des Transnational Institute in Amsterdam. © Le Monde diplomatique, Berlin