Die Liebe der Linken zu Lula erkaltet
Zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Präsident da Silva erfreut sich Brasilien einer stabilen Währung und steigender Investitionen. Doch noch immer leben etwa 58 Millionen Brasilianer von weniger als einem Dollar am Tag.
Von EMIR SADER *
NACH Ablauf der Hälfte seiner Amtszeit kann Brasiliens Präsident Luiz Inácio („Lula“) da Silva nicht länger auf die bedingungslose Unterstützung der sozialen Bewegungen zählen. Vor allem die äußerste Linke stellt sich offen gegen seine Regierung. Die Bewegung der Landlosen (MST) nimmt nach den Worten ihres Vorsitzenden João Pedro Stédile mittlerweile eine Haltung des „kritischen Dialogs“ gegenüber da Silva ein. Und auch der brasilianische Dachverband der Gewerkschaften (CUT) kritisiert die Wirtschaftspolitik des Präsidenten vehement. Damit gehen zwei Organisationen auf Distanz zur regierenden Arbeiterpartei (PT), die zu deren Erfolg entscheidend beigetragen hat.
Schon als da Silva zu Beginn seiner Amtszeit 2003 nicht nur beim Weltsozialforum, sondern auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos auftrat, waren viele Vertreter der sozialen Bewegungen irritiert. Die meisten hielten eine Vermittlung zwischen beiden Foren und den unterschiedlichen Welten, die sie repräsentieren, für völlig unmöglich. Andere billigten Lulas Vorgehen als gut gemeinten Versuch, bei jeder sich bietenden Gelegenheit sein wichtigstes Anliegen kundzutun: den Kampf gegen den Hunger.
Die Vorschläge des Sozialgipfels von Porto Alegre hatte Lula im Januar 2002 vor den enthusiastischen Teilnehmern denn auch als „absolut außergewöhnlichen Erfolg der weltweiten Zivilgesellschaft“ und als „größtes politisches Ereignis in der gesamten Geschichte der Menschheit“ gepriesen. Was aber die konkrete Umsetzung dieser sozialpolitischen Leitsätze betrifft, so hat die Regierung da Silva keinen einzigen von ihnen beherzigt. Sie wagte weder eine Regulierung des Finanzkapitals, noch setzte sie die Tilgung der brasilianischen Auslandschulden aus. Sie unternahm keine nennenswerten Schritte zum Schutz der Umwelt, und sie verzichtete auf jede Beschränkung der Gentechnik. Als eine Reihe internationaler Organisationen, vom Weltwährungsfonds bis hin zur Weltbank, auch noch die Wirtschaftspolitik der neuen brasilianischen Regierung lobte, war offenkundig geworden, dass Lulas politische Prioritäten näher bei der Schweizer Wintersportkapitale liegen als bei der Hauptstadt der Linken.
Die Entfremdung zwischen der aus der Arbeiterpartei hervorgegangenen Regierungsmannschaft und den sozialen Bewegungen resultierte nicht aus einem plötzlichen Bruch, sondern aus einer längeren Entwicklung. Dass die PT an die Regierung gelangte, hat nur eine Tendenz verstärkt, die sich schon seit mehreren Jahren abzeichnet.
Obwohl Lula da Silvas Partei unmittelbar aus den sozialen Bewegungen und aus den großen Metallarbeiterstreiks von São Paulo in den 1980er-Jahren hervorgegangen ist, war sie nie so organisch mit der Arbeiterbewegung verbunden wie etwa die britische Labour Party und die Gewerkschaften ihres Landes. Selbstverständlich gab und gibt es intensive Querverbindungen zum Gewerkschaftsbund CUT, und auch für die Landlosenbewegung MST war die Partei lange Zeit der bevorzugte politische Partner. Doch als die Führung der PT zuerst auf kommunaler und später auch auf staatlicher Ebene Verantwortung übernahm, ging sie Allianzen mit anderen Parteien ein. Sie wurde selbst Teil der Institutionen und begann ihr politisches Handeln danach auszurichten.
Entscheidend für diese Weichenstellung war die Situation von 1994, als da Silva bei den Präsidentenwahlen als Favorit gehandelt wurde, dann aber gegen Fernando Cardoso und dessen wirtschaftsliberales Programm zur Stabilisierung der Währung verlor. Von da an begann die PT, auf der Suche nach mehrheitsfähigen Positionen ihre Grundsätze zu modifizieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Behandlung der brasilianischen Auslandsschulden: Vor 1994 hatte die Arbeiterpartei noch darauf bestanden, dass die Schuldentilgung zunächst ausgesetzt und dann neu verhandelt werden müsse. Letztlich aber, im Präsidentschaftswahlkampf 2002, akzeptierte sie die finanziellen Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Kreditgebern in voller Höhe. Und seit die Partei in Brasilia an der Macht ist, hält sie diese Zahlungsverpflichtungen auch peinlich genau ein.
Während die Beziehungen zum Gewerkschaftsbund CUT zwar turbulent, aber nach wie vor eng sind, distanzierte sich die Partei mit der Zeit von der Landlosenbewegung. Auf die Landbesetzungen und die nachdrücklichen Forderungen nachfinanzieller Unterstützung für diese so genannten assentamentos reagierte sie mit spürbarem Unbehagen. Vor allem die Parteispitze behandelte die MST wie ein missratenes Familienmitglied, mit dem verwandt zu sein man zwar nicht leugnet, dem man aber zeigt, dass man sein Verhalten zutiefst missbilligt. Immer mehr wandte sich die PT dem etablierten System und den brasilianischen Eliten zu, als sei ihr eigener Wandel zu einer in das System integrierten Institution ganz zwangsläufig und die Ablehnung des illegalen Vorgehens und der Forderungen der Landlosen eine logische Konsequenz.
Dennoch konnte sich da Silva bei seinem Präsidentschaftswahlkampf auf die Unterstützung der sozialen Bewegungen verlassen – nicht zuletzt weil er verkündete, dass „uns ein Sieg nur dann etwas bringt, wenn wir vom ersten Tag an mit der Politik von Pedro Malan (dem Finanzminister der Regierung Cardoso) brechen“. Zugleich unterzeichnete da Silva mit seinem „Brief an die Brasilianer“ aber auch ein Dokument des Kompromisses. Darin versprach er, sämtliche finanziellen Verpflichtungen des Staates einzuhalten – was er tat, um die zunehmende Kapitalflucht vor den Wahlen zu bremsen. Für die Investoren reduzierte sich das „Risiko Brasilien“ bei dem zu erwartenden Wahlausgang damit vornehmlich auf das „Risiko Lula“ .
Wie aber regiert man, wenn man sich erst einmal solche Fesseln angelegt hat? Schon mit seinen Personalentscheidungen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik stieß Lula viele seiner Wähler vor den Kopf. In seiner Mannschaft ist kaum ein Wirtschaftsexperte der Arbeiterpartei oder anderer Linksparteien vertreten. Es sind im Wesentlichen dieselben Leute, die schon unter früheren Regierungen am Werk waren. Wirtschaftsminister wurde Antonio Palocci, zuvor Bürgermeister der äußerst wohlhabenden Stadt Ribeirão Preto im Staat São Paulo und Lulas Wahlkampfleiter. Der Vorsitz der Zentralbank ging an Henrique Meirelles, den ehemaligen Generaldirektor der Bank of Boston und Parteigänger Cardosos. Dazu passte, dass die PT nach ihrem Wahlsieg ankündigte, die Wirtschaftspolitik der alten Regierung fortzusetzen.
Dennoch setzte die Regierung durchaus widersprüchliche Zeichen. Zunächst erklärte man diese Kontinuität als eine Folge des „verfluchten Erbes“ von Cardoso. Palocci erklärte, dass man „während einer Krankheit nicht den Arzt wechselt“, und der Präsident selbst weigerte sich, den wahren Zustand der Staatsfinanzen zu offenbaren, um die Brasilianer nicht noch mehr zu verunsichern. Es galt allseits als ausgemacht, dass die Fortsetzung der Austeritätspolitik eine Übergangslösung war und dazu diente, das „Vertrauen der Märkte“ zu gewinnen. Danach sollten die Steuern, die man gleich nach dem ersten Zusammentreffen der Zentralbankkommission erhöhte, wieder gesenkt werden, um die Konjunktur anzukurbeln.
Doch allmählich änderte sich der Ton. Wirtschaftsminister Palocci meldete einen Handelsbilanzüberschuss, der sogar die Bedingungen des Weltwährungsfonds übertraf. Dennoch erklärte er, seinen Kurs noch zehn Jahre durchzuhalten. Er traf sich demonstrativ mit dem früheren Präsidenten Cardoso und machte keinen Hehl daraus, dass er dessen Politik bruchlos fortzusetzen gedachte.
Dass diese Haltung auch innerhalb der Regierung Konsens war und ist, zeigte sich am Beispiel der Rentenreform. Sie wurde genau nach dem Schema der Weltbank in Angriff genommen: Rentner müssen ihre Einkünfte nun versteuern, und das Rentenniveau im öffentlichen Dienst wird drastisch gesenkt. So öffnete man einen Markt für die privaten Pensionsfonds und gab damit ein Filetstück des Finanzierungssystems aus der Hand.
Die Demonstrationen gegen diese Reform waren die größten seit Antritt der Regierung da Silva. Die Gewerkschaften der öffentlichen Dienste schlossen sich zusammen und wurden von MST, CUT und der Studentenbewegung, von Parlamentsabgeordneten der PT und von anderen Parteien der Linken unterstützt. Drei Abgeordnete und eine Senatorin wurden wegen ihrer Teilnahme an den Protesten von der Arbeiterpartei ausgeschlossen. Die Parteispitze machte unmissverständlich klar, dass sie Widerstand gegen ihren neuen Kurs nicht hinnehmen würde – obwohl dieser Kurs weder im brasilianischen Kongress noch auf dem Parteitag der PT beschlossen worden war.
Spätestens damit wurde offenkundig, dass die neue Regierung Brasiliens ebenfalls auf marktwirtschaftliche Lösungen zu Lasten des öffentlichen Sektors setzte. Indem Lula die Rentenreform zum „wichtigsten Vorhaben im ersten Jahr dieser Regierung“ erklärte, demonstrierte er, dass er bereit und in der Lage ist, gegen die Interessen der Gewerkschaften zu handeln.
Die Fortführung der wirtschaftsliberalen Politik wird von sozialen Kompensionsmaßnahmen begleitet. Sie bleiben lokal und auf Notfälle begrenzt – ganz im Rahmen der Weltbankdirektiven. Selbst das berühmte Programm „Null Hunger“ ist nicht etwa eine Politik, die grundlegende Menschenrechte umsetzen will, sondern konzentriert sich auf einzelne Brennpunkte „extremer Armut“ und nachweislich besonders bedürftige Familien.
Der so genannte dritte Weg der Regierung da Silva besteht also aus zwei Komponenten: Einerseits setzt sie die Stabilisierung der Währung als oberstes Ziel, andererseits verfolgt sie eine kompensatorische Sozialpolitik bei gleichzeitiger Aushöhlung der wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften. Ziel ist, ein attraktives Klima für ausländische Investoren zu schaffen.
Auch in der Landwirtschaft könnten die inhaltlichen Gegensätze zwischen dem linken Flügel der Arbeiterpartei und den Ministerien für Wirtschaft und Landwirtschaft kaum schärfer sein. Der Agrarminister ist ein Verbündeter des Monsanto-Konzerns und fordert vehement die Einführung von gentechnisch manipuliertem Saatgut auf den Sojaplantagen im Süden Brasiliens. Und das Wirtschaftsministerium – selbst einer der größten Geflügelexporteure des Landes – steht für eine Agrarindustrie, die sich in erster Linie an den Weltmärkten orientiert. Am anderen Ende des Spektrums kämpft die Landlosenbewegung MST für ein Entwicklungsmodell nach den Vorstellungen der Bauernbewegung Via Campesina und des Weltsozialforums, das sich auf kleine und mittlere Betriebe und auf die Versorgung des heimischen Marktes konzentriert.
Beim Thema Mindestlohn offenbarte sich abermals, wie sehr sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung von den Interessen der Arbeitnehmer entfernt hat. Nach den Wahlen sollten die Mindestlöhne angehoben werden, doch das Ausmaß der Erhöhung bestimmte die Zentralbank. Gegen den Widerstand aller Gewerkschaften fiel diese Erhöhung verschwindend gering aus. Lula biss bei seinem Wirtschaftsteam auf Granit. Doch obwohl die Entscheidung über den Mindestlohn große symbolische Bedeutung hatte – verhindert hat er sie nicht.
Da das Lohnniveau und damit die Kaufkraft der Arbeitnehmer kaum gestiegen sind, beruht das Wirtschaftswachstum des Jahres 2004 hauptsächlich auf Exporten und auf dem Konsum der Oberschicht. Nach zwei Jahren der Stagnation bedeutet ein voraussichtliches Wachstum von 3,5 bis 4 Prozent nur eine bescheidene Konjunkturbelebung, die weder den Arbeitsmarkt beleben noch die Kaufkraft der Lohnabhängigen maßgeblich stärken wird. Die Regierung kann jedenfalls auf die Zustimmung der großen Unternehmen, des Finanzkapitals und auch der wichtigsten Medien des Landes zählen. Sie kann sich außerdem immer noch auf die unorganisierten Wähler der unteren Schichten verlassen. Für sie ist Lula „einer von uns“, der den Aufstieg geschafft hat.
Dennoch haben die Gemeindewahlen vom Oktober und November 2004 der Arbeiterpartei zum ersten Mal, seit sie überhaupt an Wahlen teilnimmt, auch Verluste beschert.1 Während immer mehr Brasilianer zur Wahl gehen, sieht sich die PT aus den Zentren wie São Paulo oder aus der symbolisch wichtigen Stadt Porto Alegre verdrängt. Zulegen konnte die PT eher im politisch weniger bedeutenden Landesinneren, wo der politische Organisationsgrad bezeichnenderweise geringer ist als in den küstennahen Regionen.2
Die Enttäuschung über den Kurs der Regierung da Silva äußerte sich in der entscheidenden Schwäche, die den Wahlkampf kennzeichnete: Es fehlten die begeisterten Parteianhänger auf den Straßen – so als habe die Partei ihre Seele verloren und versuche nun, den Verlust durch Professionalisierung wettzumachen: Marketingspezialisten und vor allem Fernsehspots statt Präsenz auf den Straßen. Und bezahlte Wahlhelfer, die so genannten cabos eleitorais, an Stelle der engagierten Freiwilligen. Während früher die Kandidaten der Arbeiterpartei und ihre Anhänger in den letzten Tagen des Wahlkampfs noch einmal einen Endspurt hinlegten, verloren sie nun kurz vor dem Wahltag an Terrain.
Als Konsequenz aus dem Wahlergebnis und mit Blick auf die Präsidentenwahlen 2006 hat die Regierung da Silva neue Bündnisse mit der Zentrumspartei PMDB und der rechten Volkspartei (PP) geschlossen. Die Strategie ging jedoch nicht auf, da die PMDP, der wichtigste Verbündete, die Regierungskoalition verlassen und seine Mitglieder aufgefordert hat, den eigenen Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen. Kurz zuvor hatte bereits die Sozialistische Volkspartei, die postkommunistische PPS, die Brücken abgebrochen. Die Minister beider Parteien bleiben jedoch im Amt. Das Interessante dabei ist, dass beide einstigen Partner da Silva eine zu konservative Wirtschaftspolitik vorwerfen.
Die sozialen Bewegungen haben einen neuen Anlauf zur Mobilisierung ihrer Mitglieder gestartet und nach einem zeitweiligen Stillhalteabkommen mit der Regierung erneute Landbesetzungen organisiert. Studierende und Professoren protestieren gegen eine Reform der Universitäten, die sie als einen Schritt in Richtung Privatisierung sehen. Und auch die Reform des Arbeitsrechts, die zu einer Schwächung der Gewerkschaften und zu mehr Unsicherheit in den Arbeitsverhältnissen führen wird, stößt mittlerweile auf breiten Protest.
deutsch von Herwig Engelmann
* Professor an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro.