Räuber und Sammler
Von PHILIPPE BAQUÉ *
ALS die US-Truppen am 9. April 2003 Bagdad eingenommen hatten, kam es zu Feuersbrünsten und Plünderungen. Am 10. April wurde das Archäologische Museum von Bagdad, Schatzkammer der 4 000 Jahre alten irakischen Kultur, ausgeraubt. Kurz darauf brannten die Nationalbibliothek und das Nationalarchiv nieder. Von den 170 000 vor dem Krieg katalogisierten Objekten wurden angeblich 14 000 gestohlen und nur 4 000 wiedergefunden oder zurückgegeben.1 Am 16. April bezeichnete der französische Präsident Chirac die Plünderungen von Bagdad und Mossul als „Verbrechen gegen die Menschheit“. Offensichtlich war ihm entfallen, dass er selbst in zwei – allerdings weniger spektakuläre – Fälle von Kunstraub verwickelt war.
Ende 1996 hatte Chirac von seinen engsten Mitarbeitern eine Terrakottafigur aus Mali geschenkt bekommen. Als Paris Match2 Fotos davon publizierte, konnten Mitarbeiter des Unesco-nahen Internationalen Museumsrates Icom (International Council of Museums) die kleine Statue identifizieren: Sie war einige Jahre zuvor mit anderen Fundstücken auf einer illegalen Grabungsstätte von der Polizei beschlagnahmt und auf dem Transport ins Museum von Bamako abhanden gekommen. Ein peinlicher Fall, denn Frankreich wollte gerade die Unesco-Konvention ratifizieren, die den Schmuggel mit geraubten Kulturgütern eindämmen sollte. Nach diskreten Verhandlungen mit dem Icom willigte Chirac Anfang 1998 in die Rückführung nach Bamako ein.
Der zweite Fall kam im April 2000 ans Licht. Anlässlich der Einweihung der Räume für „primitive Kunst“ im Louvre enthüllte die Libération,3 dass drei Ausstellungstücke, Terrakotten der Nok- und der Sokoto-Kultur, aus illegalen Grabungen in Nigeria stammten. Das Museum hatte sie für rund 450 000 Euro von belgischen Kunsthändlern erworben.
Museumsdirektor Stéphane Martin rechtfertigte sich: „Diese Statuen befanden sich auf dem belgischen Markt unter Bedingungen, die nicht gegen geltende französische Bestimmungen verstoßen. Wir haben uns zum Ankauf entschlossen, weil dem Publikum im Louvre gezeigt werden sollte, dass die Afrikaner zu Perikles’ Zeiten ebenfalls Meisterwerke hervorbrachten.“ Doch nach dem Ethikkodex des Internationalen Museumsrates dürfen dessen Mitglieder – 15 000 Konservatoren und Museumsmitarbeiter – „keine Stücke akzeptieren, bei denen berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass ihre Entdeckung mit der ungenehmigten, unwissenschaftlichen oder absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung historischer Denkmäler einherging“. Dass Chirac den nigerianischen Präsidenten drängte, den Ankauf mit einem offiziellen Dokument zu decken, ließ die kritischen Stimmen in beiden Ländern nur lauter werden. Am Ende gab das Museum die Statuen an den nigerianischen Staat zurück, der sie dem Museum als Leihgabe zur Verfügung stellte.
Der Handel mit geraubten Kulturgütern macht einen Umsatz von schätzungsweise 2 bis 4,5 Milliarden Euro und ist damit die drittgrößte kriminelle Branche nach dem Waffen- und Drogenschmuggel. Dieser illegale Handel dirigiert die Reichtümer des Südens in die Galerien und Sammlungen des Nordens. Besonders gute Lieferanten sind Länder im Kriegszustand. Das Museum von Kabul wurde mehrfach geplündert, das Institut der Nationalmuseen Zaires beim Sturz Mobutus leer geräumt.
Kambodscha traf es besonders schlimm. Während des Krieges verscherbelten Soldaten beider Seiten viele Kulturschätze, um Waffen zu kaufen. Die Basreliefs der Tempel- und Palastanlagen von Angkor wurden dabei in übelster Weise verstümmelt. Obwohl Angkor seit 1992 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, wüten die Kunsträuber weiter. In Afrika können die lokalen Händlerringe immer wieder Völker ausrauben, die sich auf der Flucht befinden oder bereits entwurzelt sind.
In Friedenszeiten werden illegale Geschäfte und Museumsdiebstähle durch fehlende Schutzmaßnahmen, Korruption und Armut erleichtert. Durch heimliche Grabungen wurden vor allem die Fundstätten von Bura im Niger schwer in Mitleidenschaft gezogen. Anfang der 1990er-Jahre stellten holländische Wissenschaftler fest, dass in Mali 45 Prozent der erfassten 834 Fundstätten geplündert waren. Damals gelangten massenweise Terrakottafiguren aus der Nok-, der Sokoto- und der Katsina-Kultur auf den Ethnokunstmarkt; sie stammten aus illegalen Grabungen, von denen die örtlichen Behörden im Norden Nigerias Kenntnis hatten. Roderick J. McIntosh, Archäologe auf der Ausgrabungsstätte von Djenne-Djeno in Mali, erklärt den wissenschaftlichen Verlust: „Ein Kunstobjekt, das ohne Vermessung der zugehörigen archäologischen Schicht ausgegraben wurde, ist chronologisch verwaist. Wird es überdies ohne Bezeichnung des Fundortes ausgestellt, nimmt man ihm den ökonomischen, gesellschaftlichen, ideologischen und historischen Kontext, ohne den sich alte Kunst nicht mehr erklären lässt.“4 Artefakte der untergegangenen Komaland-Kultur aus einer geplünderten Grabungsstätte in Ghana werden heute mit dem Hinweis ausgestellt: „Ein Volk, über das man nichts weiß.“5
In Peru wurden 100 000 Grabstätten geplündert, das entspricht der Hälfte aller bekannten Fundorte im Land. Aus Kirchen im türkisch besetzten Teil Zyperns sind 16 000 Ikonen und Mosaiken verschwunden. In China wurden 15 000 Hongshan-Gräber verwüstet. Zwischen 2001 und 2003 wurden iranische Fundstätten massiv geplündert. Tausende von Chloritvasen, Zeugnisse einer 5 000 Jahre alten Hochkultur, überschwemmten den Kunstmarkt in Europa, Amerika und Asien. Erst als die iranische Polizei eingriff, konnten wissenschaftliche Grabungen beginnen.6
Die Kunstobjekte werden stets von einheimischen Plünderern an Antiquitätenhändler des Landes verkauft, die für deren Export sorgen. Kunsthändler und Sammler reichen die Objekte von Land zu Land weiter, zeigen sie auf Ausstellungen und verschaffen ihnen so eine Art Stammbaum, bevor Icom und Unesco reagieren können. Dabei steigen die Preise um das Zehn-, Hundert- oder gar Tausendfache.
Im Irak wurden seit 1991 mehr als 4 000 archäologische Fundstücke aus den Museen gestohlen. Nach der Zerstörung zahlreicher Basreliefs aus dem Sennacherib-Palast im Jahre 2001 sprach John Russell, Archäologe am Bostoner Massachusetts College of Art, von der „endgültigen Zerstörung Ninives“.7 Noch schlimmer kam es dann 2003. Der irakische Archäologe Donny Georges ahnte schon im Voraus: „Im Fall eines US-Angriffs werden die Plünderungen weit schlimmer sein als 1991. Die Plünderer hatten ja Zeit, ihren Schmuggel zu organisieren und sich einen internationalen Kundenkreis zu erschließen. Sie sind mächtig und bewaffnet.“8
Im Juli 2003 konstatierte die Archäologin und Journalistin Joanne Farchakh: „Jokha, das prunkvolle altsumerische Umma, das erst vor vier Jahren freigelegt wurde, gleicht einem Schlachtfeld.“9 Nach Aussagen des US-amerikanischen Archäologen McGuire Gibson gehen im Südirak die Plünderungen weiter. Im Norden werden die Grabungsorte inzwischen von US-Soldaten geschützt, doch für die Basreliefs von Hatra und Nimrud war es schon zu spät, und die Reliefs von Ninive sind unwiederbringlich zerstört.
Zum Glück verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 22. Mai eine Resolution, die alle Staaten verpflichtet, die im Irak seit 1990 gestohlenen Objekte zurückzugeben und den Handel mit ihnen zu verbieten. Davor hatte sich die internationale Gemeinschaft nie auf Maßnahmen gegen den Raub von Kulturgütern einigen können.
Die Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs führten 1954 zur Verabschiedung der Haager Unesco-Konvention zum Schutz von Kulturgut in bewaffneten Konflikten. Ein Zusatzprotokoll verbietet die Ausfuhr von Kulturgütern aus besetzten Territorien und verlangt ihre Rückgabe. Bis heute haben 105 Staaten diese Vereinbarungen ratifiziert, nicht aber Großbritannien und die USA.10
1970 legte die Unesco eine weitere Konvention für Friedenszeiten vor. Sie enthält „Vorschläge für Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut“. Der Text legt den Unterzeichnerstaaten nahe, ihre Sammlungen zu dokumentieren und durch Gesetze zu schützen. Guido Carducci, Leiter der Abteilung für das kulturelle Erbe bei der Unesco, hält diese Konvention für „bahnbrechend, weil sie bestimmte Grundprinzipien eingeführt hat, wie etwa das obligatorische Exportzertifikat für Kulturgüter und die Möglichkeit der Rückforderung“.
Schon 1995 musste allerdings der damalige Leiter derselben Unesco-Abteilung, Lyndel V. Prott, feststellen: „Die Kunsthändler-Vereinigungen bilden extrem mächtige Interessengruppen, denen es oft gelungen ist, Initiativen zu einer strengeren Kontrolle ihrer Aktivitäten abzublocken.“ Die ersten Staaten, die die Konvention ratifizierten, waren vornehmlich „Exportländer“ des Südens und geschädigte Länder des Nordens wie Italien, Griechenland und Spanien. Die USA ratifizierten 1983 unter Vorbehalt und schlossen nur einzelne bilaterale Abkommen.
Die Unesco ließ daraufhin das Internationale Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts (Unidroit) einen neuen, juristisch wirksameren Text erarbeiten. Diese 1995 beschlossene Konvention „über gestohlene oder rechtswidrig ausgeführte Kulturgüter“ erlaubt es einem Land, gegen den Käufer eines ihm gehörenden Kulturgutes direkt vor den Gerichten des Staates vorzugehen, in dem sich dieser aufhält. Die Unidroit-Konvention erweitert den Begriff des Kulturguts und erstreckt sich auf alle unerlaubt exportierten Güter, die für den einfordernden Staat „von wesentlicher kultureller Bedeutung“ sind. Der Besitzer eines solchen Gutes muss es zurückgeben. Eine Entschädigung erhält er nur, wenn er nachweislich versucht hat, sich Gewissheit zu verschaffen, dass das Gut weder gestohlen noch unerlaubt exportiert wurde. Die Verjährungsfrist wurde auf 50 Jahre angehoben, doch gilt die Konvention nicht rückwirkend.
Unidroit brach also mit den Prinzipien diverser europäischer Länder, vor allem mit der den Käufer begünstigenden Redlichkeitsvermutung und der sehr kurzen Verjährungsfrist. Für Jean-Yves Marin, Präsident des International Committee for Museums and Collections of Archaeology and History, ist die Konvention ein „mächtiger Hebel, der Schlussstein der Bemühungen um den Schutz des kulturellen Erbes“11 . Vom Kunsthandel wird sie allerdings erbittert bekämpft.
So sieht Jean-Paul Chazal, französischer Sammler und Anwalt des Syndicat national des antiquaires, in einigen Bestimmungen einen Verstoß gegen die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789. Er kritisiert den Begriff „wesentliche kulturelle Bedeutung“ als zu weit gefasst und zu schwammig: „Sie erzeugt in Verbindung mit der 50-jährigen Verjährungsfrist eine totale Verunsicherung des Marktes. Unidroit will das Gegenteil eines freien Austauschs, es will, dass ein Staat sein gesamtes Kulturerbe einfrieren kann.“
Auch für Alexander Jolles, Anwalt der Schweizerischen Sammlervereinigung, ist die Unidroit-Konvention12 „unvereinbar mit einem universellen Kulturbegriff“. Unter den Pariser Kunsthändlern ist die Meinung einhellig. Für Bernard Dulon ist „Unidroit eine Ausweitung des Neokolonialismus“. Réginald Groux meint, man solle „nicht unsere Denkweise Ländern aufzwingen, in denen es anders zugeht als bei uns“. Und Johann Levy erklärt: „Die Konventionen stammen von westlichen Idealisten. Aber wenn der Idealismus nicht pragmatisch ist, wird er zum Faschismus.“
Der Arbeitskreis deutscher Kunsthandelsverbände ADK ist der Ansicht, dass „die deutsche Rechtsordnung hinreichend Mittel zum Schutz kultureller Güter bietet. Darüber hinausgehende Verordnungen hätten lediglich eine Lähmung des seriösen Kunsthandels zur Folge.“13
Bis heute haben nur elf Staaten – unter ihnen kein großes „Importland“ – die Unidroit-Konvention ratifiziert, zwölf weitere sind erst beigetreten. Im französischen Parlament wurden die Beratungen über ein Gesetz, das die Ratifizierung der Unidroit-Konvention ermöglicht, auf unbestimmte Zeit vertagt. Einen anderen Grund zur Sorge sind die Sammler los: Kunstobjekte bleiben bei der Vermögensteuer weiterhin unberücksichtigt. Bei den Rekordpreisen, die im Verkauf erzielt werden, kann der Markt für Ethnokunst also weiter expandieren.
deutsch von Josef Winiger
* Journalist, Autor von „Un nouvel or noir. Pillage des oeuvres d‘art en Afrique“. Paris-Méditerrannée, 1999.