Auflagenkrise und Lügengeschichten
In aller Welt schrumpfen die Auflagen der Printmedien. Das liegt einesteils an der neuen digitalen Konkurrenz, aber auch daran, dass viele Zeitungen nicht mehr auf seriösen Journalismus setzen.
Von IGNACIO RAMONET
NICHTS veranschaulicht die Ratlosigkeit der französischen Presse angesichts des alarmierenden Auflagenrückgangs besser als die jüngste Entscheidung der ehemals maoistischen Tageszeitung Libération, für die Übernahme des Unternehmenskapitals durch den Bankier Edouard de Rothschild zu votieren.
Kurz zuvor hatte der Waffenhersteller Serge Dassault bereits die Socpresse-Gruppe erworben, die rund 70 Titel verlegt, darunter Le Figaro, L’Express, L’Expansion und viele regionale Tageszeitungen. Ein anderer Rüstungsindustrieller, Arnaud Lagardère, besitzt die Hachette-Gruppe (den weltweit größten Zeitschriftenkonzern mit 245 Titeln in 36 Ländern), die in Frankreich 47 Zeitschriften publiziert, darunter Elle, Parents und Première und zahlreiche Tageszeitungen.
Sollte sich der allgemeine Auflagenrückgang fortsetzen, läuft die unabhängige Presse Gefahr, von einigen wenigen Industriellen beherrscht zu werden (Bouygues, Dassault, Lagardère, Pinault, Arnault, Bolloré und Bertelsmann). Auch die größte unabhängige Zeitungsverlagsgruppe, La Vie-Le Monde, macht in jüngster Zeit eine schwere Krise durch, die den Rücktritt des Le-Monde-Chefredakteurs Edwy Plenel zur Folge hatte. Verlagschef Jean-Marie Colombani verkündete noch vor Jahresfrist angesichts der enormen Defizite seines Hauses, künftig müsse man auf „exakte Recherchen“ setzen statt auf die Inszenierung ungeprüfter Informationen.
Inzwischen trifft der allgemeine Auflagenrückgang auch führende Publikationen, und erstmals seit 15 Jahren bleibt davon auch Le Monde diplomatique nicht verschont. Während unsere Auflage seit 1990 stetig zulegte und von 2001 auf 2003 ein Rekordplus von insgesamt über 25 Prozent verzeichnete, müssen wir für 2004 mit einem Auflagenminus von etwa 12 Prozent rechnen. Dagegen hat sich die Zahl der Artikel, die über unsere kostenlose Website www.monde-diplomatique.fr abgefragt werden, mehr als verdoppelt. Auch die meisten großen Tageszeitungen müssen wie schon 2003 einen drastischen Auflagenrückgang hinnehmen: Le Figaro 4,4 Prozent, Libération 6,2 Prozent, Les Echos 6,4 Prozent, Le Monde 7,5 Prozent, La Tribune 12,3 Prozent.
Das Phänomen ist dabei keineswegs auf Frankreich beschränkt. Die International Herald Tribune zum Beispiel verzeichnete 2003 einen Rückgang um 4,16 Prozent, die Financial Times in Großbritannien ein Minus von 6,6 Prozent. In Deutschland sank die Gesamtauflage in den letzten 5 Jahren um 7,7 Prozent, in Dänemark um 9,5, in Österreich um 9,9, in Belgien um 6,9 Prozent und in Japan (das traditionell den größten Zeitungskonsum der Welt hat) um 2,2 Prozent. EU-weit ging der Absatz von Tageszeitungen in den letzten Jahren um täglich eine Million Exemplare zurück, weltweit um durchschnittlich 2 Prozent. Angesichts dessen fragen sich manche Beobachter, ob die Printmedien noch eine Zukunft haben, ob das klassische Medium des Industriezeitalters nicht zum Sterben verdammt ist.
Schon verschwinden einzelne Titel vom Markt. In Ungarn stellte die Schweizer Ringier-Gruppe am 5. November 2004 die Tageszeitung Magyar Hirlap ein, mittlerweile hat die Redaktion die Rechte am Titel erworben. Am 4. November stellte die US-amerikanische Dow-Jones-Gruppe das in Hongkong erscheinende Wirtschaftsmagazin Far Eastern Economic Review ein. In Frankreich gab im Dezember 2004 die Monatszeitschrift Nova Magazine auf. Die Rezession trifft auch die Presseagenturen. Marktführer Reuters hat gerade die Entlassung von 4 500 Beschäftigten angekündigt.
Die externen Gründe der Krise sind bekannt. Da ist zum einen die verheerende Marktoffensive der kostenlosen Tageszeitungen: In Frankreich liegt 20 Minutes mit täglich 2 Millionen Lesern schon weit vor Le Parisien (1,7 Millionen), die ebenfalls kostenlose Métro wird täglich von 1,6 Millionen Menschen gelesen. Die „Kostenlosen“ ziehen riesige Werbesummen ab, denn den Werbenden ist es egal, ob der Leser den Werbeträger bezahlt oder nicht. Um sich gegen diese Konkurrenz zu wehren – die inzwischen auch die Wochenzeitungen bedrängt –, bieten manche Tageszeitungen (etwa in Italien, Spanien und Griechenland) gegen einen geringen Aufpreis eine DVD, eine CD, oder Kupons für eine Enzyklopädie. Damit verwässern sie ihre Identität, entwerten den Titel und bringen eine Entwicklung in Gang, deren Ausgang nicht abzuschätzen ist.
Ein zweiter externer Grund ist natürlich der fantastische Siegeszug des Internets. Weltweit gibt es derzeit rund 70 Millionen Websites, über 700 Millionen Menschen surfen im Internet. In den entwickelten Ländern geben immer mehr Menschen die Zeitungslektüre, ja sogar das Fernsehen auf und setzen sich vor den Computerbildschirm. Vor allem ADSL (Asymmetrical Digital Subscriber Line) verändert die Surfgewohnheiten. In Frankreich besitzen bereits 5,5 Millionen Surfer einen Hochgeschwindigkeitszugang zu Onlinezeitungen, weltweit haben 79 Prozent aller Tageszeitungen eine Onlineausgabe.
Hinzu kommt das Phänomen der Blogs, deren Zahl im zweiten Halbjahr 2004 regelrecht explodiert ist. Die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen vermischen bedenkenlos Information und Meinung, überprüfte Tatsachen und Gerüchte, dokumentierte Analysen und fantasievolle Impressionen. Der Hype zeigt, dass viele Leser lieber die bewusst subjektiven und einseitigen Darstellungen der Blogger lesen als die angeblich objektiven Elaborate der großen Tageszeitungen. Der Internetzugang via Allround-Handy wird diese Tendenz weiter verstärken. Das Resultat: Alle Informationsmedien außer dem Internet verlieren Kunden.1
Die Auflagenkrise hat aber auch interne, also hausgemachte Gründe, allen voran den Glaubwürdigkeitsverlust der Printmedien. Der geht zum einen auf die eingangs geschilderte Entwicklung zurück, dass immer mehr Tageszeitungen unter die Kontrolle von Unternehmensgruppen geraten, die wirtschaftliche Macht ausüben und sich mit der Staatsgewalt abstimmen. Ein weiterer Grund ist die stetige Zunahme von einseitiger Berichterstattung und mangelnder Objektivität, von Lügen und Manipulationen aller Art oder auch nur von hohlem Geschwätz. Ein goldenes journalistisches Zeitalter hat es zwar nie gegeben, aber in jüngster Zeit machen sich solche Fehlentwicklungen auch bei Qualitätsblättern bemerkbar. Die Jayson-Blair-Affäre in den USA, bei der es um erfundene Geschichten und Plagiate von Internetartikeln ging, hat dem Ruf der New York Times, die Blairs Lügengeschichten zum Teil auf der Titelseite veröffentlichte, erheblich geschadet. Die renommierte Zeitung geriet in eine schwere Krise: Chefredakteur Howell Raines und der geschäftsführende Redakteur Gerald Boyd mussten ihren Hut nehmen, dazu wurde der neue Posten eines Mediators geschaffen.
Noch höhere Wellen schlug einige Monate später ein Skandal bei der auflagenstärksten US-Tageszeitung USA Today. Deren entsetzte Leser mussten erfahren, dass ihr berühmtester Reporter, Jack Kelley, der seit 20 Jahren kreuz und quer über den Globus reiste, 36 Staatschefs interviewt und über zahlreiche Kriege berichtet hatte, ein zwanghafter Fälscher und „Serienlügner“ ist. Zwischen 1993 und 2003 hatte Kelly hunderte von Sensationsstorys in die Welt gesetzt. Wie zufällig war er stets zur rechten Zeit am rechten Ort. In einer seiner Reportagen gab er sich als Zeuge eines Anschlags auf eine Pizzeria in Jerusalem aus und schilderte, wie drei Männer am Nebentisch durch die Explosion in die Luft gewirbelt wurden und ihre Köpfe auf die Straße rollten.
Seine größte Lügengeschichte tischte er am 10. März 2000 über Kuba auf. Kelley hatte eine Hotelangestellte namens „Jacqueline“ fotografiert und erzählte nun in allen Einzelheiten, wie sie in einem leichten Boot aus Kuba floh und in der Floridastraße auf tragische Weise ertrank. In Wirklichkeit ist die Frau, die Yamilet Fernández heißt, am Leben und hat nie ein vergleichbares Abenteuer erlebt. Blake Morrison, auch er Journalist bei USA Today, hat sie getroffen und konnte nachweisen, dass Kelley die Geschichte frei erfunden hatte.2 Kelleys Lügenmärchen kosteten die Chefredakteurin Karen Jurgensen, ihren Stellvertreter Brian Gallagher und Nachrichtenchef Hal Ritter ihre Posten.3
Mitten im Präsidentschaftswahlkampf des letzten Jahres gab es einen weiteren Verstoß gegen den journalistischen Verhaltenskodex. Dan Rather, Nachrichtensprecher bei CBS und Moderator der renommierten Sendung „Sixty Minutes“, räumte ein, ungeprüft gefälschte Dokumente verbreitet zu haben, die belegen sollten, dass sich US-Präsident Bush nur durch Protektion dem Vietnamkrieg entziehen konnte.4
Ein weiteres publizistisches Desaster war das Versagen führender US-Medien, allen voran der Fernsehkette Fox News, vor und während des Irakkriegs.5 Sie glaubten unbesehen die vom Weißen Haus lancierten Lügen und verbreiteten sie in alle Welt. Keine Zeitung hat die damaligen Behauptungen der Bush-Administration überprüft oder auch nur in Zweifel gezogen. Andernfalls hätte Michael Moores Dokumentarstreifen „Fahrenheit 9/11“ schwerlich einen solchen Erfolg gehabt, denn was der Film an Informationen bietet, war seit langem zugänglich, wurde von den Medien jedoch totgeschwiegen.
Selbst Washington Post und New York Times ließen sich ins Räderwerk der Propagandamaschinerie einspannen. Der britische Medienexperte John Piler schreibt: „Lange vor der Irakinvasion heulten die beiden Tageszeitungen mit dem Wolf im Weißen Haus. Die New York Times titelte mit Schlagzeilen wie: ‚Geheimes Waffenarsenal: Jagd auf Kriegsbakterien‘, ‚Ein Deserteur beschreibt die Fortschritte der Atombombe im Irak‘, ‚Ein Iraker über die Sanierung chemischer und atomarer Waffenlager‘ … Alle diese Artikel erwiesen sich als reine Propaganda. In einer von der Washington Post veröffentlichten hausinternen E-Mail bekannte Judith Miller, Starjournalistin der New York Times, sie habe ihre Informationen hauptsächlich von Ahmed Tschalabi erhalten, einem wegen Unterschlagung rechtskräftig verurteilten Exiliraker, der den in Washington ansässigen und von der CIA finanzierten Irakischen Nationalkongress (INC) leitet. Ein Untersuchungsbericht des US-Kongresses kam später zu dem Schluss, fast alle Informationen Tschalabis und anderer INC-Exiliraker seien wertlos gewesen.“6
Ein CIA-Beamter namens Robert Baer beschrieb, wie die Fälschungsmaschinerie funktionierte: „Der Irakische Nationalkongress bezog seine Informationen von falschen Deserteuren und leitete sie ans Pentagon weiter. Anschließend gab er dieselben Informationen an Journalisten: ‚Wenn Sie uns nicht glauben, rufen Sie doch das Pentagon an.‘ So schloss sich der Kreis, und die New York Times konnte behaupten, dass sie ihre Infos über Massenvernichtungswaffen im Irak aus zwei verschiedenen Quellen habe. Dasselbe Spiel lief bei der Washington Post. Die Journalisten taten nichts, um mehr in Erfahrung zu bringen. Viele wurden zudem von ihren Chefredakteuren angewiesen, die Regierung zu unterstützen. Aus Patriotismus.“7
Der Chefredakteur der Washington Post, Steve Coll, musste am 25. August 2004 zurücktreten, nachdem sich erwiesen hatte, dass im Vorfeld der Irakinvasion nur wenige Artikel erschienen waren, die der Position der Bush-Administration zuwiderliefen.8 Auch die New York Times druckte ein „mea culpa“. In einem Leitartikel vom 26. Mai 2004 räumte die Zeitung ein, bei der Darstellung der Vorkriegsereignisse ihre journalistische Sorgfaltspflicht verletzt zu haben, und bedauerte die Veröffentlichung von „Fehlinformationen“.
Nicht weniger katastrophal ist die Medienberichterstattung mitunter in Frankreich. Das zeigte sich etwa bei den Affären um die Pädophilen von Outreau oder um Marie-L., die in einem Pariser Vorortzug angeblich Opfer eines antisemitischen Übergriffs geworden war. In Spanien suchten die von der Regierung Aznar kontrollierten Medien nach den Anschlägen vom 11. März 2004 mit Falschinformationen für sich Stimmung zu machen. Sie verschwiegen die Verantwortung von al-Qaida und schoben das Attentat der ETA in die Schuhe, um die Wahlaussichten der scheidenden Rechtsregierung zu verbessern.9
All diese Affären, aber auch die immer engere Verflechtung der Medien mit wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen, beschädigen die Glaubwürdigkeit der Medien und offenbaren ein beunruhigendes Demokratiedefizit. Der kritische Journalismus wird immer mehr von einem Verlautbarungsjournalismus verdrängt. Man fragt sich fast schon, ob die Idee der freien Presse in unserer Zeit der Globalisierung und der weltumspannenden Medienkonzerne nicht antiquiert ist.
Doch immer mehr Bürger werden sich dessen bewusst. Sie reagieren extrem sensibel auf Medienmanipulationen und scheinen daraus den Schluss zu ziehen, dass wir in unseren übermediatisierten Gesellschaften paradoxerweise im Zustand informationeller Unsicherheit leben. Informationen gibt es zuhauf, jedoch keinerlei Garantie für ihre Verlässlichkeit. Ob sie authentisch sind, ist keineswegs gewiss, nur zu oft folgt irgendein Dementi. Sensationsjournalismus und Spektakel triumphieren zu Lasten seriöser Informationen und Recherchen. Die Inszenierung (Verpackung) von Nachrichten ist wichtiger als die Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts.
Anstatt diese Fehlentwicklung zu stoppen, für die auch der Kult der Geschwindigkeit und der Echtzeitberichterstattung verantwortlich ist, huldigen viele Tageszeitungen einer faulen und polizeimäßigen Vorstellung von Investigationsjournalismus. Was man einst als „vierte Gewalt“ gewürdigt hat, wird damit vollends diskreditiert.
Angesichts dieser Entwicklung wird Le Monde diplomatique alles tun, um das Informationsangebot weiter zu verbessern. Wir glauben, dass es unsere wichtigste Aufgabe ist, das Vertrauen der Leser nicht zu enttäuschen. Wir werden unseren Grundsätzen und Vorstellungen von zuverlässiger Berichterstattung auch in Zukunft treu bleiben – durch eine mediale Entschleunigung, durch einen Aufklärungsjournalismus, der die Schattenseiten des Zeitgeschehens beleuchtet, durch Berichte über Ereignisse, die nicht im Scheinwerferlicht der Berichterstattung stehen, aber zu einem besseren Verständnis der internationalen Zusammenhänge beitragen, durch möglichst vollständige und gut dokumentierte Dossiers, durch systematische und seriöse Analysen, die der Sache auf den Grund gehen, durch Informationen, die oft totgeschwiegen werden. Mit anderen Worten: Wir sind entschlossen, gegen den Strom der herrschenden Medien zu schwimmen. Wir sind nach wie vor überzeugt, dass von der Qualität der Informationen die Qualität der öffentlichen Debatte abhängt, die letztendlich über den Reichtum der Demokratie entscheidet.
deutsch von Bodo Schulze