Westlich werden und östlich bleiben
DER Wahlsieg von Wiktor Juschtschenko vom 26. Dezember hat die „Revolution in Orange“ vorläufig zum Abschluss gebracht. Die verstärkte Westorientierung der Ukraine wird in Moskau mit Misstrauen verfolgt, weil sie zu einer nachhaltigen Schwächung Russlands beitragen könnte. Doch die Ukraine hat viele Gründe, sich nicht frontal gegen Moskau zu stellen, vor allem auch wegen der energiewirtschaftlichen Verflechtungen. In Kiew hofft man zudem, dass der demokratische Impuls auf Russland überspringen könnte.
Von JEAN-MARIE CHAUVIER *
Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, der zu den Architekten der „Eindämmung“ (containment) der Sowjetmacht gehört hatte, hat in seinem jüngsten Buch die entscheidende Rolle der Ukraine hervorgehoben: „Die Erweiterung des europäisch-atlantischen Raumes macht es erforderlich, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion neu entstandenen unabhängigen Staaten zu integrieren, besonders die Ukraine.“1 Wie wahr: Wir stehen derzeit vor dem vermutlich bedeutendsten geopolitischen Umbruch seit dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens.
Ein Land mit 48 Millionen Einwohnern, durch dessen Staatsgebiet zahlreiche wichtige Pipelines verlaufen, darunter die Gas-Pipeline, über die 90 Prozent der sibirischen Erdgaslieferungen nach Europa gelangen, schickt sich an, den Übergang ins westliche, europäisch-atlantische Lager zu vollziehen. De facto hat sich dieser Wandel bereits vollzogen, seit die gravierenden Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen vom 31. Oktober und 21. November 2004 eine „Revolution in Orange“ in der Hauptstadt Kiew, im Westen des Landes, ausgelöst haben.
Im neu angesetzten dritten Wahlgang hat der Kandidat der nationalliberalen Koalition, Wiktor Juschtschenko, einen klaren Sieg errungen. Er wird getragen durch die Volksbewegung, er hat Rückendeckung aus den USA und der Europäischen Union, und er genießt die fast uneingeschränkte Sympathie der internationalen Medien. Mitte Dezember erfasste die orange Welle sogar den Süden und Osten des Landes: Diese Industrieregionen, die vorwiegend russischsprachig und traditionell russlandfreundlich sind, gelten als Machtbasis von Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch, der sich zum Sieger des zweiten Wahlgangs ausgerufen hatte. Doch für den Kandidaten der alten Machthaber wollte kaum jemand auf die Straße gehen, zu sehr misstraut man den Machenschaften seines korrupten Regimes. Die Kommunisten unter Piotr Simonenko, eine kleine, aber einflussreiche Partei, sind nicht bereit, sich einem der beiden politischen Lager anzuschließen – viele Arbeiter sehen die Führer beider Richtungen als „Oligarchen, die sich bei den Privatisierungen schamlos bereichert haben“.
Dass die arme Bevölkerung im Süden und Osten für Janukowitsch votiert, liegt weniger an ihrer Regimetreue als an der Befürchtung, dass im Falle einer radikalen wirtschaftlichen Liberalisierung die Bergwerke und Fabriken stillgelegt werden. Zudem misstraut man dem westukrainischen Nationalismus. Viele haben sich bereits auf die politische Machtübernahme durch Juschtschenko eingerichtet. Der „euroatlantischen“ Ausrichtung des Landes stehen allerdings massive Hindernisse entgegen: zum einen der Einfluss Moskaus, der auf russischen Erdgaslieferungen und russischer Atomenergie, aber auch auf den unbezahlten Ölrechnungen der Ukraine basiert; zum anderen die Tatsache, dass die Regionen im Osten den größten Teil des Nationaleinkommens erwirtschaften. Auch dem Kandidaten des Westens ist klar, dass es keinen „hundertprozentigen Sieg“ geben kann.
Für Russland handelt es sich also, wie es in einer US-amerikanischen Studie heißt, „nicht um eine vollständige Niederlage“.2 Eine wichtige Rolle im Krisenmanagement spielt die Europäische Union. Sie ist vor allem daran interessiert, dass der blaue Strom der Erdgaslieferungen nicht in orangefarbenen Flammen aufgeht. Es muss also ein Kompromiss gefunden werden. Die Erhebung der „Orangisten“ kam zum rechten Zeitpunkt, denn die Ukraine – ein verelendetes, kulturell und sozial zerrüttetes und zusätzlich durch Emigration ausgeblutetes Land mit einem verbrecherischen Regime, das wie sein russisches Vorbild auf kriminellen Methoden des Erwerbs von Macht und Reichtum basierte –, bot den USA und der Nato eine günstige Gelegenheit, sich im großen eurasischen Spiel einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Die Zeit drängte, denn es war abzusehen, dass Russland versuchen würde, die wirtschaftliche Erholung zu nutzen und einen eigenen „gemeinsamen Markt“ zu installieren.
Die „Revolution in Orange“ war keine spontane Erhebung: 65 Millionen US- Dollar soll die Regierung Bush zur Unterstützung von Wiktor Juschtschenko lockergemacht haben.3 So gesehen hat diese „Revolution“ schon am 17. Februar 2002 begonnen, als die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright 280 ukrainische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei einer Veranstaltung der Soros Foundation in Kiew aufforderte, gegen die herrschende Regierung Front zu machen und eine genaue Überwachung der Parlamentswahlen am 31. März 2002 zu organisieren.4 Am 30. Januar 2004 erklärte Albright (als Präsidentin des National Democratic Institute of the USA) beim Wirtschaftsgipfel in Davos, die Ukraine gehöre (neben Kolumbien, Nigeria und Indonesien) zu den „vier Schlüsselländern für die Entwicklung der Demokratie“.
Am 21. Februar 2004 warb Madeleine Albright, ebenfalls in Kiew, für den raschen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union und zur Nato und erinnerte daran, dass Präsident Bush den ukrainischen Staatspräsidenten Leonid Kutschma in einem Schreiben vom 4. August 2003 ermahnt hatte, sich nicht noch einmal zur Wahl zu stellen.5 Und im März vergangenen Jahres forderte Albright in der New York Times, „die Rettung der Demokratie in der Ukraine“ gehöre auf die gleiche Agenda wie „die Demokratisierung des Nahen Ostens“. Die Ukraine habe mit Sanktionen zu rechnen, falls es zu Wahlfälschungen kommen sollte; in dem Fall werde man den politischen Führern des Landes „die Bankkonten sperren und ihre Reisen ins Ausland einschränken“.6 Die westlichen Medien, die sich in jüngster Zeit für die Demokratie in der Ukraine engagiert haben, erwähnten nur selten die Rolle der zahllosen US-amerikanischen Stiftungen und Regierungsstellen, obwohl diese durchaus stolz auf ihren Beitrag zur weltweiten Förderung der Demokratie hinweisen.
Dabei haben diese Institutionen klare Ziele. Sie sind gegen korrupte Regime und deren Wahlmanipulationen. Doch ihre Kritik ist selektiv: Solange die Präsidenten Jelzin, Putin, Kutschma oder Schewardnadse nützlich schienen, hatten diese nichts zu befürchten; dasselbe gilt bis heute für die autoritären Regime in Turkmenistan (wegen der Erdgaslagerstätten) und Aserbaidschan (wegen der Ölquellen und der Pipelines nach Westen).
In den Politwestern, die man uns im Fernsehen vorführt, kämpfen die guten, prowestlichen Kräfte gegen den üblen Russenfreund Wiktor Janukowitsch. Dezent ausgeblendet bleibt dabei das schlimmste Szenario: das Auseinanderbrechen der Ukraine.7 Im September 2004 forderten Madeleine Albright, der frühere tschechische Präsident Václav Havel und zahlreiche politische Persönlichkeiten aus verschiedenen Lagern eine entschlossene Haltung gegenüber Moskau. Erstaunlicherweise kam in diesem Appell Tschetschenien überhaupt nicht vor, obwohl dieser Kriegsschauplatz damals – kurz nach der Geiselnahme von Beslan – in allen Medien ein großes Thema war. Vielmehr ging es vorrangig um die Bedrohung „der Energieversorgung Europas“ durch Russland.8 Für Eingeweihte ist dies ein versteckter Hinweis auf die wahren Probleme.
Die Krise in der Ukraine fällt mit anderen Ereignissen zusammen, die im Ergebnis auf die Schwächung Russlands hinauslaufen: zum einen mit der Errichtung neuer „Energiekorridore“, also von Öl- und Gas-Pipelines, die den russischen (und iranischen) Leitungsnetzen Konkurrenz machen sollen, zum anderen mit den Versuchen, immer neue Lunten an das kaukasische Pulverfass zu legen. Im Nordkaukasus, in Tschetschenien, treiben die russische Armee und die radikalen Gruppen den Krieg in barbarische Dimensionen. Durch die Tragödie von Beslan, im vorwiegend christlichen Nordossetien, ist ein neuer, religiös determinierter Brandherd entstanden, der auf das benachbarte multiethnische Dagestan überzugreifen droht. Und in der südlichen Kaukasusregion schwelen nach wie vor separatistische Konflikte in Georgien (Südossetien und Abchasien) und in Aserbaidschan (der alte Streit mit Armenien um Berg-Karabach).
Angesichts der demografischen und sozialen Krise und der geopolitischen Rückschläge, die Putins Politik einzustecken hat, rechnen manche CIA-Experten bereits mit dem Zerfall Russlands innerhalb der nächsten zehn Jahre.9 Zbigniew Brzezinski schwebte schon 1997 ein „Bund“ von drei russischen Staaten vor (das europäische Russland plus einer Sibirischen Republik plus einer weiteren Republik im äußersten Südosten),10 wobei er davon ausging, dass die Russen bis 2004 ihre Positionen im Nordkaukasus einbüßen würden. Der alte Vordenker des Kalten Krieges und Mitbegründer der „Trilateralen Kommission“ (eines 1973 etablierten Brain-Pools) hat inzwischen eine Strategie entworfen, bei deren Umsetzung Europa lediglich als Brückenkopf dient und die vor allem drei Ziele verfolgt: Russland die Rückkehr zu einer Großmachtrolle zu verwehren, seine Energieressourcen zu kontrollieren und die Erschließung von Sibirien zu ermöglichen.11 Es handelt sich um die Blaupause für einen neuen Kalten Krieg, die sich am Muster des Kosovokonflikts orientiert.
Als sich 1989 bis 1991 das „sozialistische Lager“ auflöste, war bereits klar, dass seine Territorien in das kapitalistische System integriert werden sollten. Das sollte sich allerdings unter Bedingungen einer veränderten Welt abspielen: unter dem Vorzeichen globalisierter Märkte, der Dominanz transnationaler Unternehmen, der Hegemonie der USA und der Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin. In diesem Rahmen fiel den einstigen Ostblockstaaten eine exakt umrissene Rolle zu: Sie sollten erstens billige Arbeitskräfte liefern, zweitens hoch qualifizierte Experten und deren Know-how und drittens einige wertvolle Restbestände der Raumfahrtindustrie. Und natürlich sollten sie den internationalen Anbietern ihre Märkte öffnen und Energie an die „Triade“ USA/Europa/Japan und an China liefern.12
Die Nachfolgestaaten der UdSSR waren in diesem Integrationsprozess keine gleichberechtigten Partner. Dabei wurde das Russland des Boris Jelzin vom Westen noch am besten behandelt: Das Land musste als Atommacht ernst genommen werden, es verfügte über die größten exportierbaren Gas- und Ölvorkommen und war am ehesten entschlossen, sich auf die wirtschaftsliberale Schocktherapie einzulassen. Die Ukraine unter Leonid Krawtschuk dagegen – die sich sogar zu atomarer Abrüstung bereit gefunden hatte – schien völlig uninteressant. Präsident George Bush sen. hatte für das Land nur den milden Rat übrig, seinen „selbstmörderischen Nationalismus“ zu mäßigen.
Erst nachträglich begriff der Westen, wie nützlich eine von Russland getrennte und entfremdete Ukraine sein konnte. Das Land besaß einen hohen strategischen Wert: als Korridor für Energielieferungen, als Zugangsweg zum Zentrum Russlands und zu seinen Märkten im Süden, als Anrainerstaat des Schwarzen Meeres und durch seine Nähe zur Kaukasusregion und zum Kaspischen Meer.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte sich der neue russische Staat auf Kosten der unabhängigen Ukraine bereichern, die russische Öl- und Gaslieferungen nicht mehr zu den alten sowjetischen Konditionen bezog, sondern den aktuellen Weltmarktpreis zahlen musste. Unter einer erdrückenden Schuldenlast ging die Ukraine bald dazu über, diese Schulden durch Beteiligung russischer Unternehmen an ihren Staatsbetrieben zu tilgen. Überdies waren beide Länder darauf angewiesen, die 1990–1991 unterbrochenen Verarbeitungsketten wiederherzustellen. Nach zehn Jahren des Niedergangs (der das Bruttoinlandsprodukt mindestens um die Hälfte senkte) und der Verelendung erlebte die Ukraine jedoch seit einigen Jahren, zeitgleich mit Russland, einen Wirtschaftsaufschwung mit steigenden Wachstums- und Investitionsraten.
Die Führung in Moskau verfügt nach wie vor über Einfluss und Verbündete in der Ukraine, doch es handelt sich um Alliierte, nicht um Vasallen: 2004 entschied sich die Regierung in Kiew gegen eine Übernahme der Erdgasleitungen durch Russland. Und Präsident Wiktor Janukowitsch soll bei der jüngsten Runde der Privatisierungen sowohl russische wie US-amerikanische Angebote ausgeschlagen haben, um einer ostukrainischen Investorengruppe den Zuschlag zu geben. Diese wird nun, gemeinsam mit Russland, die Pipelines betreiben.
Die Industrie der Ukraine ist unter Clans aufgeteilt, die seit den Zeiten der Sowjetunion bestehen: Eine Gruppe beherrscht die Donbass-Region, eine weitere Dnjepropetrowsk, eine dritte Kiew.
Im Westen des Landes sind Günstlingswirtschaft und mafiose Strukturen nicht weniger verbreitet als im Osten, es gilt nur ein anderer Verteilungsschlüssel. Der Bankier Wiktor Juschtschenko kümmert sich um die westlichen Investoren; und von Julia Timoschenko, der politischen Verbündeten des neuen Präsidenten, wird behauptet, sie habe sogar zur eigenen Bereicherung die Verlegung einiger Leitungen für sibirisches Erdgas durchgesetzt. Doch auch in der Westukraine entschied man sich beim Bau neuer Atomkraftwerke für russische Technologie. Es zeichnet sich die Entstehung eines neuen Wirtschaftsraums ab, der Russland, Weißrussland, die Ukraine und Kasachstan umfasst und als Alternative zur Europäischen Union gedacht ist. Seit 1999 unternimmt Russland erhebliche militärische, handels-, industrie- und ölpolitische Anstrengungen, um seine Position angesichts des Vordringens der USA in die Gebiete der Exsowjetunion zu stärken.
Unter Präsident Putin hat Russland nicht nur neue eurasische Projekte begonnen, sondern auch neue Atomwaffenprogramme aufgelegt, einige Oligarchen der Ölbranche entmachtet und einige der „illegalen“ Privatisierungen der 1990er-Jahre überprüfen lassen. Kein Zweifel: Die Nation fühlt sich wieder stark und will zeigen, dass sie nach wie vor über ein gewisses „Störpotenzial“ verfügt. Für den Westen bietet nun die Krise in der Ukraine eine Gelegenheit, Wladimir Putin in seine Schranken zu weisen. Doch der russische Präsident wird sich nicht so leicht geschlagen geben. Seinem Ruf, ein vorsichtiger Taktiker zu sein, zum Trotz hat er jüngst den USA – immerhin seit dem 11. September ein „strategischer Verbündeter“ Russlands – indirekt vorgeworfen, in den internationalen Beziehungen eine diktatorische und unipolare Strategie zu betreiben. Antiwestliche Ideologen wie Alexander Dugin werben offensiv für eine „eurasische“ Orientierung Russlands.
Hier scheint sich ein neuer Kalter Krieg abzuzeichnen, allerdings nicht in der alten Form der Systemkonkurrenz. Heute wird vielmehr versucht, den „real existierenden Kapitalismus“ in Russland durch ein anderes kapitalistisches Land zu schwächen, auch wenn die Ukraine den wirtschaftsliberalen Vorgaben weit weniger entspricht als gewünscht. Tatsächlich gibt es zwischen Moskau und Kiew, aber auch zwischen Donezk und Lwiw immer noch ideologische Kontroversen.
Als die Ukraine von der Welle der „Revolution in Orange“ erfasst wurde, sah man auf dem Titelblatt einer russischen Kulturzeitschrift eine Karikatur, in der eine Reihe angeblicher Europaabgeordneter – als Liliputaner – einen Riesen attackieren, der die Uniform der Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg trug. Auf Seite zwei derselben Ausgabe war ein Foto abgedruckt: Es zeigte eine Kundgebung im Osten der Ukraine mit einem – gegen das drohende Erstarken des westukrainischen Nationalismus gerichteten – Spruchband: „Nein zur Banderowschtschina!“13 Die Botschaft war eindeutig: Im Westen, im Europaparlament, wird der Sieg über Nazideutschland heruntergespielt,14 und im Westen der Ukraine wird er verächtlich gemacht – eine späte Rache des „Faschistenführers Bandera“15 .
Russland und die Ukraine haben nicht den gleichen Blick auf die Geschichte. In Kiew sind die Kämpfer der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) weitgehend rehabilitiert – zu Sowjetzeiten galten sie als Kollaborateure Hitler-Deutschlands und als Komplizen des nationalsozialistischen Völkermords. Und die ukrainische Widerstandsarmee UPA unter Stepan Bandera wird in der Ukraine heute als patriotische Bewegung dargestellt, die einen Zweifrontenkrieg gegen Faschismus und Stalinismus geführt habe.16 In Galizien und in der Region Iwano-Frankiwsk geht die Revision der Geschichte so weit, dass Gedenkfeiern für die SS-Division „Galizien“ abgehalten werden. In Lwiw (Lemberg) wurde das russische Kulturzentrum mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert; hier kann man auch wieder Slogans gegen die Moskali-Kike, die „moskautreuen Juden“, hören. Juschtschenko genießt die Unterstützung einiger Parteien der extremen Rechten, hat sich aber von den radikalsten Gruppen, die den SS-Kult pflegen, distanziert.
In der Amtszeit von Leonid Kutschma wurden die Großtaten der Roten Armee von Staats wegen gefeiert, doch zugleich erhielten deren nationalistische Gegner Dispens – die Kämpfer der nationalen Befreiungsbewegung, die dem stalinistischen Regime einen „Genozid am ukrainischen Volk“ vorwerfen. Womit die Millionen Toten von 1932 bis 1933 gemeint sind, die der durch die „Lösung der Kulakenfrage“ ausgelösten Hungersnot zum Opfer fielen.
Wie der ukrainische Historiker Taras Kuzio herausarbeitet, spielt in dieser Auseinandersetzung um Vergangenheit und neue Identität die ukrainische Diaspora in den USA eine bedeutsame Rolle. Diese Emigranten stammen vorwiegend aus Galizien und stehen unter dem Einfluss verschiedener Fraktionen der OUN, die jedoch – mit Ausnahme einiger faschistisch orientierter Gruppen – durchaus demokratische Ziele verfolgen. Nach 1991 erlangte die Organisation erheblichen Einfluss im Bildungssektor, in den Medien und im Bereich der Kultur. Dabei konnte sie angesichts des ideologischen Vakuums, das die alte Nomenklatura hinterlassen hatte, viele neuer Anhänger gewinnen.17
Allerdings muss diese Erneuerung der „ukrainischen Idee“ mit den Verheißungen des Westens konkurrieren. Vor allem die Jugend hat sich von der sowjetisch und russisch bestimmten Vergangenheit und Gegenwart abgewandt. So beklagt der nationalkonservative russische Publizist Alexander Tsipko, im Osten und Süden der Ukraine sei kein Verständnis mehr für das „alte Russland“ vorhanden, während er im Westen schon eine „neue politische Nation“ entstehen sieht.18 Dort ist eine Generation aufgewachsen, die von der Sowjetgesellschaft nichts mehr weiß und, im Unterschied zum Osten der Ukraine, auch keine engen Bindungen an das heutige Russland hat. Genau diese jungen Leute waren es, die in Kiew demonstriert haben.
Russland und dem Osten der Ukraine bleibt nur die Flucht nach vorn: Sie müssen die wirtschaftliche Liberalisierung nun erst recht unterstützen. Liberale Kreise in Russland hoffen sogar auf ein Übergreifen der „Revolution in Orange“ auf ihr Land. Die politisch unbedeutende russische Union der Kräfte der Rechten (SPS) hat durch den Mund ihres Führers Boris Nemtsow in Kiew den Sieg ihrer ukrainischen Verbündeten begrüßt, wobei Nemtsow zugleich Russland als Führungsmacht der Schurkenstaaten denunzierte.
Mit dem Wahlsieg Juschtschenkos vom 26. Dezember hat bereits die Schlacht um die Parlamentswahlen vom März 2006 begonnen. Die künftige Zusammensetzung der Volksvertretung ist noch wichtiger geworden, weil der oberste Rada (Sowjet) die von Präsident Kutschma geplante Verfassungsänderung am 8. Dezember 2004 verabschiedet hat, die aber erst Mitte 2005 in Kraft treten soll. Diesen Kompromiss hatte sich Juschtschenko gegen die Zusicherung abhandeln lassen, dass die Wahlen am 26. Dezember „sauber“ durchgeführt werden. Außerdem musste sein Gegner Janukowitsch das Amt des Ministerpräsidenten aufgeben und damit auf einen gewissen Startvorteil verzichten. Letztlich soll die Verfassungsreform die ukrainische Präsidialdemokratie in eine parlamentarische Demokratie umwandeln.
Zugleich ist aber auch die Diskussion über eine Föderierung wieder aufgetaucht. Die Auflösung des Zentralstaats hat längst begonnen, die Frage ist also nur, ob das Land mit einer neuen – pluralen, aber auch separatismusanfälligen – Grundstruktur seine Einheit bewahren kann.
Die Krise in der Ukraine wirft eine Reihe weiterer Fragen auf. Welche Vorteile würde es für die Ukraine und Europa bringen, ihrer Annäherung eine antirussische Richtung zu geben, statt gemeinsam mit Russland ins Geschäft zu kommen? Wozu soll ein Kalter Krieg gut sein, der in Washington angezettelt und mit Hilfe von Prag, Riga und Warschau betrieben wird? Und könnte die Europäische Union Madeleine Albrights Versprechen einer zügigen Integration auch tatsächlich einlösen?
In Moskau hat man kein Interesse an unstabilen und unsicheren Verhältnissen. Die Frage ist, ob der Kreml sich damit abfindet, dass seine Interessen ständig beeinträchtigt werden, und sich mit einer Nebenrolle begnügt, weil man auf westliche Investitionen angewiesen ist und die Gewinne aus den Ölexporten nicht gefährden will. In jedem Fall wird die ukrainische Krise ernsthafte Rückwirkungen auf Moskau haben.
deutsch von Edgar Peinelt
* Journalist, schrieb u. a. „URSS, une société en mouvement“, Editions de l‘Aube, La Tour-d‘Aigues, 1988.