14.01.2005

Spontan und gründlich geplant

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Spontan und gründlich geplant

Die „Bewegung in Orange“ hat auf den Straßen von Kiew dieselben Methoden praktiziert, mit denen sich die demokratische Opposition schon in Belgrad und Tbilissi durchgesetzt hatte. Das ist kein Zufall, denn diese Bewegungen haben nicht nur voneinander gelernt, sie wurden auch von denselben Kräften im Westen unterstützt. Diese Hilfe war in allen drei Fällen wichtig, aber entscheidend waren zwei andere Faktoren: die Verbrechen der Regime und das Engagement der Menschen, die sich dergleichen nicht mehr bieten lassen.

Von RÉGIS GENTÉ und LAURENT ROUY *

BELGRAD 2000, Tbilissi 2003, Kiew 2004: drei gewaltlose Erhebungen, die zum Sturz schändlicher, korrupter und gänzlich undemokratischer Machthaber führten. Und dreimal der gleiche Ablauf der Ereignisse. Über die Entwicklung in Tbilissi und Kiew hat sich Russland bis heute nicht beruhigt: Moskau ist empört über die Einmischung des Westens, insbesondere der USA, in die Angelegenheiten des „benachbarten Auslands“.

Doch was hätten Wladimir Putin und die von ihm gestützten Machthaber schon ausrichten können gegen die hunderttausende von Ukrainern, die im kalten November 2004 auf die Straße gingen und gewaltlos, gut organisiert und mit viel Fantasie für ihre Ziele eintraten? Letztlich gar nichts. Hier hat sich ein neuer gegen einen alten Politikstil durchgesetzt.

Solche Demonstrationen haben etwas Spontanes an sich, genau das ist ihre Stärke. Tatsächlich aber sind sie sehr sorgfältig geplant. Schon in Belgrad wurde das Verfahren der gewaltlosen Revolution perfektioniert: 1999 hatten sich die Bombenangriffe der Nato als wirkungslos erwiesen; die USA und die Europäische Union beschlossen daraufhin, die Opposition gegen Slobodan Milosevic bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. September 2000 zu unterstützen. Angesichts des erwiesenen Wahlbetrugs zu seinen Gunsten wurde Milosevic mit machtvollen und gut organisierten Protestdemonstrationen konfrontiert. Ein klug dosiertes und auf die Situation abgestimmtes Rezept sowie knapp ein Jahr der Vorbereitung hatten mehr bewirkt als die Bombenangriffe.

Der Erfolg dieser Methode in Belgrad inspirierte die georgische Opposition. Man knüpfte Kontakte nach Serbien, informierte sich vor Ort und importierte das Rezept. Es funktionierte prächtig – auch deshalb, weil US-amerikanische Institutionen einige Millionen Dollar dafür lockergemacht hatten. Ist der Kalte Krieg also doch noch nicht ganz vorbei? Wie auch immer: Revolutionen wie diese, die sich auf die gewaltlose Tradition Gandhis und die Volksbewegungen der 1990er-Jahre im Osten berufen, kann man keinesfalls auf die Einmischung ausländischer Kräfte reduzieren. Das hieße, die sozialen und geschichtlichen Voraussetzungen in den betroffenen Ländern zu ignorieren.

Wahlen dienen demnach als Falltür, durch die man Diktatoren und moribunde Regime stürzen lässt. Das klappt zumindest dann, wenn es sich um Machthaber handelt, die nicht völlig autokratisch regieren oder vom Westen hinreichend abhängig sind, um gewisse demokratische Formen zu respektieren. Wahlen waren das zentrale Element der drei „Revolutionen“ in Serbien, Georgien und der Ukraine, wo sich die jeweilige Regierung nur noch mit massiven Wahlfälschungen zu helfen wusste. Deshalb war das System des „Monitoring“ so entscheidend – die internationale Wahlüberwachung, die dafür sorgen soll, dass die Stimmabgabe überall korrekt und überprüfbar erfolgt.

Dabei wurden Beobachter nicht nur von den lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entsandt, sondern auch von der Europäischen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), dem National Democratic Institute (NDI) und dem International Republican Institute (IRI). Das NDI, das von der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright geleitet wird, ist ebenso wie das IRI eine US-amerikanische Stiftung, die den lokalen Organisationen und Parteien erhebliche Mittel für die Organisation der Volksbewegung und die Wahlüberwachung zukommen ließ.

Das Ziel war dabei stets, die Machthaber zum Rücktritt zu bewegen. Eine solche eindeutige Umsturzstrategie hat manchen Beteiligten – wie zum Beispiel Gia Jorjoliani vom Zentrum für Sozialforschung in Tbilissi – so sehr irritiert, dass er am Ende nicht mehr bereit war, sich an der Wahlbeobachtung zu beteiligen. Er hatte begriffen, „dass die federführenden georgischen Organisationen weniger an freien Wahlen interessiert waren als vielmehr am Sturz des Regimes“.

Der Ehrgeiz, die Machthaber zu stürzen, wird von den „Revolutionären“ allerdings kaum offen formuliert; sie betonen vielmehr ständig, man wolle an den Wahlurnen nur der Demokratie zum Sieg verhelfen. Und dies will man mittels diverser Kontrollmechanismen erreichen, zum Beispiel durch eine Parallelauszählung, um jeden Wahlbetrug sofort aufdecken zu können. Bei dem Ganzen spielen natürlich die Medien eine entscheidende Rolle: Sie stützen sich auf die – unterstellte – Neutralität der internationalen Beobachtergruppen, machen Wahlfälschungen publik und tragen zur Mobilisierung möglichst vieler Wähler bei.

Auch studentische Organisationen spielten bei der Verbreitung von Informationen und beim Kampf gegen das jeweilige Regime eine maßgebliche Rolle. In Belgrad war die Gruppe Otpor („Widerstand“) federführend, die auf stoßtruppartig organisierte pazifistische Aktionen spezialisiert war. Ihre Techniken bezogen sie aus Handbüchern zum zivilen Widerstand – etwa der berühmten Anleitung des US-amerikanischen Pazifisten Gene Sharp: „Durch den gewaltlosen Kampf kann man Konflikte nicht lösen, aber einen Sieg erringen. Wir diskutieren in quasimilitärischen Begriffen, doch unser Vorgehen ist unblutig – und zugleich sehr wirkungsvoll.“1

Das Beispiel Otpor hat Schule gemacht: Vor den Parlamentswahlen am 2. November 2003 organisierte die Bewegung auf Wunsch lokaler Aktivisten auch Kurse in Georgien und ein Jahr später in der Ukraine, wo dann bereits Mitglieder der georgischen Studentenbewegung Chmara („Genug!“) und US-amerikanische Ausbilder mitwirkten. Die Taktik ist einfach: Sobald dem Regime Verfehlungen nachzuweisen sind, kann die eigentliche Auseinandersetzung beginnen. In Kiew baute die Studentenbewegung Pora („Es ist Zeit!“) auf der Chreschatik, der Hauptverkehrsader der Stadt, eine Zeltstadt auf, die binnen kurzer Zeit eine pazifistisch geprägte Woodstockatmosphäre verbreitete.

Bei so viel öffentlicher Rückendeckung hat die Opposition natürlich gute Karten für eine Kraftprobe mit dem Regime, dem sie im Namen von Freiheit und Demokratie entgegentritt. Sie knüpft auch Kontakte zu Armee und Polizei, die sie zu überreden versucht, den Machthabern ihre Unterstützung zu entziehen. Solche Bemühungen werden von den westlichen Staaten, je nach eigener Interessenlage, mehr oder minder offen unterstützt.

Die Aktivitäten von Otpor in der Ukraine wurden von Freedom House finanziert, einer US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation unter Leitung des früheren CIA-Direktors James Woolsey, die schon 2000 in Serbien eine wichtige Rolle spielte. Wie eng ihre Beziehungen zu Otpor sind, mag die Organisation nicht preisgeben, doch einer ihrer Wahlbeobachter erklärte während der ersten Wahlrunde in der Ukraine: „Freedom House geht es nicht darum, ein Regime zu stürzen – das ist Sache der Bürger. Wir stellen nur die Mittel bereit, um den Wählern deutlich zu machen, dass ihre Stimme zählt und dass sie ihre Furcht vor den Machthabern überwinden können.“

Ähnlich argumentiert auch die Soros Foundation, die in Georgien ganz erheblichen Einfluss genommen hat. Das Open Society Institute, finanziert von dem aus Ungarn stammenden US-Milliardär und Globalisierungskritiker George Soros, sieht seine Aufgabe vor allem darin, die Zivilgesellschaft und alle demokratischen Ansätze in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu unterstützen. In Tbilissi engagierte sich der damalige Direktor der georgischen Sektion von Open Society, Kacha Lomaia, im Vorfeld der Wahlen von 2003 sogar persönlich in den Schulungskursen der Otpor.

Die langfristige politische Strategie wurde auch bei einer Veranstaltung am 9. März 2004 in Washington deutlich. Im Rahmen eines Seminars für Ausbilder, das von Freedom House und Otpor veranstaltet wurde, trat auch Mukhuseli Jack auf, ein alter Kämpe der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung. Anwesend waren auch Gene Sharp und Jack DuVall, der den Dokumentarfilm „Bringing Down a Dictator“ gedreht hat, mit dem in Georgien, aber auch – bislang ohne Wirkung – im Iran und Kuba gearbeitet wurde.

Obwohl dieses Netzwerk in Serbien und Georgien erfolgreich war, reicht der Zusammenschluss von NGOs, wie gut er auch organisiert sein mag, offenbar nicht immer aus, um den Sturz undemokratischer Machthaber herbeizuführen. Cedomir Jovanovic, langjähriger Gegner von Milosevic und später stellvertretender Ministerpräsident Serbiens, weist darauf hin, dass der Sturm auf das Parlament in Belgrad, am 5. Oktober 2000, eine „politische Entscheidung“ war, die von der Koalition der Anti-Milosevic-Parteien getroffen wurde: „Damals haben eindeutig Politiker die Macht ergriffen.“ Den NGOs fällt vor allem die Rolle zu, günstige Voraussetzungen für solche Aktionen zu schaffen. Doch nichts geht ohne einen geeigneten politischen Führer vor Ort.

In der Ukraine war Wiktor Juschtschenko die Idealbesetzung. Vermutlich hat er sich im Februar 2004 die entscheidenden Tipps vom amtierenden georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili geholt: Der hatte ein Jahr zuvor demonstriert, wie man mit einer Rose in der Hand ein Parlament erobert – und dabei seinerseits auf die Erfahrungen der serbischen Opposition gegen Milosevic zurückgegriffen. Saakaschwili hatte im Frühjahr 2002 mit den serbischen Regimegegnern Kontakt aufgenommen. Die Serben, allen voran der (am 12. März 2003 ermordete) Präsident der Übergangsregierung, Zoran Djindjic, waren die Vorreiter der neuen Welle gewaltloser Revolutionen – inspiriert durch die Aktionen der Volksbewegung und der Parteien in Chile, die den Rücktritt von General Pinochet erzwungen hatten.

Aus alledem lässt sich ersehen, dass es kein Patentrezept für die gewaltlose Revolution gibt – entscheidend aber bleibt die sorgfältige Vorbereitung. In Serbien, Georgien und in der Ukraine dauerte sie etwa ein Jahr. Die gestürzten Präsidenten Georgiens und der Ukraine, Eduard Schewardnadse und Leonid Kutschma, aber auch gewisse Beobachter betrachten dies als direkte Einmischung der westlichen Mächte. Dass Freedom House mit US-Regierungsgeldern finanziert wird, ist kein Geheimnis und ebenso wenig, dass in der Ukraine Polen und die EU mitgemischt haben.

Was die demokratische Entwicklung betrifft, so entsprechen die Ergebnisse nicht automatisch den propagierten hohen Ansprüchen. Nach der „Rosenrevolution“ in Georgien hat die Bügerrechtsaktivistin Tinatin Khidasheli eine recht gemischte Bilanz gezogen und der neuen Regierung die Verhaftung von Journalisten und Politikern vorgehalten.2 Der neue Präsident der Ukraine, Wiktor Juschtschenko, ist ein in der Wolle gefärbter Apparatschik, und auch Julia Timoschenko, die „Passionara der Opposition“ gehört zu jener alten Nomenklatura, die sich im Zuge der Privatisierungen bereichert hat (siehe den Artikel auf der folgenden Seite). Die Frage ist, ob sie einen Sinneswandel vollzogen haben und zu demokratischen Wertvorstellungen stehen.

Wie wird es weitergehen mit diesen „Revolutionen“? Die USA haben sich drei Ziele gesteckt: Erstens soll das Castro-Regime in Kuba gestürzt werden. In der jüngeren Vergangenheit wurde dies bereits mit vielen offenen und verdeckten, diplomatischen und militärischen Aktionen versucht – nun könnte auch in Kuba die Methode der gewaltlosen Revolution zum Einsatz zu kommen.

Ein weitere Anwendungsmöglichkeit der Methode der gewaltlosen Revolution könnte sich aus der Absicht von Präsident George W. Bush ergeben, die Demokratie in den ganzen Nahen Osten zu importieren. Allerdings sind die Vereinigten Staaten aufgrund des Irakkriegs und ihrer Palästinapolitik in der Region so verhasst, dass sich dort vermutlich nicht ausreichend viele Anhänger einer solchen Strategie finden werden.

Bleibt die Frage, wer von der logistischen Unterstützung durch die aktuellen Geberländer profitieren wird. Eine altruistische Einstellung ist von den einzelnen Regierungen derselben kaum zu erwarten, es wird also alles von ihren außenpolitischen Prioritäten abhängen.

Wie gut die Bevölkerung sich auf eine politische Konfrontation vorbereitet, hängt zum einen von den Schwächen – oder gar Verbrechen – des jeweiligen Regimes ab, zum anderen von der Bevölkerung, deren verzweifelten Wunsch nach Veränderung niemand ernsthaft bestreiten kann. Dass Milosevic und Schewardnadse eine breite Opposition gegen sich hatten, steht völlig außer Zweifel.

Zwar liegt es auf der Hand, dass diese gewaltlosen Revolutionen auch in das außenpolitische Konzept der USA passen (eine Neuauflage des Ost-West-Konflikts aus dem Kalten Krieg, wenn man so will). Doch es wäre eine Illusion, zu glauben, dass sich die Massenproteste der Bürger, zumal gegen Wahlfälschungen, umstandslos in jedes Land importieren ließen. Die Entscheidung, den Politikern die Gefolgschaft aufzukündigen, treffen letzten Endes immer noch die Staatsbürger selbst.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalisten in Tbilissi und Belgrad.

Fußnoten: 1 „From Dictatorship to Democracy: a Conceptual Framework for Liberation“, Boston (Albert Einstein Institution) 2003 (Neuausgabe); Erstausgabe Bangkok 1993. 2 Tinatin Khidasheli, „The Rose Revolution has wilted“, International Herald Tribune (Paris), 8. 12. 2004.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von RÉGIS GENTÉ und LAURENT ROUY