14.01.2005

Christus, Dreadlocks und Mau-Mau

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Christus, Dreadlocks und Mau-Mau

DER Sieg der Regenbogenkoalition (National Rainbow Coalition/Narc) bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Kenia wurde im Oktober 2002 als „Morgenröte des Neuanfangs“ euphorisch begrüßt. Erstmals in der Geschichte des unabhängigen Kenia wurde die Kanu (Kenya African National Union) abgelöst. Korruptionsabbau, Aufarbeitung der vergangenen Verbrechen in der Ära von Präsident Daniel arap Moi (1978–2002) und wirtschaftlicher Aufschwung zum Wohle aller waren die erklärten Ziele des Wahlsiegers Mwai Kibaki. Heute sind die Menschen in Kenia enttäuscht. Und nicht nur hinter vorgehaltener Hand interpretiert man das Kürzel Narc als den Slogan: „Nothing ’as really changed.“

Von JEAN-CHRISTOPHE SERVANT *

„Eine bessere Werbung, als die Regierung für uns macht, gibt es nicht. Dass wir unterdrückt werden, macht uns populär. Unter den 4 000 Gefangenen hier sympathisieren mehr als 1 000 mit unserer Bewegung“, sagt John Maina Njenga triumphierend. Der Chef der Mungiki-Miliz sitzt zusammen mit 32 Gefolgsleuten seit März 2004 im Hochsicherheitsgefängnis von Kamiti bei Nairobi. Die Anklage lautet auf Mord, doch der Prozess scheint den 36-jährigen Milizführer nicht besonders zu beunruhigen. „Ich bin unschuldig. In den Medien stellt man uns wie den Leibhaftigen dar. Das ist doch nur wieder eine von den vielen Intrigen, die gegen unsere Bewegung angezettelt werden.“

Nairobi, die hundert Jahre alte Metropole, gilt mit ihren drei Millionen Einwohnern als eine der unsichersten Städte in Schwarzafrika.1 In der staatlichen Presse wird die Mungiki-Bewegung als eine regelrechte Geheimarmee dargestellt. Ihr werden die vielen Bluttaten zugeschrieben, die in Nairobi an der Tagesordnung sind: Angriffe auf Polizisten, Überfälle auf Fahrgäste in den Bussen, Mord, Drogenhandel und Schutzgelderpressungen. Die Mungiki zählt zu einer der einflussreichsten Milizen, die das Leben der Leute in den gürtelförmig um die Hauptstadt Kenias liegenden 143 Slums kontrollieren.

In diesen rechtsfreien Zonen, in denen 60 Prozent der städtischen Bevölkerung zusammengepfercht leben, gelten nur die „Gesetze“ der Mungiki. Während private Sicherheitsdienste in den reichen Stadtvierteln für Ordnung sorgen – in Nairobi wohnen mehr als 20.000 Ausländer, die vor allem für internationale Organisationen arbeiten –, hat die Bewegung auf den Straßen der Armenviertel diese Aufgabe übernommen, denn andere Ordnungskräfte gibt es nicht.2

Präsident Mwai Kibaki hat seine Regierung auf einen „harten Kampf“ gegen die Mungiki eingeschworen. Diese werden vom Informationsdienst der African Church als „Raubtiere“ beschrieben, die so blutdurstig wie Vampire seien. In Nairobi, dem Drehkreuz Ostafrikas, leben viele angelsächsische Journalisten, die in Artikeln über die Mungiki häufig auf den radikalen afrozentristischen Fundamentalismus der Bewegung verweisen, die für die Beschneidung der Mädchen eintrete und „einen gnadenlosen Kampf gegen den Sittenverfall in der westlichen Kultur“ betreibe.3

Die junge Frau allerdings, die uns durch das Verkehrsgewühl nach Kamiti fährt, wo ihr Freund, der Milizenchef Njenga, im Gefängnis sitzt, trägt lange Hosen und hört gern Soul. Und sie ist Katholikin. „Die Mungiki sind keine Barbaren“, erklärt die 22-jährige Irene, „sie repräsentieren die Jugend.“ Tatsächlich gehen die Meinungen über die Mungiki weit auseinander. Die stellvertretende Umweltministerin Wangari Maathai, die 2004 als erste Afrikanerin den Friedensnobelpreis erhalten hat, schildert die Milizionäre als Benachteiligte, für die man nichts getan hat: „Von den Schulen wurden sie aus Platzmangel abgewiesen, danach fanden sie keine Arbeit. Sie wissen sehr wohl, dass man ihnen nur deshalb alles verwehrt, weil sie Kikuyu sind.“4

Im jährlichen Bericht der US-Regierung über die Situation der Religionsfreiheit in der Welt wird erwähnt, dass die kenianische Regierung „Mitglieder der Mungiki verfolgt und regelmäßig festnimmt und inhaftiert“.

Die erstaunlich differierenden Urteile haben vielleicht mit dem facettenreichen Profil der Bewegung zu tun, in dem sich alle Probleme der kenianische Gesellschaft abbilden: die religiösen, ethnischen und politischen Konflikte, die Streitigkeiten um Land und Grundbesitz und vor allem die Frage der persönlichen Sicherheit. „Sie sind wirklich eine Besonderheit unter den vielen neuen Selbstschutzgruppen, die sich überall in Nairobi gebildet haben“, erklärt der britische Historiker David Anderson.5 „Keine andere Organisation hat so unverhüllt ethnische Maßstäbe und bezieht sich so ausschließlich auf die alten Stammesstrukturen. Und vor allem ist keine andere in der Lage, so stark auf Massengewalt zu setzen.“ Überall in den Elendsvierteln afrikanischer Städte bilden sich solche Milizen mit eigenen Regeln und Parolen – von der berühmten Bewegung Oduduwa Peoples’s Congress (OPC) in Lagos, der ökonomischen Metropole Nigerias, bis zur südafrikanischen Bewegung der Pagad, der Peoples Against Gangsterism and Drugs.

Das Wort „Mungiki“ bedeutet auf Kikuyu „(Volks-)Menge“. Die Miliz entstand Anfang der 90er-Jahre im gebirgigen Rift Valley, der fruchtbarsten Region Kenias. Mungiki war zunächst eine neotraditionalistische Sekte, eine Abspaltung der Tent of the Living God – der Evangelisten. Die neue Sekte beruft sich einerseits auf die überlieferte Kosmogonie der Kikuyu und sieht sich andererseits in der Nachfolge der Mau-Mau, der afrikanischen Widerstandsbewegung, die Anfang der 50er-Jahre gegen das britische Kolonialregime kämpfte (siehe Kasten). Als afrikanisches Pendant zur angelsächsischen Pfingstgemeinde gewinnt sie mit ihrer Krisenprophetie immer mehr Anhänger. „In ihr haben die Ärmsten unter den Kikuyu einen Ersatz gefunden. Es ist wie eine geistige Migration, weil die reale – die Suche nach fruchtbarem Land – nicht mehr funktioniert“, analysiert der Keniaexperte Hervé Maupeu.6

Die jugendlichen Anhänger sind zumeist Nachfahren von Mau-Mau-Kämpfern. Sie schnupfen Tabak – zur „Stimulation des Geistes“ und tragen ihre Dreadlocks und Wunden stolz zur Schau. Und zwar „als ewige Erinnerung daran, wie die Mau-Mau von allen Regierungen, die jemals in Kenia an der Macht waren, verraten wurden“, erläutert M. Ngonya wa Gakonya, das geistige Oberhaupt der Tent of the Living God. Er hat die Mungiki im Juni 1992 getroffen: „Diese jungen Leute akzeptierten mich nicht als ihr geistiges Oberhaupt. Sie wollten autonom sein. Ihre Bewegung ist politisch geworden. Doch auch wenn uns die Ideologie trennt, bleiben sie immer meine Kinder.“

Von den Massakern mit ethnischem Hintergrund – wie sie 1991 bis 1994 unter dem Regime von Präsident Daniel arap Moi verübt wurden – waren die Kikuyu besonders stark betroffen, was der Bewegung nur noch mehr Zulauf brachte. Mehrere 10 000 Flüchtlinge zogen damals von den Hängen des Mount Kenia – der höchsten Erhebung im Rift Valley – hinunter in die Slums von Nairobi. Die Mungiki-Bewegung machte diesen Exodus mit. Nach Maupeu begann sie dann in der Hauptstadt „die Hoffnung auf eine sicher zu erwartende Wiederkehr Christi zu propagieren, und zwar in einer militanteren Form als vorher, stärker politisch akzentuiert“7 .

In den Armenvierteln im Osten der Stadt, wo 60 Prozent der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen zugehören, wurde die Bewegung zum Sprecher einer ganzen Generation. Sie ging dazu über, ihre ethnischen mit sozialen Forderungen aufzupeppen. Damit näherte sie sich anderen Bewegungen an, die für die Demokratisierung des Landes und gegen den Autokraten arap Moi kämpften. „Ihre Führer wurden mit den Menschenrechtsaktivisten gleichgesetzt“, erinnert sich Njuguma Mutahi vom Verein People Against Torture (Bürger gegen Folter)8 . „Die Regierung unterdrückte sie wegen ihrer sozialen Forderungen, bei denen es um die Landverteilung ging, um das Schicksal der Arbeitslosen und um die Lebensbedingungen in den Slums.“

Für die unerbittliche „Konkurrenz der Gewalt“, die im informellen Geflecht der Stadtviertel herrscht, ist die Mungiki-Bewegung gut gerüstet. Ihre Mitglieder mischen etwa in dem gewalttätigen „Mietkrieg“ mit, und zwar aufseiten beider Konfliktparteien: der Grundeigentümer wie der Mieter, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind.9 Von der Polizei vernachlässigten Stadtvierteln bieten die Milizionäre gegen entsprechende Zahlungen ihren „Schutz“. Solche Schutzgelder kassieren sie auch von den äußerst lukrativen Kleinbuslinien (Matatus), auf die jeder angewiesen ist, der vom Stadtzentrum in die Slums von Mathare oder Dandaura zurückmuss. Vor den Präsidentschaftswahlen von 2002, die zur Niederlage der Regierungspartei Kenya African National Union (Kanu) von Präsident Daniel arap Moi führten, waren die Mungiki zu einer regelrechten Mikrogesellschaft von mehreren hunderttausend Mitgliedern geworden, die zudem über erhebliche Geldsummen verfügte. Im Wahlkampf zwischen Uhuru Kenyatta, dem Kandidaten der Kanu, und dem späteren Präsidenten Mwai Kibaki von der National Rainbow Coalition (Narc) wurde die Mungiki-Bewegung zu einem der wichtigsten Akteure.

In den letzten zehn Regierungsjahren von arap Moi häuften sich die Fälle von Korruption und Veruntreuung von Geldern durch Politiker. In dieser Zeit wurden auch Oppositionelle ermordet, die zu den Bevölkerungsgruppen der Luo und der Kikuyu gehörten. Recht und Ordnung wichen allmählich einem Rechtssystem, das zwischen „Reichen und Armen“ differenzierte.10

Da Richter und Polizisten notorisch bestechlich waren, griff jedes Lager auf die „Jeshi“ zurück – Privatarmeen aus jugendlichen Kämpfern, die von den Clanchefs auch bei Wahlen aktiviert wurden. Ihr Rekrutierungsfeld waren dutzende von Selbstschutzgruppen (also privat organisierten Bürgerwehren), die in den Stadtvierteln der Hauptstadt die Kontrolle ausüben. Vor der Präsidentenwahl 2002 „wurden frühere Freunde zu Feinden“ berichtet ein ehemaliges Mitglied der „Bagdad Boys“. Hunderte von Jugendlichen ohne Arbeit und Geld „schlossen sich den von den Politikern aufgestellten Gangs an – um abends etwas zu essen zu haben“. Zu den bekanntesten Milizen zählten neben den Mungiki und den Bagdad Boys die „Jeshi la Embakasi“ des Abgeordneten David Mwenje und die „Luo Vigilantes“ des jetzigen Ministers für Infrastruktur, Raila Odinga.11

In den Straßen der Ghettos war sofort zu hören, wenn neue Handfeuerwaffen eingetroffen waren. Damals äußerten internationale Beobachter die Sorge, dass mindestens 7 Prozent der Bevölkerung Waffen besitzen. Noch beunruhigender war allerdings, dass sich die Mungiki-Führer in der Hoffnung auf eine politische Karriere mit ihren Feinden von der Kanu von Präsident Moi verbündeten. Das Massaker vom 3. März 2002 verstand man als Warnung: In dieser Nacht hatten Mungiki im Armenviertel Kariobangi-Nord eine „Strafexpedition“ gegen ihre Rivalen von der Taliban-Miliz durchgeführt und 21 Menschen auf grausamste Weise umgebracht. Die Beteiligung der Mungiki (die hinterher behaupteten, die Täter seien Polizisten gewesen, die sich als Mungiki ausgegeben hätten) enttäuschte viele Jugendliche. Sie hatten die Sekte als Hoffnungsträger gesehen, weil sie sich für soziale Belange eingesetzt hatte. Jetzt aber stellte sich heraus, dass die Mungiki nicht anders waren als die üblichen politischen Privatarmeen. Einige Tage nach dem Massaker verbot die Regierung Moi die Mungiki und 17 weitere Sekten, Gruppen oder Privatarmeen, die sie „für die Unsicherheit in unserem Land“ verantwortlich machte.

Doch entgegen allen düsteren Prognosen ging Nairobi damals nicht in Flammen auf. Der Kandidat der Regenbogenkoalition, Mwai Kibaki, ging mit 62,2 Prozent der Stimmen aus den Präsidentschaftswahlen vom 27. Dezember 2002 als triumphierender Sieger hervor. Damit war die Ära Moi nach 24 Jahren zu Ende.

Allerdings, meint der kenianische Journalist David K. Kiare, „wagt in dieser völlig verworrenen Situation auch keiner mehr, Prognosen für die Zukunft zu machen“. Die Stimmung ist schlecht. In Straßengraffiti übersetzt man die Initialen der regierenden Regenbogenkoalition „Narc“ bereits in den Spruch: „Nothing ’as really changed“ („Nichts hat sich wirklich verändert“). Und während die wichtigsten Parteien der Regierungskoalition – die Nationale Allianz Kenias (NAK) des Kikuyu Mwai Kibaki und die Liberaldemokratische Partei (LDP) des Luo Raila Odinga – einen Grabenkrieg um eine Verfassungsänderung austragen, mit der die Macht der Exekutive begrenzt werden soll12 , sind die Mitglieder der „Mount-Kenia-Mafia“ – eine Clique von Ministern und Freunden des Staatschefs, die wie dieser durchweg Kikuyu sind – nach Darstellung des Londoner Informationsdienstes Africa Confidential zu einer „Gefahr für die Einheit des Landes und den Aufbau einer wirklichen Demokratie“ geworden.13

Durch die Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln und Bustarifen werden die Menschen in den Slums, wo fast 80 Prozent der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, besonders hart getroffen. Und die von der Narc versprochene Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild gibt es immer noch nicht. „Wie sollte es auch anders sein?“, meint Njuguma Mutahi. „Zahlreiche ehemalige und aktuelle Regierungsmitglieder sind mit den Milizen verbandelt. Zwar haben sie keine Angst vor einer Versöhnung, wohl aber vor einem möglichen Gerichtsverfahren.“

Njuguma Mutahi gibt zu, dass er als Kikuyu über die Mungiki kaum ein objektives Urteil abgeben kann. Auch wenn diese – wie er eingesteht – Gewaltakte begangen haben, so „hat man ihnen dennoch nie die Chance gegeben, zu erklären, was sie wollen“. Man könne sich zwar über ihre Methoden streiten, doch sei alles, wofür sie gekämpft haben, noch immer aktuell: „Vor allem die jüngere Generation ist frustriert. Die Jugendlichen werden von Tag zu Tag radikaler und gewalttätiger. Wem es gelingt, zur Lösung dieser Probleme ein politisches Programm zu formulieren, wird nicht nur die Unterstützung der Mungiki bekommen, sondern die aller verarmten Jugendlichen.“

Ebenso wie die anderen wild gebauten Stadtviertel von Nairobi ist auch das Tal von Mathare nicht in den Touristenführern verzeichnet. Hier liegt einer der bekanntesten Slums von Nairobi. Hier in Mathare ist man gegen die Mungiki-Bewegung am brutalsten vorgegangen. Hunderte von angeblichen Mitgliedern der Bewegung wurden seit Beginn des Jahres verhaftet und sitzen jetzt in den Gefängnissen. Die Polizei hatte sogar Befehl, ohne Vorwarnung zu schießen. Dennoch kann man das Viertel immer noch nur mit Erlaubnis der Bewegung betreten. Das gilt offenbar auch für die fünf Polizisten, die in den engen Straßen patrouillieren, die „wie gemacht für die Guerilla“ scheinen.

Der Chef der Gruppe, die uns durch den Slum begleitet, will über 1 600 Gefolgsleute verfügen. „Manchmal greifen wir uns Grundeigentümer, die uns dann einen Teil ihrer Mieteinnahmen zurückzahlen; oder wir tragen Abfall zusammen oder sammeln Geld: 15 Shilling wöchentlich pro Mitglied. Das investieren wir wieder. Wir sind nicht gewalttätig, wissen Sie, wir verteidigen uns nur. Warum sollten wir die rechte Wange hinhalten, wenn man uns auf die linke geschlagen hat?“ Einer der Jugendlichen sagt: „Ohne Mungiki wäre ich ein Straßenkind. Ich glaube den Politikern nicht. Wir werden uns niemals wieder manipulieren lassen. Wir sind dabei, uns ganz neu zu formieren.“

Auch Ezechiel Waruinge versichert: „Man kann den Geist der Mungiki nicht töten.“ Bevor ihm eine „göttliche Offenbarung“ widerfuhr, fungierte Waruinge als nationaler Koordinator der Bewegung. In dieser Rolle hatte er sich während des Wahlkampfs in Nairobi mit zahlreichen Politikern getroffen. Einer von ihnen war kein Geringerer als Chris Murungaru, der derzeitige Innenminister, ein Kikuyu, in dem viele den Chef der Mount-Kenia-Mafia sehen. „Ich habe ihm zu seiner Wahl verholfen; doch dann hat er sich wie alle benommen, die in die Regierung eintreten: er ist ein wildes Tier geworden“, klagt Waruinge. „Und er hat sich gegen uns gewandt. Gott wird ihn richten!“

Heute ist Waruinge ein bekannter Vertreter der Evangelisten-Gemeinde Neno. Er will „mit den Jugendlichen, die mir hierher gefolgt sind, denselben Kampf fortführen, aber mit christlichen Methoden, nicht mehr auf die traditionelle Art“. Allerdings gebraucht dieser „Wiedergeborene“ immer noch seinen afrikanischen Vornamen Ndura anstelle des Konvertitennamens Ezechiel; und er wendet sich auch „gegen die Verteufelung der Tradition durch die amerikanischen Evangelisten“. Tatsächlich bereut Waruinge keine Sekunde, Mungiki gewesen zu sein. Doch für viele Mitglieder der Bewegung ist er zum Verräter geworden, der die Bewegung durch seine Absprachen mit Politikern kompromittiert hat.

„Ja, es stimmt, wir haben die Kanu unterstützt“, entgegnet Waruinge, „aber wir haben ihren Kandidaten Uhuru Kenyatta unterstützt, weil er jung war.“ Kenyatta bestreitet freilich jeglichen Kontakt zu den Mungiki. Doch davon lässt sich niemand täuschen. „Die Geschichte der Kikuyu ist eine ständige Wiederkehr von Verrat, seit dem Kampf der Mau-Mau“, erklärt Ndumgi Gotukhu vom Verein „Mulika“, der Aussagen von Opfern der früherer Regime aufzeichnet. „Die Mau-Mau kämpften für ihren Grundbesitz – und am Schluss haben sie nichts bekommen. Die Politiker haben den Mungiki dasselbe versprochen – Versprechungen, die sich in Luft aufgelöst haben. Dennoch ist die Bewegung dabei, sich zu reorganisieren. Und der Mau-Mau-Einfluss ist in der dritten Generation lebendiger denn je.“

Am 4. Oktober 2004, am Weltsiedlungstag, weihte die Regierung von Mwai Kibaki die ersten Bauten eines Sozialwohnungsbauprogramms ein, gemeinsam mit UN-Habitat (der Sitz dieser UN-Organisation ist in Nairobi) und dem Stadtrat von Kibera, dem größten Slum Afrikas südlich der Sahara. Die neuen Sozialwohnungen sollen langfristig die Wellblechhütten ersetzen, in denen heute 700 000 Personen hausen. Für die Präsidentin der UN-Habitat, Anna Kajumulo Tibaijuka, ist das „Kibera Slum Upgrading Project“ ein erster Schritt in die richtige Richtung. „Es wird die Lebensqualität und Arbeitssituation der Leute verbessern. Und es hilft bei der Kriminalitätsbekämpfung, besonders unter den Jugendlichen.“

Dennoch müsse man noch weitergehen, meint Juma Assiago vom „Safer Cities Programme“ der UN-Habitat. „Man muss die soziale Integration fördern und Gewalt als Mittel des sozialen Aufstiegs ablehnen. Die Jugendlichen von Nairobi haben eine regelrechte Parallelgesellschaft mit eigenen Werten entwickelt, wie sich an den Selbstschutzgruppen (Wachtrupps, Bürgerwehren) beobachten lässt. Anstatt die Jugendlichen in die Illegalität zu drängen, sollte man besser beginnen, die „guten Werte“ der informellen Aktivitäten zu honorieren. Und Kontakte zu gesellschaftlichen Institutionen vermitteln, zum Beispiel zur Polizei.“ Aber wird der Staat bereit sein, eine Bewegung anzuerkennen, die ihn in Frage stellt? „Nun, es wäre für die Führung dieses Landes in der Tat eine völlige neue Orientierung.“

Die unstete Geschichte der Mungiki-Miliz ist nicht zu verstehen ohne den Verfall der öffentlichen Sicherheit in Kenias Hauptstadt, deren Bevölkerung pro Jahr um 5 Prozent wächst. Von den Entscheidungen, zu denen die Bewegung jetzt finden muss, wird die Zukunft der Armenviertel abhängen. Und zugleich die Zukunft des Rift Valley, das nach jahrelangen Konflikten um Land und Boden zur Brutstätte ethnischer Zwietracht geworden ist (siehe Kasten).

Sind die Mungiki-Milizionäre die neuen „Unversöhnlichen“, wie die Briten die Mau-Mau-Krieger nannten? Auf die Gewalt der Mungiki angesprochen, zögerte die Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai keine Sekunde: „Wenn die Unterdrückung fortgesetzt wird, wenn man weiterhin unsere Brüder tötet, wird es in diesem Land zum Bürgerkrieg kommen.“

deutsch von Thomas Hartmann

* Journalist und Musikexperte.

Fußnoten: 1 Siehe „Crime in Nairobi, Results of a citywide victim survey“. UNDP/UN-Habitat, September 2002 (www.un habitat.org/safercities). Nach dieser Umfrage von 2001 hielten 98 Prozent der Befragten die Polizei für korrupt. 2 Siehe Edwin A. Gimode, „An anatomy of violent crime and insecurity in Kenya: the case of Nairobi“, In: Africa Development, Dakar 2001. 3 Paul Harris, „Mau Mau returns to Kenya“, Sydney Morning Herald, Sydney (Australien), 17. Januar 2000. 4 Jean-Philippe Remy, „Wangari Maathai, l‘incontrôlable“, Le Monde, 10. u. 11. Oktober 2004. Mit 22 Prozent der Bevölkerung sind die Kikuyu die bedeutendste ethnische Gruppe Kenias, vor den Luhya (14 Prozent), den Luo (13 Prozent) und den Kalenjin (12 Prozent). Uhuru Kenyatta, Führer der Oppositionspartei Kanu, ist ebenso Kikuyu wie Präsident Mwai Kibaki. 5 „Vigilantes, Violence and the Politics of Public Order in Kenya“, in: African Affairs, Oxford, Oktober 2002. 6 Siehe „Physiologie d‘un massacre: la tuerie du 3 mars 2002, Kariobangi North“, in: L‘Afrique orientale, Jahrbuch 2002, Paris (L‘Harmattan) 2003. 7 „Physiologie d‘un massacre“ (Anm. 6). 8 Diese NGO sammelt seit 1996 Zeugenaussagen, Informationen und Beweismaterial über Fälle von Folter und politischer Erpressung unter früheren Regierungen. 9 Marie-Ange Goux, „Guerre des loyers dans les bidonvilles de Nairobi“, in: Politique africaine Nr. 91, Paris, Oktober 2003. 10 Ebd. 11 David Mwenje, ein populärer Politiker der Regierungskoalition und Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Sicherheitsfragen, hat 2003 seine Beteiligung an Aktivitäten der Miliz „Jeshi la Embakasi“ zugegeben. Raila Odinga, Minister für Infrastruktur, ist der Hauptrivale von Präsident Kibaki. Die derzeit diskutierte Verfassungsreform würde ihm gestatten, Premierminister zu werden. 12 Tricia Hoo, „Kenya: the challenge of change“, Export Development Canada, Ottawa, Juni 2004. 13 Laut Africa Confidential gehören zur Mount-Kenia-Mafia auch ehemalige Mitglieder demokratischer Bewegungen, die nach der Präsidentenwahl von 2002 ihre Oppositionsideale für gewisse Machtprivilegien verkauft haben; darunter ist auch der von westlichen Diplomaten besonders geschätzte Justizminister Kiraitu Murungi.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von JEAN-CHRISTOPHE SERVANT