12.06.2009

Mythen der Migration

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Mythen der Migration

„Menschlichkeit ist der wichtigste Eckstein modernen europäischen Grenzmanagements.“ Frontex General Report 2008 von Charlotte Wiedemann

Es war Nacht in Mali, eine Januarnacht, als sich die Nachricht in Windeseile verbreitete. Zuerst blinkten die Displays der Mobiltelefone bei den Aktivisten in Bamako, der Hauptstadt am Niger, dann sprang die Meldung über in die Diaspora, wanderte als Shortmessage durch die überfüllten Wohnheime der afrikanischen Migranten in den Vorstädten von Paris. Keine Unterschrift!, lautete die Nachricht; wer sie erhielt, wusste, was gemeint war. Malis Regierung würde sich am nächsten Tag weigern, mit Frankreich eine sogenannte Einwanderungsvereinbarung zu unterzeichnen. Es ist die vierte Weigerung in Serie; die französische Delegation in Bamako wirft die unterschriftsreifen Dokumente zurück in ihre Koffer.

Auf dem Gebiet der internationalen Migration, ihrer Bekämpfung oder vermeintlichen Steuerung ist die Sicht selten klar; sie wird behindert durch Mythen, Legenden, falsche Annahmen, und obendrein sagen die herrschenden Worte, die Worte des Nordens, selten das, was sie meinen. Die Vereinbarung also, die in Bamako scheiterte, handelte nicht von Einwanderung, sondern von ihrer Verhinderung. Sie sollte Ausweisungen erleichtern und die moralische Verantwortung dafür auf die Seite der Malier abschieben. Die eigenen Bürger zurückzunehmen wie irrtümlich versandte Pakete, dagegen hatte Malis Zivilgesellschaft monatelang agitiert. Zuletzt fürchtete Präsident Amadou Toumani Touré, einst ein Geburtshelfer der Demokratie, den Gesichtsverlust im eigenen Land und bei den vielen Maliern im Ausland. In der globalen Migrationspolitik ist die malische Rochade eine Ausnahme. Es ist nicht üblich, den Ansinnen des Nordens die Stirn zu bieten; die afrikanischen Regierungen lavieren eher, reden im eigenen Land und im Norden oft mit zweierlei Zunge.

Sieben afrikanische Länder haben sich bereits auf bilaterale Vereinbarungen mit Frankreich eingelassen, darunter Tunesien, Senegal, Gabun, Benin und die Demokratische Republik Kongo. Auch das störrische Mali bleibt als „strategisches Teilstück“ auf der Pariser Agenda, nicht zuletzt wegen des malischen Reisepasses: Er erlaubt in der Tradition westafrikanischer Freizügigkeit die visumfreie Einreise in zahlreiche Länder der Region, auch nach Algerien und Mauretanien, die als Transitländer gelten. Der malische Pass wird gern von Schleppern gefälscht, doch auch unverfälscht sind Freizügigkeit und Mobilität in Afrika das Letzte, was Europa gebrauchen kann.

Offener als andere Regierungen zeigt die französische bereits im Namen des federführenden Ministeriums die europäische Marschrichtung an: „Ministerium für Einwanderung, Entwicklungshilfe und nationale Identität“. Die hergebrachte Gleichung des alten Kontinents, „wenig Einwanderung gleich viel nationale Identität“, wird seit drei Jahren angereichert durch eine Mathematik subtiler Erpressung: Entwicklungshilfe als Lohn für Wohlverhalten, genauer gesagt: als Judaslohn für eine Kooperation, die weite Teile der Bevölkerungen des Südens als gegen ihre Interessen gerichtet empfinden.

Wie ein Symbol für leere Versprechen steht in Bamakos modernstem Stadtteil ein rosafarbenes Gebäude: ein Pilotprojekt der Europäischen Union, das erste „Zentrum für Information und Migrationsmanagement“1 auf afrikanischem Boden. Völlig von der EU finanziert, handele es sich gleichwohl, so wird versichert, um eine „rein malische Einrichtung“, deren Aufgabe indes in Brüssel definiert wurde: „Die legale Einwanderung nach Europa erleichtern, indem es die illegale Immigration eindämmt.“ Nicht jeder in Afrika ist mit dieser orwellschen Diktion vertraut; für einen Moment kam vor der Einweihung im Oktober 2008 das heitere Missverständnis auf, Brüssel eröffne ein Jobcenter in der Sahelzone.

Die griffige Formulierung von der Festung Europa ist ihrerseits zum Mythos erstarrt. Die Metapher hat sich überlebt, sie ist zu harmlos. Europa hat keineswegs defensiv seine Brücken hochgezogen. Was einst Grenzschutz hieß, ist heute territorial entgrenzt; das sogenannte integrierte Grenzmanagement findet weit im Vorfeld Europas statt. Wie Deutschlands Interessen bekanntlich am Hindukusch verteidigt werden, so werden Europas Grenzen am Niger und Kongo geschützt.

Die neue Migrationspolitik ist komplex, sie bietet neben polizeilich-militärischen Maßnahmen ein Instrumentarium für Belohnungen und Bestrafungen: Entwicklungsgelder, Entschuldung, Fischereiabkommen, kontingentierte Aufenthaltsgenehmigungen. Aus dem Versuch der Migrationssteuerung entwickelt sich eine neue globale Strukturpolitik, diktiert von den Interessen des Nordens. Ein bemerkenswert ambitioniertes Unterfangen zu einem Zeitpunkt, da sich gerade eine multipolare Welt herausbildet.

Nord- und Westafrika sind allmählich überzogen von einem schwer zu überblickenden Geflecht von Abkommen. Sie wurden bisher meist bilateral abgeschlossen von Italien, Spanien, Frankreich und eilen einer gemeinsamen EU-Politik voraus. Dabei geht es längst nicht nur um klassische Abschiebung: Die sieht hässlich aus und funktioniert oft nicht.2 Besser ist, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat 2008 bei ihren sogenannten Hera-Operationen nach eigenen Angaben 5 969 Migranten, die zu den Kanarischen Inseln unterwegs waren, zurückgescheucht beziehungsweise eskortiert. Den Ablauf berichtet Frontex so: Aufgrund von Abkommen, die Spanien mit Senegal und mit Mauretanien geschlossen hat, seien die Boote der „would-be immigrants“ ab einer bestimmten Distanz von der afrikanischen Küste „umgeleitet“ worden. Verantwortlich dafür sei stets ein senegalesischer beziehungsweise mauretanischer Beamter an Bord des Frontex-Schiffs gewesen.3

Klarer gesagt: Afrikanische Bürger werden von ihren eigenen Staaten an der Ausreise gehindert, nicht nur auf See. Algerien hat in sein Strafrecht bereits das Delikt „illegale Ausreise“ eingeführt. In Ägypten sitzen zahlreiche junge Leute im Gefängnis wegen des Versuchs „illegaler Ausreise“ oder der Anstiftung dazu. Immer mehr Staaten werden gedrängt, ein Delikt einzuführen, das der Westen einst als Inbegriff des Unrechtsstaats geißelte: die „Republikflucht“.

In Nord- und Westafrika führt diese Politik bereits zu tiefgreifenden Verwerfungen. Sie zielt auf die Abschaffung regionaler Reisefreiheit, kriminalisiert jahrhundertealte Traditionen von Arbeitswanderung und schürt Spannungen zwischen Staaten.

Dabei ist Afrika, trotz der dramatischen Bilder und der höchsten Zahl Verunglückter, keineswegs die wichtigste Quelle irregulärer Zuwanderung nach in Europa. Dieser Befund der International Organisation of Migration wird durch jüngste Zahlen von Frontex4 gestützt. Im vergangenen Jahr wurden annähernd gleich viele irreguläre Grenzübertritte an der Seegrenze wie an der Landgrenze der EU entdeckt, und zwar besonders viele an den griechischen Grenzen mit der Türkei und mit Albanien. Und in Spanien, dem europäischen Land mit der vermutlich höchsten Quote irregulärer Arbeitskräfte, sind die meisten Migranten auch nicht aus Afrika gekommen, sondern mit einem Touristenvisum aus Lateinamerika.

Trotzdem hat die irreguläre Einwanderung nach Europa im öffentlichen Bewusstsein ein schwarzes Gesicht. Auf Lampedusa findet der Mythos von der großen Migrantenflut sein mediales Abbild – den Notstand, den die immer weiträumigere Grenzverteidigung wissentlich herbeigeführt hat. Erst wurde die Gibraltar-Route verriegelt, dann die Überfahrt zu den Kanarischen Inseln so erschwert, dass die Migranten immer gefährlichere Routen in immer kleineren Booten wagten. Nun bleiben als Nadelöhr Italien und Malta.

Die Zukunft europäischer Flüchtlingspolitik im Mittelmeerraum ist fern der Kamerapulks zu besichtigen. Der arabische Norden Afrikas soll uns die Schwarzafrikaner vom Hals halten; Mauretanien, Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen werden Europas Cordon sanitaire (Sicherheitsgürtel). Eine soziale Hierarchisierung nach einem altbekannten Farbmuster.

In Mauretanien ist dieses Farbmuster noch sehr gegenwärtig: Die Gesellschaft ist wie keine zweite in Afrika von den Traditionen der Sklaverei geprägt; zwischen den hellhäutigen Mauren und ihren (einheimischen) schwarzen Mitbürgern verläuft ein tiefer Graben. Gerade begann sich das zu ändern, mauretanische Menschenrechtler haben den Kampf gegen den hausgemachten Rassismus aufgenommen. Doch nun sind es die Europäer, die von den Mauretaniern verlangen, Jagd auf Schwarze zu machen. Wer schwarz ist, ist verdächtig, ein Migrant zu sein. Paradoxerweise ist die Einreise eines Schwarzafrikaners nach Mauretanien jedoch legal, als Gastarbeiter ist er sogar erwünscht.

Das riesige dünn besiedelte Mauretanien haben Afrikaner immer schon arbeitssuchend durchwandert. Transitland oder Zielland, das sind Kategorien der Migrationsbekämpfer; die Lebenswirklichkeit hält sich nicht daran. Im subsaharischen Afrika gelten 17 Millionen Menschen als Migranten, doch sind die meisten nicht unterwegs nach Europa. In Westafrika leben 7,5 Millionen Menschen in Ländern, in denen sie nicht geboren sind.5 Viele Menschen zirkulieren für eine unbestimmte Dauer in einem bisher frei zugänglichen Territorium, sie folgen einer inneren „Migrationskarte“, die sich aus den Berichten anderer Wanderarbeiter ständig aktualisiert. Es spricht viel für die Annahme, dass Europa die Summe solch millionenfacher Entscheidungen niemals wird „steuern“ können.

Weil die globale Migration so komplex ist, wird die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise sie kaum nachhaltig reduzieren. Einige schätzfreudige Experten prophezeiten jüngst bereits ein Minus von 30 Prozent. Aber wer seit Jahren unterwegs ist, dreht nicht mitten in der Sahara um. Die Krise schickt Migranten dort nach Hause, wo Freizügigkeit noch möglich ist oder wo sie direkt vertrieben werden. Für viele andere wirkt hingegen der sogenannte Sperrklinken-Effekt: Wer weiß, dass er die Grenzbarriere kein zweites Mal wird überwinden können, klammert sich um jeden Preis am Migrationsland fest. Mittlerweile nimmt auch die Weltbank an, die Transferzahlungen würden nicht in jenem Maße sinken wie zunächst prognostiziert.

Die moralisch wirkmächtigste aller Migrationslegenden trat über Jahre im schmucken Gewand der Humanität auf: Es gelte, die wahren Asylsuchenden zu erretten aus der Flut von Wirtschaftsflüchtlingen. Wer illegale Migration bekämpfe, helfe jenen, die als politisch Verfolgte wirklich des Schutzes bedürften. Das Gegenteil ist wahr. Die Bekämpfung der Zuwanderung hat Asylrecht und Flüchtlingsschutz vielerorts außer Kraft gesetzt.

Auf hoher See, so die Rechtsauffassung von Bundesinnenministerium und Frontex, fände die Genfer Flüchtlingskonvention per se keine Anwendung. Boote im Mittelmeer können deshalb pauschal gestoppt und zum Ansteuern einer Nicht-EU-Küste gezwungen werden. Wer in einem wackligen Boot sitzt, ist per Definition kein Asylbewerber.

Die meisten derer, die auf Malta ankommen, beantragen Asyl. Das sind vor allem Eritreer und Somalier. Dennoch werden auf Malta alle Ankömmlinge unterschiedslos eingesperrt, bis zu 18 Monate. Selbst Traumatisierte kommen oft erst nach einem halben Jahr aus den überfüllten Internierungslagern heraus, von denen eine UN-Komission sagt, die Zustände gefährdeten die geistige Gesundheit der Insassen. Am Ende der Tortur erweist sich, dass viele Eingesperrte wirklich schutzbedürftig waren: 60 Prozent der Asylsuchenden erhalten zumindest den UN-Flüchtlingsstatus.

Am schlimmsten ist es in Libyen. Von Oberst Muammar al-Gaddafi wurde das Land einst für ganz Afrika geöffnet, heute ist es gespickt mit sogenannten Auffanglagern. In Libyen treffen sich fünf Migrationsrouten; das bewog die Berlusconi-Regierung schon 2003, bevor die Sanktionen gegen Libyen fielen, zum ersten Abkommen mit Gaddafi.

In dem italienischen Dokumentarfilm „Come un uomo sulla terra“ (Wie ein Mensch auf der Erde) berichten äthiopische und eritreische Flüchtlinge, was bisher nur aus zweiter Hand bekannt war: Die Offshore-Lösung europäischer Migrationsbekämpfung wird mit schweren Menschenrechtsverletzungen bezahlt.

Im Norden Libyens, in Tripolis oder Bengazi aufgegriffen, werden Flüchtlinge wie Vieh in unbelüfteten Containern 1 500 Kilometer durch die Wüste nach Kufrah transportiert; die Reise dauert zwanzig Stunden, der stockdunkle Container heizt sich auf wie ein Ofen, es gibt keinen Halt und kein Wasser, alle sitzen in Erbrochenem, Kot, Urin, Kinder schreien bis zur Erschöpfung. Nach Monaten der Haft in Kufrah werden sie dann von der libyschen Polizei an die Grenze zum Sudan gebracht – genauer gesagt: Sie werden in einem eingespielten Deal für 20 bis 30 Euro pro Kopf an sudanesische Schlepper verkauft, die den Flüchtlingen gegen etwa 500 Dollar helfen, zurück an die libysche Küste zu kommen. Dort wieder verhaftet geht es zurück nach Kufrah – und so weiter. Manche wurden fünfmal, siebenmal hin und her transportiert, bis ihnen endlich die Flucht nach Italien gelang.

Die Behauptung, in Libyen werde gefoltert, hätte früher kaum einen europäischen Politiker zum Widerspruch gereizt. Nun muss man es so formulieren: Die EU ermuntert zur Folter.

Auf welcher Bedrohungsanalyse basiert eine Politik, die ein humanitäres Desaster für einen akzeptablen Preis hält?

Die EU-Kommission arbeitet offiziell mit einer Ziffer von 4,5 bis 8 Millionen Illegalen in der EU. Wissenschaftler am Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) haben sich die Mühe gemacht zurückzuverfolgen, auf welchen Quellen die behaupteten 8 Millionen basieren. Die Beweiskette sah so aus: Ein Arbeitspapier der Kommission von 2007 berief sich auf die Studie einer Unternehmensberatung, diese berief sich auf eine irische Stiftung, und diese wiederum berief sich auf einen Artikel in Le Figaro aus dem Jahr 2004.

Wie viele irreguläre Migranten aus welchen Ländern sich mit welchen Absichten wo in Europa aufhalten – über all das weiß man erstaunlich wenig. Es gibt nur Schätzungen, oft waghalsige, die auf immer mehr EU-Mitgliedstaaten hochgerechnet werden.

Ein internationales Forscherteam, federführend dabei das HWWI, sucht nach einer solideren Grundlage. Im Rahmen des „Clandestino“-Projekts6 haben Wissenschaftler aus sechs EU-Ländern bisher die Daten aus zwölf EU-Mitgliedstaaten untersucht und wissenschaftlich bereinigt. Für die Gesamt-Union sind so erstmals Schätzwerte mit transparenten Quellen entstanden. Sie liegen unter den offiziell genutzten Zahlen, beziffern die Irregulären zwischen 2,8 und 6 Millionen. Dies wären 0,5 bis 1,5 Prozent der registrierten EU-Bevölkerung. In Deutschland ist die Datenlage besonders schlecht; die Clandestino-Forscher versuchen nun zumindest für eine einzige Stadt, Hamburg, zu besseren Näherungswerten zu gelangen. Da Deutschland mit seinen 82 Millionen Einwohnern rund ein Sechstel der EU-Bevölkerung stellt, tragen die hiesigen Unklarheiten viel zum unklaren Gesamtbild bei.

Die Clandestino-Forschung wird von der Europäischen Kommission finanziert, doch von der Mahnung der Forscher zur Besonnenheit lässt sich die Exekutive nicht aufhalten. In Deutschland wurde jüngst der kabinettsreife Entwurf einer „Visa-Einlader- und Warndatei“ erst nach kirchlichen Protesten zurückgezogen. Wer einen visumpflichtigen Gast einlädt, sollte als potenzieller Schleuser zentral gespeichert werden.

Gepflegte Erschütterung und falsche Vorstellungen

In der Debatte über die ominöse Schleuserdatei fiel indes noch etwas anderes auf. Der hiesigen Öffentlichkeit scheint nicht bekannt zu sein, dass die legale Einreise nach Europa ein Mythos ist, ein Trugbild, das zerrinnt, wenn etwa ein junger Afrikaner oder ein junger Araber danach greift. In weiten Teilen dieser Welt ist es nahezu unmöglich geworden, sich für ein Visum nach Europa zu qualifizieren. Allein Geld schafft Vertrauen. Einem Afrikaner aus einem armen Land traut Europa nur, wenn er reich ist. Afrikas Dekadenz, sie bekommt ein Visum.

Nach einer sich hartnäckig haltenden Legende sind die Folgen von Flucht und Migration „the white man’s burden“. Die progressive Version geht so: Der Zustrom vor allem aus Afrika sei als Strafe für den Kolonialismus zu akzeptieren.

Doch wer in Afrika flieht oder migriert, bleibt meist in Afrika7 . Allein in der Republik Südafrika halten sich laut Schätzungen des nationalen Innenministerium 7 Millionen „Illegale“ auf, davon sind 3 Millionen aus Simbabwe. Südafrika beherbergt mit seinen 47 Millionen Einwohnern also ungefähr so viele Irreguläre wie die gesamte Europäische Union. Was sagte doch der italienische Innenminister über die 31 000 Ankömmlinge im Jahr 2008 auf Lampedusa? „Wir müssen ihnen sagen, dass in Europa kein Platz mehr ist.“

Viel mehr Bootsflüchtlinge als auf Lampedusa kamen im armen Jemen an: 51 091 Menschen waren es im vergangenen Jahr, allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres8 waren es schon fast 20 000. Täglich versuchen Verzweifelte aus dem zerfallenden Somalia die gefährliche Überfahrt, täglich fahren Betreuer im Jemen die Strände ab und begraben angeschwemmte Tote. Der Golf von Aden hat vermutlich schon die Leichen von mehr als 2 000 somalischen Flüchtlingen verschlungen.

Nur notdürftig wird diese humanitäre Katastrophe von den Silhouetten der Kriegsschiffe verdeckt, die in denselben Gewässern auf Piratenjagd gehen. Es war Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der im Kabinett durchsetzte, dass die Bundeswehr ihre gefangenen Piraten in Kenia ablädt – würden sie in Deutschland vor Gericht gestellt, könnten sie Asyl beantragen. Das klingt nur im ersten Moment absurd: Nach dem Irak ist Somalia gegenwärtig das Herkunftsland der weltweit meisten Asylbewerber.9

So fügt sich am Horn von Afrika einiges zusammen: der Schutz von Schiffen und Eigentum des Nordens, die Verteidigung europäischen Territoriums gegen Failed-State-Migranten, die gewollte Blindheit gegenüber einer Flüchtlingstragödie – und die Konstruktion eines neuen Sonderrechts, das einem reichen Land das Entsorgen unliebsamer Häftlinge ermöglicht.

Kenia, weit davon entfernt, die Drahtzieher seiner ethnischen Pogrome nach den letzten Wahlen zur Verantwortung zu ziehen, bekam nun handstreichartig von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung „die Übernahme europäischer Maßstäbe der Strafverfolgung“ attestiert. Nach dem Muster der neuen globalen Strukturpolitik ist damit wiederum ein Drittland geschaffen worden. Der Begriff wurde einst in der Asylrechtsdebatte geboren (in einem „sicheren Drittland“ gibt es per Definition keine politische Verfolgung), geriet von dort in die Bekämpfung der Migration (Hilfspolizist Transitland); nun ist das sichere Drittland in der Strafverfolgung angekommen. Und wieder winkt ein Deal: „Ein armes Land wie Kenia trägt schließlich keinen Schaden davon, wenn es den reichen Europäern aus der Patsche hilft“, meinte die Süddeutsche Zeitung sarkastisch.

Das Erzählen von den dramatischen Odysseen afrikanischer Flüchtlinge wird mit Medienpreisen belohnt. Das europäische Publikum reagiert mit gepflegter Erschütterung; die Exekutive schert das wenig. Gekenterte Bootsflüchtlinge haben in unseren Nachrichten mittlerweile den Routinestatus der Anschlagsopfer vom XY-Markt in Bagdad. Den Sensibelsten im Publikum bleibt ein Gefühl der Scham – und ein moralischer Reflex: die Idealisierung der Migration und die Heroisierung von Migranten. Zumal jener aus Afrika, deren Notlage man zweifelsfrei zu kennen glaubt. Die Reaktion ist verständlich, doch sie nährt sich von Mythen, und es sind dieselben Mythen, die bereits in den afrikanischen Herkunftsgesellschaften Schaden anrichten.

Wahlweise gelten Migranten als die „Besten“, die „Stärksten“ ihrer Gesellschaften, oder als die „Ärmsten“, die „Verzweifeltsten“. Weniges von diesen Superlativen hält Nachprüfungen stand. Die Verzweifeltsten und Ärmsten sind jene, die niemals auch nur in die Nähe eines teuren Schleppertickets nach Europa kommen; sie werden in die innerafrikanischen Flüchtlingstrecks gespült, ohne jede Entscheidungsmöglichkeit. Wer sich aus Subsahara auf die hochgefährliche Reise in den Norden macht, hat hingegen eine Entscheidung getroffen. Sie mag individueller oder kollektiver Natur sein – wenn die ganze Familie, das ganze Dorf das nötige Geld aufgebracht hat. Dass es hingegen die stumme Macht der Verhältnisse sei, die alternativlos in die Migration treibe, „weil wir sonst verhungern“, ist eine Selbststilisierung für die Kameras weißer Fernsehteams.

Der Mythos, es seien die Stärksten und Besten, die weggehen, beleidigt ganz nebenbei all jene, die weiterhin jeden Tag mit der Hacke aufs Feld ziehen – also die Masse der Schwarzafrikaner. Und die Stilisierung schlägt ohne Gnade auf den Migranten selbst zurück, wenn er mit leeren Händen zurückkehrt. Trotz tausendfacher Abschiebungen und tausendfachen Ertrinkens wird ein glückloser Heimkehrer zu Hause als Versager behandelt. Um der sozialen Verachtung zu entrinnen, wird er sich, wenn es nur irgend geht, bald in den nächsten fatalen Reiseplan stürzen. Und niemand mit kühlem Kopf und moralischer Autorität stellt sich ihm in den Weg. Wo sind die afrikanischen Aufklärer, wo sind die Imame, die junge Leute davon abhalten, zu horrenden Schlepperkosten den Routen des Todes zu folgen?

Im muslimischen Westafrika ist die Migration für viele Marabuts, die lokalen muslimischen Autoritäten, ein einträgliches Geschäft. Sie verkaufen Fetische, die beim Überleben auf hoher See und in der Glut der Wüste helfen sollen. Nur ein Nebenaspekt? In Dakar trifft man auf einen jungen Senegalesen, der durch alle Höllen der Migration gegangen ist; dreimal hat er die Überfahrt zu den Kanaren gewagt, links und rechts von ihm starben Dutzende, er warf die Leiche seines besten Freundes über Bord. Am Ende antwortet er auf die Frage, wie er überlebt habe: „Ich hatte den stärksten Fetisch.“

Der italienische Journalist Gabriele del Grande hat in seinen verdienstvollen Recherchen10 die Lebensumstände gescheiterter Migranten rekonstruiert und in ihren Milieus nach den Gründen für die Ausreise geforscht. Er stieß auf ein Bündel von Motiven, keineswegs nur Armut. Oft ist es das Gefühl, Bleiben bedeute, „sein Leben wegzuwerfen, weil es keine Arbeit gibt, weil sich nichts bewegt“. Über einen 22-Jährigen notiert del Grande: „Mit Afrika ist er fertig.“ Korrupte, unfähige Regierungen sehen solche jungen Männer gern gehen: Migration statt Rebellion. So nährt eine verhängnisvolle Allianz die Sucht, bloß wegzukommen: ruchlose Schlepper, geldgierige Marabouts, larmoyante Oberklassen und eitle, kurzsichtige Dorfchefs, die endlich auch eine so große, prächtige Moschee aus Migrantengeld haben wollen, wie sie bereits im Nachbardorf steht.

Gewiss, Migration bewirkt viel Positives. Die Überweisungen der Migranten, mit weltweit 337 Milliarden US-Dollar11 viel höher als die offizielle Entwicklungshilfe, ernähren Millionen Familien, lindern Armut, versorgen viele Dörfer mit dem Nötigsten. Aber es ist eine Hilfe ohne politisches Mandat, sie lindert, schafft keine kollektive, nachhaltige Perspektive für die nächste Generation. Und dass mehr staatliche Entwicklungshilfe Migration überflüssig machen würde, ist wiederum ein Mythos – gut gemeint, aber wissenschaftlich nicht haltbar. Migration nimmt mit steigendem Entwicklungsstand noch zu; ein Wendepunkt, der sogenannte Migrationsbuckel, ist erst bei einem Bruttonationaleinkommen von 4 000 US-Dollar pro Kopf erreicht; davon ist das subsaharische Afrika unendlich weit entfernt.

Europa hat der Migration den Krieg erklärt. Manche junge Migranten sehen sich reziprok als Kämpfer, als Soldaten in diesem Krieg. Ihre verunglückten Kameraden nennen sie „Gefallene“. Doch aus der Parole „Europa oder der Tod!“ spricht eine entsetzliche Resignation; sie ist eine Bankrotterklärung Afrikas. Die Schlacht müsste anderswo geschlagen werden. Wenn die jungen Leute mit der Kraft, dem Wagemut und der Hartnäckigkeit, die sie durch die Sahara und über die Meere treibt, ihren Regierungen entgegenträten. Um ein Leben zu fordern, das es wert ist, nicht auf See weggeworfen zu werden.

Fußnoten: 1 www.cigem.org. 2 „Bisher gibt es keine Hinweise auf einen engen Zusammenhang zwischen der Zahl unterzeichneter Vereinbarungen und der Zahl zurückgeschickter irregulärer Migranten.“ International Organisation of Migration. Bericht „World Migration 2008“, www.iom.int. 3 www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art40.html. 4 Der „Frontex General Report 2008“ nennt 175 000 analysierte Grenzübertritte (eine noch nicht endgültig verifizierte Zahl), davon allein fast 40 000 an der griechisch-albanischen Grenze, wo Albaner routinemäßig deportiert werden, aber rasch zurückkommen. 5 German Institute of Global and Area Studies, Giga Focus 8/2008. 6 irregular-migration.hwwi.net. 7 83 Prozent von circa 10 Millionen afrikanischer Flüchtlinge bleiben auf dem Kontinent (UNHCR 12/2007). 8 UNHCR 3/2009. 9 21 800 im Jahr 2008, nach: UNHCR Briefing Note 3/2009. 10 Gabriele del Grande: „Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer“. Karlsruhe (Von Loeper) 2008. fortresseurope.blogspot.com. 11 IOM-Bericht 2008, siehe Anmerkung 2. Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien: „Ihr wisst nichts über uns! Meine Reisen durch einen unbekannten Islam“, Freiburg (Herder) 2008.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.06.2009, von Charlotte Wiedemann