12.06.2009

Solidarität in Lindsey

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Solidarität in Lindsey

Die britischen Medien, die Bauarbeiter und die Fremden von Seumas Milne

Der portugiesische Außenminister Luís Amado war empört. „Eine solche Diskriminierung kann man nicht hinnehmen“, wetterte er am 2. Februar dieses Jahres: „Die Regierungen müssen das Abdriften in Protektionismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus verhindern, denn das könnte uns in eine noch schwerere Krise hineinziehen.“1 Ähnlich aufgebracht äußerte sich ausgerechnet Italiens Außenminister Franco Frattini über eine „in keiner Weise zu rechtfertigende“ soziale Bewegung, die sich da in Großbritannien breitmache.

Die scharfe Verurteilung der Politiker – und vieler europäischer Medien – bezog sich auf die Aktionen von ein paar tausend Bauarbeitern, die Anfang 2009 in ganz Großbritannien auf Baustellen von Ölraffinerien und Kraftwerken in den Ausstand getreten waren. Ihr Protest richtete sich gegen die Praxis der Unternehmen, einheimische Kräfte bei der Vergabe fester Arbeitsverträge auszuschließen.

Als auf Plakaten bei Demonstrationen „British jobs for British workers“ gefordert wurden, schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Man sah chauvinistische Proteste gegen ausländische Arbeiter aufflammen, und dem sei – nach dem Motto: Wehret den Anfängen – mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Emma Marcegaglia, die Vorsitzende des italienischen Unternehmerverbands Confindustria forderte die Briten unter Berufung auf Margret Thatcher auf, nur ja nicht zuzulassen, dass „rohe nationalistische Instinkte“ die Fundamente des freien Markts ins Wanken brächten. Ins selbe Horn stießen sogar Politiker, von denen man annehmen sollte, dass sie die Aktionen von klassenbewussten Arbeitern eigentlich begrüßen würden.

Olivier Besancenot zum Beispiel, der Sprecher der französischen „Neuen Antikapitalistischen Partei“, stellte die britischen Streiks in eine Reihe „beunruhigender xenophober Vorgänge“. Auch der britische Premierminister Gordon Brown und sein Wirtschaftsminister Peter Mandelson warnten vor den Gefahren der Fremdenfeindlichkeit. Ironischerweise trieften hingegen die reaktionärsten Blätter der britischen Boulevardpresse vor honigsüßem Verständnis für Leute, die sie normalerweise als egoistische Absahner geißeln würden. Dabei hat die Berichterstattung der britischen und internationalen Presse einiges zu den Reaktionen der Politiker beigetragen. Die meisten Berichte stellten nämlich die tatsächlichen Ereignisse, die sich im Übrigen jederzeit wiederholen könnten, irreführend und falsch dar. Überhaupt scheint die Presse durch ihre Darstellung der Wirtschaftskrise und ihrer Folgen die europaweit aufkommenden fremden- und migrantenfeindlichen Gefühle eher anzuheizen, als sie zu entschärfen.

Derek Simpson, Vorsitzender der größten britischen Gewerkschaft Unite, hat die eigentliche Bedeutung der Streiks auf den Punkt gebracht: Bei diesem Konflikt gehe es nicht um Fragen der Herkunft, Rasse oder Zuwanderung, sondern um eine „Klassenfrage“.

Doch zunächst zu den tatsächlichen Ereignissen: Im ostenglischen Lindsey entsteht derzeit eine 200 Millionen Pfund (220 Millionen Euro) teure Entschwefelungsanlage für eine Ölraffinerie, die dem Energieriesen Total gehört. Beim Bau der Anlage wurden Unteraufträge an die in Sizilien ansässige Irem vergeben. Diese setzte bevorzugt italienische und portugiesische Arbeitskräfte ein, die nicht gewerkschaftlich organisiert waren. Die Irem-Arbeiter waren auf einem im Humber liegenden Herbergsschiff untergebracht, wurden jeden Tag zur Baustelle gekarrt und von den übrigen Arbeitern getrennt gehalten. Und diese waren von Anfang an überzeugt, dass das sizilianische Unternehmen den Auftrag nur bekommen hatte, weil es sich nicht an die mit den Gewerkschaften vereinbarten Löhne und Arbeitsbedingungen zu halten brauchte.

Den Vorwurf wies die Firma zurück, ohne ihn jedoch entkräften zu können. Es folgten weitere Fälle mit noch eindeutigeren Beweisen für Lohndrückerei und den Ausschluss einheimischer Arbeiter durch solche Subunternehmen. Im einen Fall handelte es sich um das von der französischen Alstom gebaute Kraftwerk Staythorpe in Nottinghamshire, im anderen Fall um eine Großbaustelle des deutschen Energieriesen Eon auf der Isle of Grain (Grafschaft Kent), wo polnische und spanische Arbeiter eingeflogen wurden. Daraufhin breiteten sich die wilden Streiks über die gesamte Branche und geografisch von Südwales bis zum Nordosten Schottlands aus. Binnen weniger Tage waren mehr als zwanzig Kraftwerke und Ölraffinerien in ganz Großbritannien lahmgelegt.

Diese Aktionen waren allesamt illegal. Nach den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen, die aus der Thatcher-Ära stammen und unter New Labour beibehalten wurden, sind Solidaritätsstreiks prinzipiell verboten. Doch angesichts des hohen Organisationsgrads der Branche und der überaus öffentlichkeitswirksamen Aktionen wagte keines der betroffenen Unternehmen eine Klage gegen die beiden Gewerkschaften, die hinter den Arbeitsniederlegungen standen.

Andererseits konnten die Gewerkschaften sich auch nicht offen an die Spitze der Streikbewegung setzen, ohne Sanktionen zu riskieren. Angesichts dieses Vakuums trugen einige der Streikenden anfangs die besagten Plakate mit dem Spruch „British jobs for British workers“ – eine Anspielung auch auf Regierungschef Gordon Brown, der sich zynischerweise diesen Slogan der extremen Rechten auf dem Labour-Parteitag von 2007 zu eigen gemacht hatte.

Das Streikkomitee hat diese Forderung zu keinem Zeitpunkt formuliert, sondern immer zwei Punkte betont: Erstens sollen alle Bewerber, unabhängig von ihrer Nationalität, dieselben Chancen haben, und zweitens sollen die mit den Gewerkschaften ausgehandelten Vereinbarungen in jeden die Bauarbeiten betreffenden Arbeitsvertrag aufgenommen werden.

Im Übrigen waren die nationalistisch eingefärbten Slogans bei den Streikposten in Lindsey nach zwei Tagen verschwunden und durch Plakate ersetzt, die auf Italienisch die italienischen Arbeiter zum Mitstreiken aufforderten. Irgendwo sah man sogar das Motto „Workers of the world unite!“ Anfangs bestand tatsächlich die Gefahr, dass der Konflikt auf chauvinistische Abwege geraten könnte, aber dazu kam es nicht. Und Trittbrettfahrer der rechtsradikalen British National Party (BNP) ließen die gewerkschaftlichen Organisatoren sofort abblitzen. Vor allem aber machten die Streikenden nicht etwa die ausländischen Arbeiter zum Sündenbock, sondern zogen Regierung und Unternehmer zur Verantwortung.

Die wahre Stoßrichtung der Aktionen zeigte sich auch an den hunderten von polnischen Migranten, die sich an der Arbeitsniederlegung im Kraftwerk Langage in Plymouth beteiligten: Es ging gar nicht um eine Vorzugsbehandlung einheimischer gegenüber ausländischen Arbeitern, sondern darum, dass die Zeitarbeiter aus dem Ausland und die in Großbritannien lebenden Arbeiter nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Das Missverständnis als Methode

In den Köpfen der britischen Meinungsmacher hatte sich die Mär von einer akuten protektionistischen Gefahr und vom latenten Rassismus der Arbeiterklasse so festgesetzt, dass die Berichterstattung entsprechend eingefärbt wurde. Zum Beispiel zeigten die Abendnachrichten des BBC-Fernsehens einen Streikposten, der über die italienischen und portugiesischen Arbeiter sagte: „We can’t work alongside of them“ (wir können nicht Seite an Seite mit denen arbeiten). Aber der zweite Teil des Satzes war weggeschnitten, und der lautete: „Wir werden von ihnen getrennt gehalten.“ Damit war die Aussage des Mannes auf den Kopf gestellt, denn derart verkürzt erweckte der Satz den Eindruck, die einheimischen Arbeiter würden sich weigern, mit ihren ausländischen Kollegen zusammenzuarbeiten. Ähnlich operierten die Reporter von Boulevardzeitungen, die Streikposten dazu bringen wollten, sich mit der britischen Flagge fotografieren zu lassen.

„Die Berichterstattung über die Streiks beruhte auf einer Fehlwahrnehmung“, versichert McDowall, ein Vertrauensmann der Gewerkschaft Unite in Kraftwerk Lindsey. „Wir wollten mit unserer Aktion einfach die Errungenschaften und Arbeitsbedingungen verteidigen, die wir uns in vielen Jahren erkämpft haben, also Löhne, Sozialleistungen, Gesundheits- und Sicherheitsstandards – und dafür werden wir uns auch weiterhin einsetzen. Mit Fremdenfeindlichkeit hatte das überhaupt nichts zu tun.“

In der Lindsey-Raffinerie endete die Kraftprobe mit einer Vereinbarung: Erstens stehen die Arbeitsplätze bei dem umstrittenen Subunternehmen künftig auch in Großbritannien ansässigen Bewerbern offen, ohne dass Italiener oder Portugiesen deshalb ihren Job verlieren. Zweitens erhalten lokale Gewerkschaftsvertreter das Recht, die Lohn- und Arbeitsbedingungen der importierten Arbeiter zu überprüfen. Und auch die Abschottung der italienischen und portugiesischen Arbeiter wurde bereits beendet. Der Streik hat also die Spannungen zwischen britischen und ausländischen Arbeitern nicht verschärft, sondern im Gegenteil dazu beigetragen, dass sie jetzt miteinander kommunizieren können. Damit wird es für die Unternehmer schwerer, die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen.

Die Auseinandersetzungen in Staythorpe und auf der Isle of Grain gehen trotzdem weiter. Und auch auf der gigantischen Baustelle des Olympischen Dorfes im Londoner Osten wird es vermutlich zu Streikaktionen kommen. Selbst der Konflikt in Lindsey kann jederzeit wieder aufflammen, denn hier liegen inzwischen Beweise dafür vor, dass der Subunternehmer Irem gegen die Vereinbarungen mit den Gewerkschaften verstoßen und billige, gering qualifizierte Arbeitskräfte eingestellt hat, während gleichzeitig den Facharbeitern in der Raffinerie die Entlassung droht.

Inzwischen wächst der allgemeine Unmut gegen die von New Labour jahrelang betriebene neoliberale Politik, die mit ihrem Deregulierungswahn eine Abwärtsspirale auch bei den Löhnen in Gang gesetzt hat und durch die Wirtschaftskrise restlos diskreditiert ist. Hintergrund der Streiks war nicht nur die steigende Arbeitslosigkeit, sondern auch die fortschreitende Erosion des hoch gelobten „europäischen“ Gesellschaftsmodells. Eine besondere Rolle spielte dabei die berühmte Entsenderichtlinie der EU2 , die angeblich die Arbeiter vor genau der Sorte Sozialdumping durch Leiharbeiter schützen sollte, die den Kern des Konflikts in Großbritannien ausmachte. Denn die Regierung in London hat auch diese EU-Richtlinie in der denkbar schwächsten Fassung verabschiedet, indem sie für Kontraktarbeiter aus der EU lediglich einen Mindestlohn und arbeitsrechtliche Minimalstandards festlegte.

Dabei wurden in letzter Zeit sowohl die Entsenderichtlinien als auch die Rechte der Beschäftigten überhaupt durch eine Reihe von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ausgehöhlt. Insbesondere in den als unsozial und arbeitnehmerfeindlich kritisierten Urteilen zu den Fällen Laval, Viking und Rueffert verschob der EuGH die Gewichte weiter zugunsten der Freiheit der Unternehmen.3 Die Regierung Brown hat in den letzten Monaten trotz gegenteiliger Bekundungen alle Versuche vereitelt, die Auswirkungen der EuGH-Urteile abzuwehren.

Das neoliberale Denken, die wichtigste Hinterlassenschaft der Thatcher-Ära, hat das Prinzip hire and fire untermauert. Auch deshalb treten die Konflikte in Großbritannien deutlicher zutage als andernorts. Dass europäische Unternehmen Arbeiter scharenweise in alle Ecken des Kontinents entsenden, wo sie abgeschottet auf Schiffen oder in Wohnheimen leben, während lokale Kräfte ihre Arbeit verlieren, galt allzu lange als fortschrittliches Erfolgsrezept oder neuerdings auch als notwendige Voraussetzung für einen Produktivitätszuwachs, der Europa aus der Rezession helfen soll. Aber dieses Konzept ist nicht nur absurd, es wird auch angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und der durch Deregulierung entstandenen Krise nicht mehr hingenommen.

In den Arbeitsniederlegungen bei den Raffinerien und Kraftwerken artikulierte sich der Protest gegen dieses Konzept. Vor dem Hintergrund, dass im ganzen Land jeden Monat mehr als 100 000 Arbeitsplätze verloren gehen, mussten die gewerkschaftlich gut organisierten Facharbeiter zusehen, wie sich ihre Aussichten auf einen sicheren Arbeitsplatz auf den neuen Baustellen des Kraftwerksektors in Luft auflösten. Und zwar weil sich die Unternehmen angesichts wachsender Arbeitslosigkeit und Verunsicherung unter den Beschäftigten die Konkurrenzprinzipien der EU zunutze machen konnten, während undurchsichtige Subunternehmen ihre Arbeitskosten senken konnten.

Die europäischen Verbände der Bau- und Chemiearbeitergewerkschaften haben diesen Zusammenhang verstanden. Sie sehen die britische Streikserie als Ausdruck einer umfassenderen Wut über die geltenden EU-Bestimmungen, die die Bedürfnisse der Unternehmen und des Kapitals über die der Beschäftigten stellen.

Und wie steht es mit der Gefahr von rechts? Die Mitte-links-Regierungen mehrerer EU-Länder haben es versäumt, die Interessen der Arbeiterklasse wahrzunehmen – und damit der extremen Rechten den Weg gebahnt. Etwas Ähnliches kann auch hier passieren: Wenn die Medien und die politische Klasse weiterhin Arbeiter als fremdenfeindlich hinstellen, nur weil sie sich zusammentun, um ihre Jobs und ihren Lebensstandard zu verteidigen, dann könnten sie am Ende dazu beitragen, dass ihre Prophezeiung wahr wird.

Fußnoten: 1 Le Monde, 4. Februar 2009. 2 Es handelt sich um die (nach Frits Bolkestein benannte) „Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen“. Dass sie den Missbrauch zumindest nicht ausschließt, zeigt die Forderung von SPD und DGB nach einer „Klarstellung“ der Entsenderichtlinie, um das Prinzip gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort zu sichern. 3 Vgl. Anne-Cécile Robert, „Die Klempner von Europa“, in Le Monde diplomatique, März 2009. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Seumas Milne ist Journalist beim Guardian, London.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2009, von Seumas Milne