Koks für die Welt
Wie der Drogenhandel Staaten in Lateinamerika zerstört von Adriana Rossi
Über Luft und Meere, über Grenzen und Kontrollen hinweg erstrecken sich die Handelsrouten für Drogen von einem Kontinent zum anderen. Der Drogenhandel globalisiert sich, er gewinnt an Boden, und seine Macht wächst, indem er ganze Staaten unterwandert.
Mit Verkehrs- und Kleinflugzeugen, mit Booten, Schiffen, sogar U-Booten1 werden Drogen massenhaft von Südamerika nach Norden, nach Afrika und Europa geschafft. Viele Transporte werden über geheime Landepisten abgewickelt – allein in Venezuela2 wurden letztes Jahr 223 solcher Rollfelder unbrauchbar gemacht. Auch über kommerzielle Flughäfen und Flussläufe im Urwald gehen die Frachten, der größte Teil aber – immerhin 78 Prozent des Drogenhandels3 – wird über die großen Seerouten des Welthandels und ihre Häfen transportiert.
Die wichtigsten Korridore für Drogen aus Lateinamerika verbinden die Andenregion, das heißt insbesondere Kolumbien, mit ganz Mittelamerika, Mexiko und der Karibik, samt Venezuela und Guayana. Relativ neu ist der „euroafrikanische“ Korridor, der von Kolumbien, Venezuela, Guayana und Brasilien auf der einen Seite nach Togo, zu den Kapverden, nach Nigeria und Guinea-Bissau auf der anderen führt. Im kleinen Guinea-Bissau haben sich die kolumbianischen Drogenbosse eingenistet. Von dort werden Kokainlieferungen nach Westeuropa und Russland, Asien und Australien weiterverschickt.
Das in Lateinamerika angebaute und verkaufte Marihuana4 bedient nach Schätzungen der Vereinten Nationen zusammen mit dem ebenfalls aus der Cannabis-Pflanze gewonnenen Haschisch einen Markt für 165,6 Millionen Konsumenten weltweit.5 Auch das überwiegend in Kolumbien und Mexiko produzierte Heroin wird vor allem in die USA geliefert6 .
Die Droge aber, die die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht und gegen die die USA einen kontinentalen Kreuzzug entfesselt haben, ist das Kokain, das weltweit von etwa 16 Millionen Menschen konsumiert wird. Die Produktion ist in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent angewachsen, der Verbrauch in Europa und Lateinamerika hat weiter zugenommen. In Lateinamerika ist es vor allem als Crack und Cocapaste („Freebase“) verbreitet, während es in den USA einen Abwärtstrend im Kokskonsum gibt, der auf die Ausbreitung von Designerdrogen wie Ecstasy und Methamphetamin („Crystal“) zurückzuführen sein dürfte.
Hinter der Erzeugung und dem Handel stehen Organisationen, die sich den Entwicklungen der globalisierten Märkte und den Offensiven des Antidrogenkriegs anzupassen wussten. Die Zeiten der kolumbianischen „Marimberos“, die bis in die 1980er-Jahre den Vertrieb von Marihuana kontrollierten, sind längst vorbei. Sie wurden verdrängt von den in den Kartellen von Cali und Medellín zusammengeschlossenen Drogenbaronen, die den lateinamerikanischen Markt mit Stoff aus ihrer Produktion überschwemmt haben. Bis dieser Hydra in den 1990er-Jahren die Köpfe abgeschlagen wurden, kontrollierte sie das Kokaingeschäft, das das bei weitem rentabelste und noch heute einflussreichste Business der Branche ist.
Als die Kartelle zerschlagen waren, mussten sich die Drogenhändler auf dem Kontinent neu aufstellen. Der Schwerpunkt verschob sich in ein anderes Land, nämlich nach Mexiko, während der Handel sich geografisch weiter verteilt und gewissermaßen „demokratisiert“ hat. So entstand eine neue Landkarte des Verbrechens.
In Kolumbien arbeiten zwischen 150 und 300 Firmen rund um den Kokain-Produktionszyklus. Sie liefern 62 Prozent des weltweit konsumierten Kokains.7 Ihre Strukturen sind klein bis mittelgroß, geheim, unsichtbar. Sie arbeiten vernetzt, verfügen über legale Deckfirmen, deren Eigentümer das Leben honoriger Manager führen. Die meisten von ihnen sind Leute aus der zweiten Reihe im einstigen Führungspersonal der beiden großen Kartelle.
Sie entschieden sich dafür, niedrigere Gewinne und geringere Marktpräsenz gegen mehr Sicherheit einzutauschen. Sie gaben die Kontrolle über Teile der Vermarktung ab und überließen den Verkauf an die Konsumenten (einschließlich des Straßenverkaufs, der die rentabelste Stufe der Handelskette ist) anderen Organisationen, vor allem mexikanischen8 .
Das einzige noch existierende kolumbianische Drogenkartell ist das Cartel del Valle del Norte, eine Abspaltung des aufgelösten Cali-Kartells. Es unterhält enge Beziehungen zum Kartell von Sinaloa, einem der mächtigsten Drogensyndikate in Mexiko. Die Kolumbianer haben sich mit einer untergeordneten Rolle als Lieferanten oder als Berater und Experten abgefunden.
Mit ihren sieben Kartellen wurden unterdessen die Mexikaner zu den Protagonisten des Drogenhandels9 , nicht nur wegen der umgeschlagenen Menge, sondern auch dank ihrer Allianzen mit mächtigen Organisationen auf anderen Kontinenten, wie der „Russenmafia“ oder der kalabresischen ’Ndrangheta (die Europa von Italien aus mit Kokain überschwemmt). Zudem stehen sie weltweit im Ruf großer Grausamkeit. Als Herren über den Markt für Marihuana, Kokain und Heroin aus Kolumbien und Mexiko sowie den für Methamphetamin haben sie ihre Zweigstellen in vielen Ländern etabliert – entweder über eigene Repräsentanten oder über die im Zuge der Neuverteilung der Rollen hinzugekommenen Mittelsmänner.10
Die mexikanischen Kartelle sind nach Mittelamerika vorgedrungen, wo sie nicht nur die Transportwege absichern, sondern auch neue Absatzmärkte aufbauen wollen. Dabei nutzen sie lokale kriminelle Strukturen wie die „Maras“. Das sind Straßengangs, die ausgegrenzte und entwurzelte Jugendliche versammeln, sich an einen eisernen Verhaltenskodex halten und zu jedem Verbrechen bereit sind.11
In Peru haben die Drogenhändler Land aufgekauft, in Chile und Argentinien sind sie aufgetaucht, um Geschäftspartner zu suchen, Plantagen unter ihre Kontrolle zu bekommen, Labors einzurichten, Chemikalien für die Produktion zu erwerben und Geld zu waschen – weil dort die Kontrollen nicht so streng sind. Neben den kolumbianischen und mexikanischen gibt es noch andere, auf ihrem Staatsgebiet sehr mächtige Organisationen, etwa die brasilianischen Drogenbanden, von denen einige in den Gefängnissen entstanden sind, wie das berüchtigte Comando Vermelho und dessen Ableger, die sich der Favelas von Rio de Janeiro bemächtigt haben.
In São Paulo operiert das Primeiro Comando da Capital. Entstanden aus dem Kampf für die Rechte der Strafgefangenen, entwickelte es sich zu einer Gefängnisbruderschaft, die alle möglichen Verbrechen begeht und unter anderem im Drogenhandel mitmischt. Im Sommer 2006 hielt dieses Kommando die ganze Stadt in Geiselhaft. Zu all diesen Organisationen kommen dann noch die unzähligen lokalen Banden mit Mitgliedern verschiedener Nationalitäten sowie winzige Familienunternehmen.
Überall auf dem Subkontinent trifft man auf italienische, nigerianische und osteuropäische Verbrecherbanden. Sie sind die notwendigen Bindeglieder für die Internationalisierung des Geschäfts. Neben den großen Labors gibt es noch die „Drogenküchen“, wo mit primitiven Methoden minderwertiger Stoff für den wachsenden Binnenmarkt produziert wird. Das ist die Logik des Weltmarkts: Die hochwertigen Produkte sind fast immer für den Export und die Konsumenten in den reichen Ländern bestimmt.
Gier als Ordnung Angst als Legitimation
Dieses gut vernetzte Universum breitet sich horizontal aus, nicht nur über seine kleinen Strukturen, sondern auch über die großen wie die Kartelle. Paulino Vargas komponiert „Narcocorridos“, die vor allem in Mexiko beliebten, von den Bossen in Auftrag gegebenen Drogenballaden. Mit Wehmut erinnert er sich an den legendären Amado Carillo Fuentes alias „Herr der Himmel“, der als Chef des Kartells von Juárez (Mexiko) ein Imperium kontrollierte. „Heute gibt es keine Chefs mehr, die man besingen kann“, sagt Vargas. Die Bosse von heute sind eben nicht mehr die absolutistischen und charismatischen Herrscher von einst, niemand schreibt ihnen mehr besondere Eigenschaften wie großartige Männlichkeit und außergewöhnlichen Mut zu. Die verschiedenen Gruppen mit ihren kleinen Bossen arrangieren sich untereinander, und jede hat einen gewissen Spielraum. Wer sich nicht an die Abmachungen hält, zahlt mit dem Leben und entfesselt einen Bandenkrieg.
Diese Tendenz scheint zur Regel geworden zu sein. Alle Organisationen haben sich in Netzwerke aus klandestinen Zellen verwandelt, die leicht ersetzt werden können, wenn sie auffliegen. Der Ausfall einer Zelle beschädigt das große Ganze nicht. So kommt man ohne vertikal durchorganisierte Pyramiden aus und erleichtert die territoriale Ausbreitung. Die Drogennetzwerke sind wie eine ungeheure Nebelbank, die aus zahllosen kleinen, nach Arbeitsbereich und Kompetenz ausdifferenzierten Teilen besteht. Ihre Mitarbeiter rekrutieren sich zum einen Teil aus den Vergessenen dieser Welt, Menschen ohne soziale Einbindung, feste Arbeit und Hoffnung; zum anderen Teil aus Angehörigen der verschiedensten sozialen Schichten, die auf schnell und vermeintlich leicht verdientes Geld aus sind.
In diesem Universum ziehen auch Freiberufler und Geschäftsleute ihre Kreise. Getrieben von Angst und der Gier nach dem ganz großen Geld, bieten sie Verbrechern ihre Dienste an und agieren in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität. Allerdings herrschen hier strenge Regeln, Ausnahmen werden nicht gemacht, Schwächen nicht geduldet, nichts und niemand darf die bestehenden Organisationen, Netzwerke, Transportrouten und Abläufe gefährden. Jeder Verstoß wird mit gezielt zur Schau gestellter, ja barbarischer Grausamkeit geahndet.
Das Markenzeichen des Drogenhändlers ist die Gewalt. Im Bestreben, wirtschaftliche, politische oder soziale Legitimität zu erlangen, bedient er sich ihrer, um Ordnung in seinem Reich zu schaffen, Leute zum Schweigen zu bringen, seine Kontrolle auszuweiten. Die Gewalt steht im Dienst der in diesem Geschäft geltenden Logik: Spitzel werden nicht geduldet. Ebenso wenig erlaubt ist es, Drogen oder Geld in die eigene Tasche zu stecken, Pflichten zu vernachlässigen, Abmachungen zu brechen oder Fehler zu begehen. Desertieren ist genauso verboten wie der Versuch, sich selbständig zu machen oder aus dem Geschäft zurückzuziehen: Das sind blauäugige Träume von Leuten, die glauben, dass sie sich zur Ruhe setzen können, sobald sie genug Geld gescheffelt haben.
Gewalt ist auch das übliche Mittel bei internen Führungskonflikten oder Kämpfen um die Kontrolle von Märkten und Gebieten. Aus solchen Gründen brechen oft richtige Kriege aus, so wie derzeit in Mexiko. Mit Gewalt wird jeder Gefahr und jedem Hindernis begegnet. Journalisten, Gewerkschafter, Opinion Leaders, Richter, Polizisten, Politiker, jeden und jede können die brutalen Aktionen der Narcos treffen.
Die Einschüchterungen, Exekutionen, Massaker und Attentate bringen nicht nur Feinde – manchmal endgültig – zum Schweigen. Sie sind zugleich Machtdemonstrationen, Warnungen an die Adresse der Gesellschaften und Regierungen, um sich politisch durchzusetzen oder um einfach klarzumachen, dass man sich mit Narcos nicht anlegen soll. Gewalt äußert sich auch in den sozialen Säuberungen und schmutzigen Kriegen, oft mit stillschweigender Zustimmung von Regierungen, die aus Rücksicht auf ihr demokratisches Image davor zurückschrecken, selbst zu derartigen Mitteln zu greifen.12
Mit solchen Gewaltakten werden ad hoc gegründete Milizen beauftragt, gedungene Söldnergruppen, Paramilitärs oder Killerkommandos, die auch international arbeiten. Diese Leute kehren nach getaner Arbeit ins Land ihrer Herkunft zurück, wo ihnen genauso wie ihren Auftraggebern Straflosigkeit garantiert ist. Das organisierte Verbrechen trägt, wie der Krieg, den Tod über Grenzen.
Zur Ausübung von Gewalt braucht man Waffen. Die mexikanischen Kartelle füllen ihre Arsenale, indem sie sich in den Waffenhandlungen der USA eindecken, wo der Verkauf frei ist, und alles auf Ameisenpfaden über die nördliche Grenze schaffen. Dieser Waffentransfer zwischen den USA und Mexiko wird auf ein Gesamtvolumen von jährlich 22,4 Millionen US-Dollar geschätzt.13 Dazu gehören auch schwere Waffen, Raketenwerfer, Granatwerfer, Sturmgewehre und Panzerfäuste.
Im Süden des amerikanischen Kontinents sind viele Länder in komplizierte Dreiecksgeschäfte verwickelt: Surinam, Guayana, Kolumbien, Brasilien, Argentinien, Paraguay und, so wird vermutet, Uruguay. Häufig werden Waffen gegen Drogen getauscht, Drogen gegen Waffen, Gold gegen Waffen und Drogen. Die Waffen stammen aus Europa, den USA und Israel, aus lateinamerikanischen Waffenschmieden (wie die argentinischen Fal-Sturmgewehre) oder Armeebeständen, wie in Brasilien.14 Oft sind Offiziere der nationalen Streitkräfte direkt in die Geschäfte verstrickt, so auch der frühere Diktator von Surinam (1980–1987), Desiré Delano Bouterse, und dessen Sohn. Die Waffen werden bei den Drogenkriegen in Rio de Janeiro und São Paulo eingesetzt und von den über Brasilien verteilten kriminellen Organisationen benutzt, zum Beispiel von der Gruppe, die den Marihuanaanbau im „Polígono da Maconha“ im Bundesstaat Pernambuco kontrolliert.
In Kolumbien sind mit diesen Waffen zunehmend irreguläre Truppen ausgerüstet, wie die Paramilitärs von der AUC, die nie ganz demobilisiert wurden, und die Guerilla der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (Farc), die ihren Schmuggel entlang der durchlässigen und unsicheren Grenzen Kolumbiens betreiben. Der Krieg in Kolumbien spiegelt wie der in Afghanistan eine nicht von der Hand zu weisende Realität wider: Es gibt Kriege, die zum größten Teil durch Drogenhandel in Gang gehalten und finanziert werden.
Der Drogenhandel zeichnet von Land zu Land unterschiedliche Krisenszenarien: In Mexiko stellt er ein Problem der inneren Sicherheit dar. Weil die brutalen, kriminellen Banden nicht in den Griff zu bekommen sind, ist das Land nur noch einen Schritt vom „Failed State“ entfernt. Im strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Kolumbien, Ecuador und Venezuela sorgt er für eine regionale Destabilisierung.
Durch die Korruption, die er mit geschaffen hat und immer weiter nährt, trägt der Drogenhandel zur Erosion von Staaten bei. Er vergiftet Volkswirtschaften, Gesellschaften und politische Systeme. Er entsteht, wächst und lebt aus den Krisen: Krisen der Sozialstrukturen, in denen das Band der Solidarität gerissen ist und soziale Dämme nicht mehr halten; wo jeder sich selbst der Nächste ist und Gewalt geschürt wird. Krisen von Staaten, die nach Jahren der neoliberalen Politik demontiert sind und wo kriminelle Strukturen an die Stelle von funktionierenden Institutionen getreten sind; Krisen bankrotter Volkswirtschaften, die ihr Heil oder ihre Linderung im Kapital des organisierten Verbrechens suchen – schon vor vielen Jahren haben die kolumbianischen Drogenbosse angeboten, gegen gewisse Zugeständnisse, die Auslandsschulden des Landes zu begleichen.
Die derzeitige Politik der Konfrontation und Repression gegenüber dem Drogenhandel ist Teil des Problems geworden. Es werden Erfolge verkündet, die nie erzielt wurden, Fehlschläge verborgen, die doch offenkundig sind, Zahlen manipuliert, die wahren Ziele hinter dem angeblichen Kampf um Gesundheit und Wohlergehen der Menschen verborgen. Damit wird ein Phänomen begünstigt, das in einer für Unterwelteinflüsse überaus empfänglichen institutionellen Struktur entstanden und groß geworden ist: Das organisierte Verbrechen in Lateinamerika hat seine Macht aus der Schwächung der legalen verfassungsmäßigen Gewalten bezogen und sich in einem Prozess der Kriminalisierung der Politik und Politisierung des Verbrechens ausgebreitet. So können Gesellschaften sich am Ende auflösen und Demokratien jeden Inhalt verlieren.
Adriana Rossi ist Philosophin, Mitarbeiterin von Flare (Freedom, Legality and Rights in Europe) und Professorin an der Universidad Nacional de Rosario in Argentinien. © Le Monde diplomatique, Ausgabe Cono Sur