Mit der Krise ein neues Europa
Die Realität hat das Regelwerk der EU längst überholt Von Frédéric Lordon
Nichts fürchten die Verfechter der ökonomischen Globalisierung so sehr wie das Eingreifen „der Politik“. Deshalb fordern sie in der aktuellen Krise nichts weniger als eine allgemeine Weltregierung. Sie haben nämlich kapiert, dass dies der sicherste Weg ist, um ihre Ruhe zu haben, sprich: von keiner Regierung behelligt zu werden.
In dieselbe Richtung, wenn auch etwas dezenter, argumentieren viele akademische Ökonomen, die sich nun plötzlich über die „Exzesse“ des Liberalismus empören und neuerdings nur noch auf globale Regulierungen schwören. Jawohl, letzten Endes muss alles im weltweiten Maßstab koordiniert werden – auch wenn das, zugegeben, eine gewisse Zeit braucht. Der Hinweis auf die Unendlichkeit des globalen Horizonts dient diesen Ökonomen als Vorwand für die heuchlerische Taktik, jegliches politische Eingreifen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben – natürlich unter größtem Bedauern.
Aber auch Ökonomen und Politiker, die ernsthaft von einer politischen Globalisierung träumen, um die wirtschaftliche Globalisierung zu ergänzen und gegen Krisen abzusichern, entfernen sich von den realen Gegebenheiten. Es gibt nämlich einschränkende Bedingungen, die sowohl für den Aufbau von „guten“ Regulierungsinstitutionen gelten als auch für deren wirksames Funktionieren – und zwar im Sinne der ökonomischen Effektivität dieser Institutionen wie zum Beispiel ihrer politischen Fähigkeit, die beschlossenen Regeln umzusetzen.
Die wichtigste einschränkende Bedingung ist historisch gewachsen: Der Kapitalismus, besser: die verschiedenen Kapitalismen haben sich innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens entwickelt. Anders ist es auch nicht vorstellbar, denn starke Institutionen können nur von einer geeigneten Machtinstanz geschaffen werden, und die wiederum muss auf einem funktionierenden, politisch verfassten Gemeinwesen basieren.
Aber wo ist der Weltstaat, der über eine vergleichbare Machtbasis verfügen würde? Es gibt ihn nicht, und zwar aus einem simplen Grund: Auf globaler Ebene existiert kein echtes politisches Gemeinwesen, kein globaler „Sozialkörper“, der über die Macht verfügte, die sich die Nationalstaaten mit der Zeit – und zuweilen mit gewaltsamen Methoden – zugelegt haben.
Eine auf regulierende Institutionen gestützte Einhegung des Kapitalismus setzt voraus, dass die – globale – Ebene der Märkte wieder mit der politischen Ebene der institutionellen Strukturen verbunden wird. Also muss das globale Marktgeschehen auf die institutionelle Ebene „heruntergeholt“ werden, wobei es auch möglich sein muss, institutionelle Strukturen auf die Ebene der globalen Ökonomie „hochzuziehen“.
Der Gipfel doktrinärer Dummheit
Damit bieten sich quasi automatisch transnationale Gebilde und Regionen als die neue territoriale Ebene an, auf der die begonnenen, aber noch schwach entwickelten politischen Experimente erprobt werden könnten. Die EU ist in dieser Hinsicht unter allen Regionalgebilden der Welt das beste und zugleich schlechteste Beispiel: Einerseits ist hier die Integration mittels Institutionen am weitesten fortgeschritten; andererseits hat der aktuelle ökonomische Einbruch die Konstruktionsfehler des EU-Gebäudes gnadenlos und in quasi fotografischer Schärfe ausgeleuchtet.
Obwohl diese Mängel schon lange, ja von Anfang an für alle erkennbar waren, wurden sie ständig und gewohnheitsmäßig geleugnet. Das war so lange möglich, wie sich die gesellschaftlichen Zerstörungen noch in Grenzen hielten und mit der Zeit als Dauerzustand und alltägliche Normalität empfunden wurden. Damit ist es jetzt vorbei. Angesichts des singulären Charakters und der Wucht der voll ausgebrochenen Krise wären alle bislang üblichen Reaktionen nur lächerlich: das Verniedlichen der Lage, die Phrase von den unvermeidlichen „Opfern“, die Mahnung zur Geduld, die sich später „auszahlen“ werde.
Deshalb tut sich gerade jetzt eine politische Chance auf, wie sie die Geschichte nur selten bietet. Was im erkalteten Normalzustand unvorstellbar war, erscheint in der glühenden Esse der Krise wieder möglich: die Destruktion dieses EU-Europas, um ein neues zu schmieden.
Aber muss man diese EU überhaupt kaputt machen? In mancherlei Hinsicht könnte man den Eindruck haben, sie sei schon tot, ohne dass sie es selbst gemerkt hätte. Aber wie dem auch sei, neuerdings hat es den Anschein, als tue die Brüsseler Kommission als die Kerninstitution der EU alles in ihrer Macht Stehende, um das Ableben der Union möglichst bald verkünden zu können.
Den Gipfel doktrinärer Dummheit hat dabei die EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes erklommen. Ihr Beitrag zu der großen Debatte über die Finanzkrise bestand darin, dass sie – mit einmaligem Gespür für den historischen Augenblick – im November 2008 verkündete, dass die Finanzspritzen in Höhe von 10,5 Milliarden Euro, die der französische Staat zur Rekapitalisierung von sechs Banken (BNP Paribas, Crédit Agricole, Banque Populaire, Crédit Mutuel, Société Générale und Dexia) beschlossen hatte, einen Verstoß gegen die heiligen Gesetze des freien, schrankenlosen Wettbewerbs darstellten.1
Nun kann man ohne weiteres zugeben, dass Kommissarin Kroes auf dem Papier und formalistisch betrachtet nicht ganz unrecht hatte. Tatsächlich sind in Artikel 107 des fabelhaften Vertrags von Lissabon direkte staatliche Beihilfen untersagt. Und dieser Artikel ist nicht der einzige, der im Geist der damals herrschenden Rette-sich-wer-kann-alles-geht-kaputt-Mentalität ein wütendes Verdikt gegen jegliche Staatsintervention enthält.
Aber Tatsache ist auch, dass im Herbst 2008 die europäischen Regierungen, am Rande des Abgrunds stehend, gar keine andere Wahl hatten, als sich von den alten Dogmen zu verabschieden. Aber natürlich hatten sie wenig Neigung, ihre vertragswidrigen Maßnahmen offen zu thematisieren, weil sie hofften, nach dem Höhepunkt der Krise – und einem verzeihlichen Anfall von Gedächtnisschwund – rasch wieder zur gewohnten europäischen Rechtsordnung zurückkehren zu können.
Man sollte allerdings nicht allzu genau hinsehen, denn was die Bestimmungen über die grundlegenden Ordnungskonzepte betrifft, präsentiert sich der EU-Vertrag ungefähr so intakt wie ein tapferer städtischer Rasen am Sonntagabend nach einem verregneten Rugbyspiel. Auch der Artikel 123, der es der Europäischen Zentralbank (EZB) eigentlich untersagt, Kredite an „Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten“ zu vergeben, hat die EZB nicht daran gehindert, der Regierung Ungarns mit einem Kredit von 5 Milliarden Euro auszuhelfen, obwohl Ungarn nicht einmal der Eurozone angehört.
Ähnliches gilt für die Artikel 101 und 102 über den Wettbewerbsschutz, die den Erwerb einer marktbeherrschenden Stellung untersagen und ganz allgemein marktwidrigen Konzentrationsprozessen in der Wirtschaft entgegenwirken sollen. Aber auch diese Artikel stellten keinerlei Hindernis dar für die Operationen zur Restrukturierung des Bankensektors. Diese Operationen wurden im Übrigen gerade von den Regierungen am stärksten gefördert, die eine Möglichkeit zur Entlastung ihrer eigenen Kassen vor allem darin sahen, dass sie die Übernahme der am meisten geschwächten Banken durch etwas weniger schwache organisierten.
Die Kommissarin muss beide Augen zudrücken
Wie die hektischen Übernahmen der Fortisbank durch BNB Paribas in Frankreich, der HBOS durch Lloyd TSB in Großbritannien und der Dresdner Bank durch die Commerzbank in Deutschland zeigen, hat sich der Prozess der „Konsolidierung“ im Bankensektor außergewöhnlich beschleunigt, seit die Beteiligten demonstrativ darauf verzichten, die Genehmigung der europäischen Instanzen einzuholen – und das in einer Branche, bei der normalerweise alle Anträge genauestens unter die Lupe genommen und einige vielleicht abgewiesen worden wären.
Kommissarin Kroes ist also bereit wegzuschauen, während die Banken direkt unter ihrem Fenster Monopoly spielen. Aber man kann von ihr schwerlich erwarten, dass sie auf Dauer ihre Existenz verleugnet und damit das Amt eines EU-Wettbewerbskommissars überflüssig macht. Interessant ist, an welchem Punkt die EU-Kommissarin schließlich aufbegehrte: beim Artikel 107, der Staatshilfen verbietet. Denn in der Hierarchie der marktwidrigen Schandtaten sind die des Staates immer die schlimmsten. Frau Kroes findet es natürlich von Übel, wenn die Artikel, mit denen ökonomische Konzentrationsprozesse eingedämmt werden sollen, nicht mehr ernst genommen werden. Aber ausnahmsweise kann sie mit sich reden lassen, denn die Ausnahme wird ja vonseiten des Kapitals gewünscht. Und die Vertreter der Privatwirtschaft werden schon wissen, was sie tun, auch wenn man sie gelegentlich milde ermahnen muss.
Anders beim Staat! Es ist völlig logisch, dass es die Staatshilfen waren, die nach allen übrigen Verstößen gegen den Europäischen Vertrag das Fass zum Überlaufen und die Wettbewerbskommissarin zum Rebellieren brachten. Aber die Welt ist nun mal schlecht und die Mitgliedstaaten sind undankbar. Ausgerechnet Länder wie Deutschland, Schweden oder Belgien, die beim Ausbau des Europäischen Hauses keinen Spaß verstehen, ließen Frau Kroes wissen, es sei in ihrem Interesse, noch etwas länger vergesslich zu sein.
Jetzt aber betrat, um die üblen Folgen staatlicher Eingriffe noch drastischer zu beschwören, der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung die Bühne. Herr Joaquín Almunia erinnerte daran, dass nach Artikel 126 des EU-Vertrags und nach den Vorschriften des Euro-Stabilitätspakts die staatlichen Haushaltsdefizite den Grenzwert von 3 Prozent nicht überschreiten sollten. Mitten in der Rezession des Jahrhunderts.
Man muss schon lange überlegen, um den Wahnwitz, der die Kommission derzeit befallen hat, in treffenden Bildern beschreiben zu können. Vielleicht ein Rettungsfahrzeug, das von der Polizei gestoppt wird, weil es auf der Fahrt zum Unfallort bei Gelb über die Ampel gefahren ist. Oder ein Flugzeug mit dem letzten Tropfen Sprit, das nicht landen darf, weil es abgelaufenen Joghurt an Bord hat?
Natürlich ist wie immer in solchen Fällen Verlass auf die Hundertprozentigen, die mit der Stimme ihres Herrn das ewige Klagelied vom Anwachsen der Haushaltsdefizite und damit der öffentlichen Schulden singen. Als ob man das nicht wüsste! Dass die Mobilisierung astronomischer Haushaltssummen uns die Krise mit öffentlichen Mitteln überbacken serviert, das beunruhigt uns doch alle. Aber so tickt eben der gesunde Menschenverstand: Man will lieber später eine mögliche Krise als sofort einen sicheren Tod.
Mit anderen Worten: Zeit gewinnen ist das Einzige, was den Staaten noch verblieben ist, um die Katastrophe einzudämmen. Und das ist nicht wenig. Manchmal kann Zeitgewinn auch die Rettung bedeuten. Zur selben Zeit schnüren die USA, die offenbar weit besser als die Europäer wissen, vor welchem Abgrund sie stehen, ein Konjunkturpaket mit einem Volumen von 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wo liegt der Irrtum?
Zur Entschuldigung der bemitleidenswerten EU-Kommissare muss man allerdings einräumen, dass diese Situation das europäische Bauwerk tatsächlich juristisch zum Wackeln bringt. Die Artikel 101, 102, 107, 123 und 126 sind keine nebensächlichen Bestimmungen. Wenn die Ideologen dieses Europas ihre intellektuelle Redlichkeit nicht mehr gar so eng sehen – für die Juristen gilt das noch lange nicht; denn die sind für die Kohärenz des Rechtssystems zuständig. In dem Moment, da vitale und allgemein menschliche Interessen uns dazu bringen, die rechtlichen Grundlagen der EU leichten Herzens zu verletzen, muss man sehr rasch entscheiden, was mit diesem EU-Rechtsrahmen geschehen soll. Der Gedanke jedenfalls, dass man Rechtsbestimmungen nach Belieben aus- und anknipsen kann, dürfte kaum die spontane Billigung der Juristen finden.
Wenn die Krise in einigen Jahren verdaut sein wird und die Dinge sich wieder normalisiert haben, wird sich eine interessante Frage stellen: Welche Argumente könnten die Brüsseler Kommission und vor allem der Europäische Gerichtshof einem Antragsteller für die „kalte Übernahme“ einer Bank entgegensetzen, wenn sich dieser auf Präzedenzfälle wie die Fusion von Fortis/BNP Paribas und HBOS/Lloyd TSB berufen kann?
Die Schwäche übermäßig „verrechtlichter“ institutionellen Rahmenwerke ist, wie das Paradebeispiel EU zeigt, ihre mangelnde innere Flexibilität. Jeder Versuch, in einem akuten Notfall die Straße sozusagen neben dem Zebrastreifen zu überqueren, schafft ein juristisches Problem. Dagegen ließe sich einwenden, dass altes Recht durch neues korrigiert wird und dass neue Richtlinien genau dazu da sind, die alten weiterzuentwickeln. In jedem Fall aber werden die bestqualifizierten Juristen überprüfen müssen, ob die neuen Rechtsnormen gültig und korrekt zustande gekommen sind. Und das gilt nicht nur für neue Regelwerke, sondern auch für Ad-hoc-Bestimmungen, die also nur zeitweilig gelten und wieder aufgehoben werden können.
Doch im Fall der EU ist ein grundlegender Einwand zu machen: Was sind Rechtsvorschriften wert, die so wenig durchdacht sind, dass man sie bei der ersten ernsthaften Krise außer Kraft setzen muss? Das kann doch nur heißen, dass die fraglichen Artikel – und viele andere dazu – von Grund auf neu gefasst werden müssen. Und dass die aktuelle Krise für eine solche Revision der ideale Zeitpunkt wäre.
Lasst uns alle Pöbel werden
Hätte zum Beispiel die französische Regierung auch nur einen Funken historischen Bewusstseins, würde sie diese einmalige Chance nutzen und eine positive politische Krise auslösen. Eine solche Krise ist so brutal wie notwendig, und sie wäre ebenso zumutbar wie wünschenswert. Denn jetzt könnte man das Eisen wirklich schmieden, solange es heiß ist, und all das ändern, was im kalten Dauerzustand so lange jedem Bearbeitungsversuch widerstand – man denke an die klaren Nein-Voten zur EU-Verfassung. In dieser Krise ließe sich hingegen das europäische Haus endlich auf ein neues Fundament stellen.
Dass ausgerechnet eine rechte Regierung Protagonist eines solchen Kraftakts werden könnte, verleiht dem Ganzen zusätzlichen Charme. Die Präsenz eines Nicolas Sarkozy an der Spitze des Staats dämpft natürlich die Erwartungen, da man ein gewisses Missverhältnis zwischen seinen Ankündigungen und seinem tatsächlichen Handeln ja kennt. Die Bühne steht bereit, und beim geringsten Hinweis auf einen möglichen Erfolg der EU-Reformer würde er sich sofort auf deren Seite schlagen. Zumal die Chance, dass die Sozialdemokraten die Initiative ergreifen, gegen null geht. Die würden im Gegenteil eine solch schändliche Bewegung mit allen Mitteln bekämpfen, denn sie sind der Überzeugung, dass jeder Angriff gegen die heutige EU gegen die EU insgesamt gerichtet ist.
In ihrer derzeitigen Verfassung scheint die Europäische Union alles zu tun, um auch noch ihre aufrichtigsten Verteidiger zu vergraulen, die ohnehin seit langem in tiefster Seele leiden. Als wollte sie selbst die Impulse für nationale Abschottungstendenzen setzen, die von anderer Seite ausbleiben.
Da eine solche Entwicklung als Resultat einer wahnsinnigen, abenteuerlichen Politik jeden Tag wahrscheinlicher wird, drängt sich fast schon die Frage auf: Wäre es nicht gerade im Sinne der europäischen Idee sehr wünschenswert, dass sich eines schönen Tages der „Pöbel“ – ich meine natürlich: „die europäischen Bürger“ – versammeln und sich direkt an die Wahnsinnigen wenden, die dieses Europa kaputt gemacht haben.
Frédéric Lordon ist Ökonom. Autor zuletzt von „La crise de trop. Réconstruction d’un monde failli“, Paris (Fayard) 2009. Der Artikel ist ein Auszug aus diesem Buch.