Von Panama bis Caracas
DER Kolumbienplan, der im Herbst 2000 zwischen der US-Regierung und Bogotá vereinbart wurde, hat den Kampf gegen die kolumbianischen „Narkoterroristen“ zur Chefsache, also zur Sache Washingtons gemacht. Doch während das Land keineswegs befriedet wurde, hatte der Plan unerfreuliche Folgen für die Nachbarländer. Panama wurde zum Fluchtziel nicht nur vertriebener Kolumbianer, sondern auch des Drogenkapitals. Und Venezuela wie Panama fühlen ihre Souveränität bedroht, seit US-Soldaten und kolumbianisches Paramilitär an ihren Grenzen operieren – und zuweilen auch über die Grenzen hinweg.
Von HERNANDO CALVO OSPINA *
Nach einem Bericht der UN-Handels- und Entwicklungskonferenz war Panama im ersten Halbjahr 2004 (mit Singapur, Belgien und Luxemburg) das Land, in das die meisten Auslandsdirektinvestionen geflossen sind.1 Was der Bericht allerdings nicht erwähnt, ist der Ursprungsort dieses Kapitals, das die panamaische Konjunktur beflügelt – nämlich Kolumbien. Für Iván Ruiz (Unternehmer) und Orlando Mendieta (Direktor des Finanzmagazins Capital financiero) ist der Kapitalzustrom nach Panama eine der Folgen des zwischen Washington und Bogotá vereinbarten Kolumbienplans.2 Und in der Tat hatte die Zunahme der bewaffneten Auseinandersetzungen, die der Plan in Kolumbien auslöste, eine Kapitalflucht zur Folge. Offizielle Angaben dazu gibt es kaum, aber Kenner der Szene versichern, dass neben „legalem Kapital“ massenhaft Gelder „sehr spezieller Herkunft“ ins Land strömen.
Die Banken, größtenteils Filialen US-amerikanischer und europäischer Institute, schauen weg. Alexis Rodríguez, Dekan der Amerika-Universität (Udelas) in Panama-Stadt, meint: „Der Einmarsch des (US-amerikanischen) Militärs 1989 erfolgte unter dem Vorwand, die Wirtschaft von Drogenkapital zu säubern. Aber niemand hat entsprechende Nachforschungen angestellt. Washington wird das Thema nötigenfalls erneut aus der Schublade ziehen, um Regierungen zur Räson zu bringen, die sich seiner kontinentalen Herrschaftsstrategie widersetzen.“ Und ein Aspekt dieser Strategie, die Panama zum Verhängnis werden könnte, ist der Kolumbienplan.
Im Elendsquartier Curundú von Panama-Stadt, das unweit der luxuriösen Wohngegenden der Hauptstadt liegt, ist von den Investitionen aus Kolumbien nicht viel zu sehen. Hier stranden seit 25 Jahren lediglich mittellose Kolumbianer, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. In den vergangenen Jahren sind es erheblich mehr geworden. Nicht wenige Panamaer haben heute das Gefühl, dass die Neuankömmlinge ihnen die wenigen verbliebenen Arbeitsplätze wegnehmen und sie mit ihren Drogen, ihrer Gewalt und ihrem Elend „überfluten“.
Unbestreitbar ist, dass mehr Drogen auf den Markt gekommen sind, dass Kolumbianer Straftaten begehen und dass sie den Einheimischen bisweilen den Arbeitsplatz streitig machen, weil sie auch Schwarzarbeit annehmen. Unbestreitbar ist jedoch auch, dass die Negativfolgen der Einwanderung vielfach übertrieben werden, um die Unfähigkeit des Staats zu kaschieren, die sozialen Probleme, also die wahren Ursachen für die verbreitete Delinquenz, zu lösen. In dem 2,8 Millionen Einwohner zählenden Land sind 35 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeitslos3 – und das nicht erst seit dem Jahr 2000, in dem der Kolumbienplan beschlossen wurde.
Die kolumbianische Guerilla suchte seit je Zuflucht im Nachbarland Panama, das ihnen als Ruhezone und Nachschubbasis diente. Aber das ging nie zu Lasten des Wirtschaftslebens oder der einheimischen Bevölkerung, wie damals die panamaische Zeitung La Prensa schrieb: „Manchmal tauchten sie hier auf, wenn sie vor der Armee flüchteten, aber sie kehrten stets nach Kolumbien zurück.“4 Diese Aussage bestätigte auch der Chef der Nationalpolizei.5
Als die Paramilitärs mit Unterstützung der Sicherheitskräfte Ende der 1980er-Jahre begannen, Zivilisten zu massakrieren, die sie für Verbündete der Guerilla hielten, flohen viele Kolumbianer nach Panama. Als dann der Kolumbienplan unter Dach und Fach war, kontrollierten die Paramilitärs praktisch die ganze Grenze. Dies erlaubte ihnen, Kokain und Heroin in die Vereinigten Staaten zu exportieren.
„Die Probleme an der Grenze fingen an, als die Paramilitärs kamen“, bestätigt Universitätsdekan Alexis Rodríguez. „Sie kamen nicht auf der Suche nach Guerilleros herüber, sondern um jeden zu eliminieren, der sich weigerte, mit ihnen zusammenzuarbeiten, egal ob Panamaer oder Kolumbianer.“ Was Rodríguez behauptet, wird durch Tatsachen gestützt: Im Oktober 2000 kam bei einem Überfall auf Nazaret, rund zehn Kilometer von der Grenze entfernt, ein kleines Mädchen ums Leben, zehn Säuglinge wurden verletzt. Bei einem Angriff auf den Flecken Yala am 18. Januar 2003 wurden drei Häuptlinge der Kuna-Indios ermordet. Die kolumbianische Regierung beeilte sich, die Schuld auf die Guerilla zu schieben, doch die Paramilitärs bekannten sich ganz offen zu ihrer Aktion.
Angesichts der zunehmenden Gewalt verkündete die kolumbianische Außenministerin Carolina Barco, die beiden Länder seien übereingekommen, „den Informationsaustausch zu intensivieren und die Grenzpatrouillen zu verstärken, um die linksextremistischen Rebellen ebenso wie die rechtsextremistischen Paramilitärs abzuschrecken“6 . Faktisch richtet sich die „Abschreckung“ jedoch gegen all diejenigen, die in Panama Zuflucht suchten. Amnesty international forderte in einem Brief vom 21. April 2003 die Staatspräsidenten Álvaro Uribe und Mireya Moscoso auf, „Ermittlungen über die Entführung und das Verschwinden zweier kolumbianischer Flüchtlinge einzuleiten, die von Mitgliedern der Polizeisondereinheit und des panamaischen Geheimdienstes festgehalten wurden“7 . Laut amnesty international wurden die beiden Männer gefoltert; anderen Flüchtlinge wurde angedroht, man werde sie an die Paramilitärs ausliefern.
Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen (UNHCR) hat beiden Staaten vorgeworfen, gegen internationale Flüchtlingsabkommen zu verstoßen – vergeblich. Auf einer Pressekonferenz am 25. April 2003 in Genf bestätigte UNHCR-Sprecher Ron Redmond, dass die Behörden Panamas weiterhin Kolumbianer festnehmen und vielfach gewaltsam nach Kolumbien verschleppen. Die kolumbianischen Behörden siedeln die Flüchtlinge regelmäßig in Gebieten an, die von den Paramilitärs kontrolliert werden, und kümmern sich nicht weiter um ihre Sicherheit. Nach einem gemeinsamen Bericht der kolumbianischen und panamaischen „Defensorías del pueblo“ (Verteidiger des Volks) aus dem Jahr 2003 behauptet der Chef der Nationalpolizei von Panama, Carlos Barés, es käme einer „Unterstützung von Kollaborateuren der Guerilla“ gleich, wenn man die kolumbianischen Flüchtlinge nicht deportieren würde.
Lange Zeit wahrte Panama im innerkolumbianischen Konflikt eine gewisse Neutralität, doch seit der Kolumbienplan in Kraft trat, änderte die Regierung Mireya Moscoso, von 1999 bis 2004 im Amt, ihre Position. Einige Beobachter gingen nach dem Torrijos-Carter-Abkommen von 19778 davon aus, dass die Sicherheit des Kanals eigentlich durch die Neutralität Panamas garantiert werde. Doch seit einiger Zeit üben die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand, die Region vor dem „internationalen Terrorismus“ und dem „Drogenterrorismus“ zu schützen, verstärkten Druck auf den Kanalstaat aus.
Wie aber sollte sich Panama gegen Aggressionen von außen wehren, wo doch das Land keine eigene Armee besitzt? Die Verteidigungsstreitkräfte Panamas wurden nach der US-amerikanischen Militärinvasion mit der Bezeichnung „Operation gerechte Sache“ im Dezember 1989 aufgelöst und durch bloße Ordnungskräfte ersetzt. Die Antwort findet sich in den Torrijos-Carter-Abkommen: Dann müssen eben die USA einspringen. Der mit dem Panamakanalvertrag unterzeichnete Neutralitätsvertrag ermächtigt Washington zu einseitigem Eingreifen, wenn die Neutralität oder die Sicherheit des Kanals bedroht sein sollte.
In einer Fernsehsendung am 29. September 2004 auf dem panamaischen Canal 4 fragte die Moderatorin ihre Gäste in Erinnerung an den Angriff auf die Stadt Nazaret im Oktober 2000: „Wer zwingt uns, im Kolumbienkonflikt mitzumischen? Und aus welchen Gründen? Welchen Zusammenhang gibt es mit dem Kolumbienplan?“ Darauf antwortete die ehemalige Innenministerin Mariela Sagel: „Dieser Angriff ereignete sich während einer aggressiven Kampagne, die sowohl von Kolumbien als auch von den Vereinigten Staaten ausging, um die Grenzstaaten zur Mitarbeit am Plan zu bewegen. Ich glaube, dass auf Panama und Venezuela, die sich als Erste gegen eine Mitwirkung aussprachen, Druck ausgeübt wird. Mit dem Angriff auf Nazaret wollen sie uns zur Mitarbeit zwingen.“
Daraufhin die Moderatorin: „Man könnte also sagen, dass daran die kolumbianische Armee, amerikanische Kreise und die Paramilitärs interessiert sind, die auf die ein oder andere Weise die Anordnungen internationaler Institutionen und Militärapparate befolgen.“ Die Exministerin konnte dies nur bestätigen und meinte: „Sie wissen ja, dass es in den Vereinigten Staaten diverse Behörden gibt, die sich mitunter nicht absprechen. Es kommt vor, dass die Behörde, die sich um die Paramilitärs kümmert, andere Pläne verfolgt als zum Beispiel das Außenministerium.“
Im März 2003 lud der damalige Oberkommandierende des für Mittel- und Südamerika zuständigen US Southern Command, General James Hill, nach Miami zu einer Tagung ein. Thema war die Sicherheit des Kontinents, im Mittelpunkt stand die Frage, wie die Region vor der „kolumbianischen Gefahr und dem Terrorismus im Allgemeinen“ zu schützen sei. Einleitend meinte Hill, Panama sei von einer „drogenterroristischen Invasion“ aus Kolumbien bedroht, weshalb die USA mit Panama neue Möglichkeiten des Grenzschutzes erörtern müssten. Eine davon sei eine zweite Phase der „Operation Neue Horizonte“. Wie ein Assistent des Generals ausführte, denkt man dabei an zivile Aktionen, an denen „in erster Linie Ärzte und Ingenieure“ beteiligt seien – aber auch anderes Personal: „Die Anwesenheit von US-Militär könnte die bewaffneten Gruppen aus Kolumbien in die Flucht schlagen, obwohl die Soldaten nur humanitäre Aufgaben haben.“
Auch Hill präzisierte, die Vereinigten Staaten bildeten die panamaische Polizisten zwar nur zu Grenzschutzaufgaben aus, doch dann stellte er klar, dass „eine drogenterroristische Invasion die Staatssouveränität berührt, und das ist eine militärische Angelegenheit“. Im August fand unter Leitung des US Southern Command das Seemanöver „Panamax“ statt, an dem sich außer Panama auch Argentinien, Chile, Kolumbien, die Dominikanische Republik, Honduras und Peru beteiligten. Ziel der Übung: die Verteidigung des Panamakanals gegen einen Terrorangriff.
Am 16. November 2004 wurde der Oberkommandierende des US Southern Command Jack Gardner in Panama gesichtet. Auf die Frage erstaunter Journalisten, was denn der Grund für seine Anwesenheit sei, versicherte der hochrangige Militär: „Wir beraten die Regierung bei der Umsetzung einiger humanitärer Projekte.“9 Drei Tage zuvor hielt sich auch US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Panama auf, er jedoch in offizieller Mission. In den Augen des ehemaligen Arbeitsministers von Panama, Mitchell Doens, bestätigte der Staatsbesuch Rumsfelds, „dass Panama Teil des ‚regionalen Verteidigungssystems‘ unter Führung der Vereinigten Staaten ist, keineswegs aber sein eigenes Sicherheitskonzept und seine eigenen Interessen verfolgt“. Doens kritisiert die von Expräsidentin Mireya Moscoso unterzeichneten, aber von früheren Regierungen10 ausgehandelten Sicherheitsabkommen, „die den amerikanischen Zivil- und Militärbehörden souveräne Handlungsbefugnisse einräumen und ihnen gestatten, Territorium, Luftraum und Territorialgewässer wie auch die Grenzen, den öffentlichen und privaten Kommunikationsverkehr, den Zoll und die Einwanderungsbehörden zu überwachen“.
Iván Ruiz, früher Offizier der von Torrijos organisierten Verteidigungsstreitkräfte, äußert eine ganz bestimmte Befürchtung: „General Omar Torrijos hat den Kanal früher, als dieser noch Eigentum der Vereinigten Staaten war, als unsere fünfte Grenze bezeichnet. Da ich nicht sehe, wie sich die Regierung unter Martin Torrijos [Sohn von General Torrijos, am 2. Mai 2004 zum Staatspräsidenten gewählt] den US-Plänen widersetzen sollte, könnte es durchaus sein, dass die fünfte Grenze erneut entsteht, diesmal in Gestalt von Militärbasen, um uns in den Kolumbienkonflikt hineinzuziehen.“
In seinem Bericht vor dem Streitkräfteausschuss des US-Repräsentantenhauses am 24. März 2004 behauptete General James Hill, Oberkommandierender des US Southern Command, dank des Kolumbienplans verzeichne der kolumbianische Staatspräsident Álvaro Uribe „eindrucksvolle Fortschritte im Kampf gegen die Drogenterroristen“ und sei dabei, sein Land wieder zu einem „friedfertigen und sicheren Staat“ zu machen.11 Gleichzeitig griff er den venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez scharf an, ohne ihn allerdings beim Namen zu nennen: Der „Radikalpopulismus“ werde zu einer „wachsenden Bedrohung der Region, unter anderem weil er „antiamerikanische Gefühle“ ausbeute. Damit kritisierte er indirekt, dass sich Venezuela nicht am Kolumbienplan beteiligt.
In der Tat ließ Hugo Chávez bereits kurz nach seinem Amtsantritt verlauten, Venezuela werde sich im Kolumbienkonflikt neutral verhalten und nur Initiativen unterstützen, die eine friedliche Lösung versprechen. Unter allen Umständen müsse man eine „Vietnamisierung“ der Region vermeiden. Entsprechend verweigerte Chávez, wann immer er dazu aufgefordert wurde, die Beteiligung Venezuelas am Kolumbienplan.
Der venezolanische Oberstleutnant Héctor Herrera Jiménez, Vorsitzender der bolivianischen „zivil-militärischen Allianz“, wirft Kolumbiens Staatspräsident Uribe vor, durch seine Mitarbeit am Kolumbienplan lasse er es zu, dass „sein Land im Rahmen der neokolonialen US-Strategie in der Andenregion zum militärischen Aufmarschgebiet wird“. Anders Venezuela, denn nach Ansicht von General Melvin López, Generalsekretär des venezolanischen Verteidigungsrats, ist die „bolivianische Revolution ein Stein im Schuh dieses Projekts, weil sie auf internationaler Ebene politisch unabhängig agiert und eine regionale Führungsrolle einnimmt“.
Faktisch werde Venezuela durch den Kolumbienplan militärisch in die Zange genommen. Oberstleutnant Herrera Jiménez ergänzt: „Um die gegenwärtige Entwicklung in Venezuela zu neutralisieren, laufen von Kolumbien aus militärische Operationen geringer Intensität, verdeckte, geheime und nichtkonventionelle Militäraktionen gegen venezolanisches Staatsgebiet.“ Übereinstimmend meinen die beiden Militärs, dass der Kolumbienplan darauf angelegt sei, Venezuela sozial, wirtschaftlich, politisch und militärisch zu destabilisieren, damit das Land am Ende in Gewalt versinkt und unregierbar wird.
Ausgangspunkt der gegen Venezuela gerichteten Operationen sind mehrere kolumbianische Militärbasen sowie ein Stützpunkt auf der Insel Aruba, den Washington von den Niederlanden gepachtet hat. Am meisten beunruhigt die Venezolaner derzeit jedoch eine Militärbasis auf dem Gelände der Ölgesellschaft Occidental Petroleum in Saravena in der kolumbianischen Provinz Arauca, die an den venezolanischen Bundesstaat Apure grenzt. Hier sind 400 Soldaten von US-Sondereinheiten und privaten US-Militärunternehmen stationiert, erläutert General Hidalgo:12 „Wir wissen, dass sie nicht nur kolumbianische Soldaten, sondern auch Paramilitärs ausbilden. Und die Paras kommen über die Grenze, um unsere Bürger anzugreifen, Verbrechen zu begehen und unsere Streitkräfte zu provozieren.“
Die schwach besiedelte Arauca-Provinz weist von allen kolumbianischen Gebieten die stärkste Militärpräsenz auf. Doch zusätzlich zum regulären Militär haben sich hier seit Ende 2001 immer mehr Paramilitärs etabliert. Nachdem sie tausende von Einheimischen ermordet und die Überlebenden verjagt hatten, siedelten sie in Zusammenarbeit mit der Armee in vielen Dörfern andere Menschen an. Solche „Wehrsiedlungen“ nach dem Vorbild Vietnams oder Guatemalas entstanden vor allem nahe der Grenze und entlang der Ölpipeline von Caño Limón nach Coveñas. In den Monaten um den gescheiterten Staatsstreich gegen Hugo Chávez im April 2002 waren die Paramilitärs auch auf venezolanischem Staatsgebiet aktiv.
Guerilleros gehen unbewaffnet einkaufen
AM 17. Oktober 2004 wurden in Guasdualito nahe Saravena fünf Soldaten und eine Ingenieurin einer Ölgesellschaft ermordet. Keine 24 Stunden später machte die kolumbianische Regierung die Farc für den Anschlag verantwortlich. „Die Pressemitteilung enthielt eine Menge Details“, meint Oberstleutnant Jiménez, „ganz so, als seien sie bereits vorher bekannt gewesen. Wir haben herausgefunden, dass es sich bei den Tätern um Paramilitärs handelte.“
Die kolumbianische Regierung und die meisten Medien in beiden Ländern lassen keine Chance aus, die Guerilla für Angriffe auf die venezolanische Bevölkerung verantwortlich zu machen und Staatspräsident Chávez der Untätigkeit zu zeihen. Die Guerilla wiederum sieht in der Neutralität von Chávez eine gute Sache und leugnet auch nicht, für „einige verurteilenswerte Aktionen“ gegen Zivilisten verantwortlich zu sein. Sowohl die Farc als auch die Nationale Befreiungsarmee (ELN) bekräftigen jedoch, dass ihre Strategie in den letzten zehn Jahren darauf angelegt war, keine militärischen oder wirtschaftlichen Aktionen gegen benachbarte Länder durchzuführen und sich nicht in deren politisches Leben einzumischen, in der Hoffnung auf „Gegenseitigkeit und Respekt“.
Liborio Guarulla, Gouverneur des venezolanischen Bundesstaats Amazonas, erklärt: „Die Guerilleros sind nicht die Ursache der Unsicherheit. Wenn sie über die Grenze kommen, dann um Einkäufe zu tätigen und stets unbewaffnet. Die Paramilitärs hingegen machen uns Probleme: Sie sind so grausam, dass die kolumbianischen Indios bis zu uns herüberflüchten.“
In den Bundesstaaten Zulia und Táchira geht der Konflikt auf Kosten der beiderseits der Grenze lebenden Menschen und stört überdies den traditionellen grenzüberschreitenden Tauschhandel. Der Leiter des Nationalen Grenzrats, Feijóo Colomine, beziffert die Zahl der Flüchtlinge in den vergangenen fünf Jahren auf rund 100 000. Mit ihnen kamen auch Verbrecher, Drogenhändler und Paramilitärs,13 was zu vermehrtem Drogenhandel und Geldwäscherei führte. Die kolumbianischen Bauern, Gewerkschafter und Führer sozialer Bewegungen, die in Venezuela Zuflucht suchten, mussten sich „unsichtbar“ machen, weil sie fürchteten, von antichavistischen Sicherheitskräften, die mit den kolumbianischen Paramilitärs zusammenarbeiten, gefangen genommen und nach Kolumbien verschleppt zu werden.
Auf der anderen Seite der Grenze liegt die Stadt Cúcuta, die als Hauptstadt und Hauptsitz der ostkolumbianischen Paramilitärs gilt. Ihr wichtigster Anführer, Salvatore Mancuso, kontrolliert mit seinen Männern seit 1999 ein gut Teil der Grenze. Sie organisieren den Benzinschmuggel nach Venezuela, den Uribe als Teil der im Kolumbienplan vorgesehenen „sozialen Entwicklungsmaßnahmen“ im November 2003 ausdrücklich legalisiert hat. Des Weiteren legten die Paramilitärs zahlreiche Kokaplantagen an und ließen für den Drogenexport die Straßen ausbessern. Die kolumbianische Presse nennt das Kind beim Namen: „Die Stärkung der Paramilitärs zielt auf venezolanisches Staatsgebiet. Daraus lässt sich ableiten, dass sich die paramilitärischen Bewegungen Richtung Venezuela internationalisieren.“14
Ein konkretes Beispiel dieser Strategie kam am 9. Mai vorigen Jahres ans Licht, als nur 20 Kilometer von Caracas entfernt 130 kolumbianische Paramilitärs aufgegriffen wurden, darunter 40 Reservisten und 20 Berufssoldaten. Ihr Plan war, am 12. Mai mehrere venezolanische Militäreinrichtungen anzugreifen, um Waffen zu erbeuten. Dem Vernehmen nach trugen die Angreifer venezolanische Uniformen, sodass man die Operation als Aufstand „venezolanischer Soldaten“ hätte präsentieren können. Bei der zu erwartenden Reaktion der Bevölkerungsmehrheit und des Chávez-treuen Militärs wäre es ein Leichtes gewesen, den Fall Venezuela zum internationalen Politikum zu machen und von „Chaos“ und „Destabilisierung“ zu reden, um schließlich eine Intervention unter Führung der USA ins Auge zu fassen.
Wie die Ermittlungen der venezolanischen Behörden ergaben, waren Transport und Bewaffnung der Söldner von oppositionellen Kreisen innerhalb der venezolanischen Zivil- und Militärbehörden von Zulia und Táchira organisiert worden. Die Initiative freilich ging von Orlando Carreño Sandoval aus, Befehlshaber der kolumbianischen Armee und eifrigster Verfechter des Kolumbienplans. Das Scheitern der Operation und die Spuren, die Sandoval hinterließ, haben ihn einige Monate später offenbar seinen Posten gekostet.
Für die Regierung in Caracas genießt das traditionell vernachlässigte Grenzland zu Kolumbien im Rahmen ihrer sozialen Entwicklungsprojekte höchste Priorität. Auch in den entlegensten Gegenden sind in den Bereichen Bildung und Gesundheit bereits Fortschritte zu verzeichnen, was die von ihrer Regierung vergessenen Kolumbianer jenseits der Grenze mit Interesse vermerken. „Jeden Tag kommen sie herüber, um sich von unseren Allgemeinmedizinern, Zahn- und Augenärzten behandeln zu lassen, weil das jetzt kostenlos ist“, erklärt Gouverneur Guarulla, und Feijóo Colomine fügt hinzu: „Uribe und Washington fürchten sehr, das Beispiel könnte Schule machen. Wir zeigen, dass es möglich ist, der Bevölkerung mit anderen als militärischen Mitteln zu einer Entwicklung zu verhelfen, ganz einfach, indem wir sie am Reichtum der Nation teilhaben lassen.“
Der venezolanische General López Hidalgo meint über die Bedrohung aus dem Westen kategorisch: „Wir müssen eine große öffentliche Diskussion über den Kolumbienplan anstoßen, weil er unsere Souveränität bedroht. Zwischen den beiden Völkern soll Zwietracht gesät, vielleicht sogar ein Krieg provoziert werden, was nur den Vereinigten Staaten und ihren Multis zugute käme. Aber eins steht fest: Sie werden damit nicht durchkommen!“
deutsch von Bodo Schulze
* Journalist und Autor von „Im Zeichen der Fledermaus. Bacardi und der geheime Krieg gegen Kuba“, Köln (Papyrossa) 2002.