Der absolute Osten
Am 23. Januar dieses Jahres haben Indien und China ihre seit 1962 auf Eis liegenden Grenzverhandlungen wieder aufgenommen. Zugleich entwickelt sich eine neue Debatte um die Identität des Kontinents. Dabei plädieren manche Intellektuelle angesichts der Macht der Vereinigten Staaten von Amerika für ein auf Asien beschränktes Bündnissystem. Andere möchten dem asiatischen Kontinent eine übernationale Identität zurückgeben, die sich jenseits der Dichotomie Orient versus Okzident definiert.
Von WANG HUI *
GLOBALISIERUNG und „Krieg gegen den Terror“ sind die dominierenden Aspekte der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen. Die Globalisierung sorgt für die Umwertung vieler kultureller und sozialer Traditionen, während der „Krieg gegen den Terror“ zum Anlass genommen wird, ein neues militärisch-politisches „Empire“ zu errichten. Europa versucht, den Herausforderungen dieser neoimperialen Ordnung durch die Vertiefung zu einer „föderalen“ Europäischen Union zu begegnen. Jürgen Habermas zum Beispiel vertritt die These, das europäische Modell einer sozialen Zivilgesellschaft lasse sich nur durch die Überführung der alten europäischen Nationalstaaten in eine supranationale Föderation erhalten.
Für Habermas stellt sich die Frage, „ob unsere kleinen oder mittelgroßen Nationalstaaten je auf sich gestellt die Handlungskapazität bewahren können, um dem Schicksal einer schleichenden Assimilation an das Gesellschaftsmodell zu widerstehen, das ihnen von dem heute herrschenden Weltwirtschaftsregime angedient wird“. Für eine postnationale demokratische Gesellschaftsordnung sieht er drei zentrale „funktionale Erfordernisse“: die „Notwendigkeit einer europäischen Bürgergesellschaft“, die Entstehung „einer europaweiten politischen Öffentlichkeit“ und die Schaffung einer „politischen Kultur, die von allen EU-Bürgern geteilt werden kann“.
Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung müsse Europa „die Logik jenes Kreisprozesses, worin sich der demokratische Staat und die Nation gegenseitig hervorgebracht haben, noch einmal reflexiv auf sich selbst anwenden. Am Anfang stünde ein Verfassungsreferendum, das eine große europaweite Debatte in Gang setzte.“1 Ein vereintes Europa wäre ein neuartiges übernationales Gebilde: Die Mitgliedsgesellschaften würden in einigen Bereichen selbstständig und autonom bleiben, während die gemeinsamen Institutionen und Gesetze auf einer historisch gewachsenen Zivilgesellschaft basieren würden.
Auch in Asien werden heute Fragen des Föderalismus diskutiert und neu durchdacht. Als etwa China vor einigen Jahren dem Asean-Vertrag2 beitreten wollte, schlug Japan vor, den Vertrag gleich um drei Mitglieder zu erweitern: Außer China sollten auch Japan selbst und Südkorea hinzukommen. Und im Februar 2002 veröffentlichte eine japanische Nachrichtenagentur einen Beitrag, der das Modell einer „Asiatischen Union“ konkretisiert: „Je weiter die Vereinigung Asiens voranschreitet und sich föderale Strukturen ausbilden, umso mehr wird das Bewusstsein der Distanz zwischen China und Japan nach und nach verschwinden. Schließlich würden die anderen Regierungen der Asean-Staaten sowie Koreas dem Beispiel folgen und – unter Ausschluss der USA – regionale Verträge schließen. Die chinesisch-japanische Aussöhnung könnte damit für ein geeintes Asien eine ähnliche Rolle spielen wie die deutsch-französische für Europa.“3 Und als sich am 1. Mai 2004 die EU um zehn Mitgliedsländer erweiterte, schlugen ein japanischer Diplomat und ein indischer Politologe eine asiatische Variante der Nato um die Achse Indien–China–Japan vor. Doch Asien ist insgesamt viel heterogener als Europa und hat andere politische und ökonomische Strukturen und andere kulturelle Traditionen.
Wir müssen uns also zunächst klar machen, was man in Asien meint, wenn man von Asien spricht. Seit dem 19. Jahrhundert hängen die Unterschiede in diesem „Asienbild“ stets mit den unterschiedlichen Formen des Nationalismus zusammen. Zudem stecken in dem Begriff von Asien zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen: das japanisch-koloniale Konzept einer „großostasiatischen Prosperitätszone“ und das Konzept eines vereinten sozialistischen Asien, das auf dem Ideal der sozialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen beruht. Heute müsste man, um das alte, nationalstaatliche Denken zu überwinden, die überholten Asienkonzepte des 19. Jahrhunderts durch eine neue supranationale Vorstellung von Asien ersetzen.
Historisch gesehen ist „Asien“ ein europäisches Konzept. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden die modernen europäischen Sozialwissenschaften (wie historische Linguistik, Kulturgeografie oder politische Ökonomie), die gemeinsam mit den sich rasch entwickelnden Naturwissenschaften eine ganz neue Weltkarte entwarfen. Die Vorstellungen von Europa wie von Asien wurden in eine umfassende „Weltgeschichte“ integriert. Montesquieu, Adam Smith, Hegel, Marx und viele andere konstruierten ein Asienbild aus dem Gegensatz zu Europa, das sie dann in ihre teleologische, ein Ziel der Geschichte unterstellende Auffassung einbauten.4
Aus dieser europäischen Sicht gab es zwischen Europa und Asien drei prinzipielle Gegensätze: erstens den zwischen den multiethnischen Kaiserreichen Asiens und den absolutistischen Monarchien Europas; zweitens den zwischen dem asiatischen Despotismus und dem europäischen System einer zunehmend rechtlich gebändigten Politik; und drittens den zwischen der asiatischen, agrarisch-nomadisch geprägten Produktionsweise und dem europäischen Wirtschaftsmodell, das vor allem auf Handel und städtischer Manufaktur basierte.
Da die Geschichtsphilosophie der Europäer den modernen Nationalstaat und eine entwickelte kapitalistische Wirtschaft als fortgeschrittene Stadien der „Weltgeschichte“ definierten, wurde Asien automatisch ein rückständiger Status zugewiesen. Asien war nicht nur ein geografischer Raum, sondern auch ein zivilisatorischer Zustand, den man politisch wie ökonomisch irgendwo zwischen dem vorgeschichtlichen Naturzustand und dem Stadium ansiedelte, in dem die eigentliche Geschichte der Völker beginnt.
Dieses aus der europäischen Geschichtsphilosophie abgeleitete Asienbild war der begriffliche Rahmen, der es europäischen Intellektuellen, aber auch asiatischen Revolutionären und Reformern erlaubte, ihre weltgeschichtlichen Entwürfe, ihre gesellschaftlichen Reformpläne und ihre Zukunftsvisionen zu formulieren. Das ganze 19. und 20. Jahrhundert hindurch war die Vorstellung, die sich Kolonialherren wie Revolutionäre von Asien machten, in ein „universales“ Modell europäischer Modernität eingebettet.
Dabei ist es historisch von einer gewissen Ironie, dass Asien in diesem europäischen Diskurs als Ausgangspunkt der Weltgeschichte gesehen wird. So schreibt etwa Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“: „Asien ist der Weltteil des Aufgangs überhaupt. Es ist zwar ein Westen für Amerika; aber wie Europa überhaupt das Zentrum und das Ende der Alten Welt ist und absolut der Westen ist, so Asien absolut der Osten. In Asien ist das Licht des Geistes und damit die Weltgeschichte aufgegangen. […] Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. […] Der Orient wusste und weiß nur, dass Einer frei ist, die griechische und römische Welt, dass Einige frei seien, die germanische Welt weiß, dass Alle frei sind. Die erste Form, die wir daher in der Weltgeschichte sehen, ist der Despotismus, die zweite ist die Demokratie und Aristokratie, und die dritte ist die Monarchie.“5
Hegels Bestimmung von Asien als „Anfang der Weltgeschichte“ und als rückständiger Gesellschaftszustand kann als das philosophische Kondensat der europäischen Asiendiskurse seiner Epoche gelten. Adam Smith beschreibt in seinem ökonomischen Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) die einfachen asiatischen Landwirtschafts- und Bewässerungstechniken, und zwar in Kontrast zu den hoch entwickelten europäischen urbanen Wirtschaftszentren, dem Manufakturwesen und dem internationalen Handel. Dabei ordnet Smith den vier historischen Stadien (Gesellschaft der Jäger, der Hirten, der Ackerbauern und schließlich des Handels und Gewerbes) bestimmte Regionen und Ethnien zu. So nennt er als „Volk von Jägern auf der niedrigsten und rohesten Stufe der Gesellschaft“ die eingeborenen Indianerstämme Nordamerikas; auf einer etwas höheren Stufe finden sich als Beispiel für Hirtenvölker mit primitiver Viehzucht die Tataren und Araber, während die Griechen und Römer mit ihrer patriarchalischen Familienordnung höher entwickelte Gesellschaften repräsentieren.6
Asien als Ausgangspunkt der Weltgeschichte
SMITH periodisiert also die Geschichte anhand der ökonomischen Kategorie der Produktionsweise. Für Hegel hingegen gehören all diese Fragen ins Feld des Politischen, geht es doch um Vorstufen oder Keimzellen des Staates. Die Jägerstämme stehen für ihn auf der primitivsten und niedrigsten Zivilisationsstufe, weil diese Stammesgesellschaften zu klein waren, als dass es zu einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung hätte kommen können. Deshalb schließt Hegel Nordamerika (die Völker der Jäger und Sammler) ganz aus dem Geschichtsprozess aus und stellt Asien an den Beginn der Weltgeschichte. Beide, Smith wie Hegel, ordnen bestimmte Formen des Politischen oder Ökonomischen unterschiedlichen Kulturräumen wie Asien, Amerika, Afrika und Europa zu und bringen sie sodann in eine zeitlichen Abfolge.
Karl Marx unterscheidet in seinem dialektischen Geschichtsmodell vier Stufen der ökonomischen und sozialen Entwicklung: die asiatische, die primitive, die feudale und die kapitalistische Produktionsweise. Marx prägte seinen Begriff „asiatische Produktionsweise“ aus einer Synthese der Geschichtskonzepte von Hegel und Smith. Wie der britische Historiker Perry Anderson gezeigt hat, liegen der Marx’schen „asiatischen Produktionsweise“ aber eine Reihe historischer Verallgemeinerungen zugrunde, die sich unter anderem auf Machiavellis „Fürst“ (1532), auf Montesquieus „Geist der Gesetze“ (1748) oder auch auf die Reiseberichte François Berniers (1710) zurückverfolgen lassen. Die Hauptmerkmale Asiens sind demnach: das staatliche Monopol auf Grundeigentum; das Fehlen rechtlicher Regelungen; religiöse Gebote anstelle rechtlicher Normen; das Fehlen eines Erbadels bzw. überhaupt der Möglichkeit, Privatbesitz zu vererben; soziale Gleichheit auf Sklavenniveau; geringer Grad an gesellschaftlicher Vernetzung; eine ländliche, agrarische und nichtindustrielle Produktionsweise; ungünstige klimatische Voraussetzungen sowie soziale und historische Stagnation. Alle diese Merkmale hängen unmittelbar mit der übergeordneten Kategorie des „orientalischen Despotismus“ zusammen, die zwar Montesquieu als Erster systematisch eingeführt hat, die sich aber bis in die griechische und asiatische Antike zurückführen lassen.7
In Asien selbst entstand eine Vorstellung von Asien erst mit den modernen asiatischen Nationalbewegungen. In Japan geschah dies mit dem Projekt „Abkehr von Asien – Aufbruch nach Westen“, in der Russischen Revolution identifizierte man mit einem neuen Verständnis von Asien (zunächst) die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die chinesischen Revolutionäre schließlich entdeckten den Panasianismus. All diese Bewegungen waren auf den Gegensatz zwischen Nationalstaat und feudalem Kaiserreich bezogen.
Der Slogan „Abkehr von Asien – Aufbruch nach Westen“ tauchte erstmals 1885 in einem kurzen Essay von Yukichi Fukuzawa (1835–1901) auf, dem liberalen Denker und Gründer der Keio-Universität in Tokio. Mit dem „Abschied von Asien“ wollte man sich von der kulturellen Dominanz Chinas und des Konfuzianismus lösen. Mit dem „Aufbruch nach Westen“ war der Aufbau eines modernen japanischen Nationalstaats nach europäischem Vorbild gemeint. Fukuzawas Gedankengang ging zusammengefasst wie folgt: Wenn Asien ein kulturell homogener Raum ist, geprägt vom Konfuzianismus, dann muss Japan eben diesen Raum aufgeben, um Nationalstaat zu werden. Die scharfe Gegenüberstellung von Nationalstaat und Kaiserreich, von Völkerrechtssystem und chinesischem Tributsystem sollte eine Neudefinition der Beziehung zwischen Japan und Asien ermöglichen. Japans Selbstverständnis als Nationalstaat konnte nur über die Abkehr von Asien entstehen. Die Dichotomie von zivilisiert und barbarisch bzw. Westen und Osten wurde so nach Asien selbst hineingetragen. Japan solle, so Fukuzawa, nicht nur seine eigene vergangene Identität aufgeben, sondern eine neue Achse in die asiatische Welt einziehen.
Tatsächlich war die Entwicklung Japans zum Nationalstaat weniger eine „Abkehr von Asien und ein Aufbruch nach Europa“ als vielmehr die „Besetzung Asiens und die Konfrontation mit Europa“. Der kolonialistische Slogan der 1930er-Jahre von der „großostasiatischen Prosperitätszone“ – mit Japan als ökonomischer Führungsmacht – diente am Ende dazu, die japanische Invasion in China zu legitimieren.8
Die nationalen Befreiungsbewegungen Asiens schufen dann eine neue Vorstellung von Asien, die an die sozialistischen Ideen der russischen Revolutionäre anknüpfte. Neu war dabei allerdings die Verknüpfung von politisch-sozialen Reformen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Als antikapitalistische soziale Bewegung, die sich gegen den bürgerlichen Nationalstaat richtete, war der Sozialismus von Anfang an internationalistisch und antiimperialistisch. Und wie die „Abkehr von Asien“ in Japan entsprang auch die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in Russland aus der Dichotomie von Nationalstaat und Zarenreich.
Kurz nach Ausrufung der provisorischen Regierung der Republik China 1911 veröffentlichte Lenin in der Newskaja Swesda und in der Prawda mehrere Artikel über China. So schreib er 1912: „Jetzt aber brodelt in China das politische Leben, entfalten sich stürmisch die soziale Bewegung und der demokratische Aufschwung. Nach der russischen Bewegung des Jahres 1905 hat die demokratische Revolution ganz Asien erfasst […].“9 Und in einem zweiten Aufsatz verurteilt er 1913, dass „ im zivilisierten und fortgeschrittenen Europa mit seiner glänzend entwickelten Technik, mit seiner reichen, vielseitigen Kultur und seinen Verfassungen […] die herrschende Bourgeoisie aus Furcht vor dem wachsenden und erstarkenden Proletariat alles Rückständige, Absterbende, Mittelalterliche unterstützt.“10 Die Verknüpfung der europäischen mit der asiatischen Revolution hatte Marx bereits im Juni 1853 in einem Artikel in der New York Daily Tribune vollzogen: „Scheinbar ist es eine sehr seltsame und sehr paradoxe Behauptung, dass die nächste Erhebung der Völker Europas […] in großem Maße davon abhängen dürfte, was sich jetzt im Reich des Himmels […] abspielt […].“11
Lenins und Fukuzawas gegensätzliche Ansichten basieren auf der gleichen Prämisse: Asiens Modernität wurzelt für beide in der europäischen Moderne, und unabhängig davon, wo Asien in seiner Entwicklung stand und was sein Schicksal sein mochte, seine Modernität manifestierte sich immer nur im Bezug auf das fortschrittliche Europa.
Zwischen Lenins revolutionären Asienvorstellungen und den Ideen von Adam Smith oder Hegel besteht also kein substanzieller Unterschied. Alle drei deuten die Geschichte des Kapitalismus als einen Entwicklungsprozess, der vom alten Orient zum modernen Europa verläuft – von den primitiven, jagenden, nomadischen oder agrarischen Stammeskulturen hin zu Handel und industrieller Produktion. Hegels Konzept der Weltgeschichte, die ihren Ausgang von einem barbarischen und vorgeschichtlichen Asien nimmt, bleibt bestimmend auch für Lenin, der nur die Akzente verschiebt, indem er auf die alte, feudalistische Ordnung zunächst den Kapitalismus als Übergangsphase und schließlich die Moderne mit der proletarischen Revolution und dem Sozialismus folgen lässt.
Lenins Argumentation – insbesondere seine Vorstellung eines inneren Zusammenhangs zwischen Nationalismus und Kapitalismus – erklärt auch den Konnex zwischen dem modernen chinesischen Nationalismus und der Vorstellung von Asien. Im November 1924 reiste Sun Yat-sen (1866–1925), der „Vater der chinesischen Revolution“, nach Kobe und hielt dort vor japanischen Kaufleuten eine viel beachtete Rede über das „Prinzip Großasien“. Er unterschied zwischen dem geografischen Raum Asien – Ursprungsregion der ältesten Kultur –, in dem es 30 Jahre zuvor noch keinen einzigen völlig selbstständigen Staat gegeben habe, und der aktuellen „Wiedergeburt Asiens“. Japan habe den Anfang gemacht, als es einige mit fremden (europäischen) Staaten abgeschlossene „ungleiche Verträge“ annullierte, eine Verfassung erließ (1889) und der erste unabhängige Staat auf dem asiatischen Kontinent wurde. Der Redner gratuliert den Japanern zu ihrem militärischen Sieg im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05: „Das war das erste Mal seit mehreren Jahrhunderten, dass eine asiatische Nation über Europa siegte. Die Kunde verbreitete sich schnell über ganz Asien, und alle Nationen Asiens waren freudig bewegt … Es war der Beginn der asiatischen Unabhängigkeitsbewegungen – der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen Asiens.“12
Das „Prinzip Großasien“ oder auch der „Panasianismus“ ist in Suns Verständnis etwas anderes als das „Großostasien“ des modernen japanischen Nationalismus. Und so endete seine Rede mit einem Appell an die „Bürger Japans“, die entscheiden könnten, ob Japan künftig zum Falken des westlichen „Weges der Tyrannen“ oder zum Bollwerk des „Weges der Könige“ werde. Sun wollte eine die asiatischen Länder verbindende Vorstellung von Asien entwickeln. Alle Kulturen und Religionen sollten gleichberechtigt nebeneinander bestehen und sich über ihre gemeinsamen Wurzeln verbunden fühlen können, ohne der konfuzianischen oder irgendeiner anderen kulturellen Hegemonie unterworfen zu sein. Die Einheit Asiens sollte auf unabhängigen souveränen Staaten aufbauen. Das europäische Nationalstaatsprinzip wollte Sun jedoch nicht nachahmen. Im Gegenteil: Asien solle sich seine eigenständigen vielfältigen Kulturen und seine Riten bewahren, eben den „Weg der Könige“ und nicht den „Weg der Tyrannen“ der europäischen Nationalstaaten einschlagen. Sozialistisch ist Suns Asienbild in dem Sinne, dass es sich gegen Kapitalismus und Imperialismus wendet. Nach Sun verkörperten der „Weg der Könige“ und auch das traditionelle Tributsystem Chinas eine neue Art von Internationalismus.
Eine Verknüpfung sozialistischer Werte mit chinesischen Traditionen versucht heute etwa auch Yuzo Mizoguchi von der Tokioter Daito-Bunka-Universität.13 Er hat dargelegt, wie die Kategorien der konfuzianischen Sozialethik die chinesische Ideen- und Sozialgeschichte von der Song-Dynastie (960–1279 u. Z. ) bis zur Qing-Ära (bis 1911) geprägt haben. So weise etwa Sun Yat-sens „Grundlehre von der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Volkes“, die eine Bodenreform vorsah, Kontinuitäten zu bestimmten Aspekten der Ming-Zeit (1068–1644) auf. Freilich sind historische Begriffe wie „öffentlich/privat“ (gong/si) oder „himmlische Prinzipien“ (tianli) und moderne revolutionäre Gleichheitsforderungen sorgfältig auseinander zu halten. Doch steckt bereits in dem Versuch, die asiatische Kultur über solche Werte der konfuzianischen Sozialethik zu definieren, eine Kritik an Kapitalismus und Kolonialismus.
Anfang der 1940er-Jahre verfasste Ichisada Miyazaki seine ersten Studien zum „Kapitalismus der Song-Dynastie“ im 10. Jahrhundert, in denen er den Ausbau der Verkehrswege und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft untersuchte. „Wer in der Geschichte seit der Song-Zeit den Beginn der Moderne erkennt, wird bald die Geschichte der westlichen Moderne vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Ostasien sehen.“14 Miyazaki zeigt in einem großen weltgeschichtlichen Bogen, wie der Bau des Großen Kanals (seit dem 7. Jahrhundert) die Migration in die Metropolen begünstigte und der Warenverkehr mit Gewürzen und Tee ein Netz neuer Handelsverbindungen zwischen Europa und Asien knüpfte. Er beschreibt, wie die Expansion des Mongolenreichs im 12. Jahrhundert den Kulturtransfer zwischen Europa und Asien vertiefte und nicht nur die innerasiatischen Beziehungen veränderte, sondern auch die Verbindungen mit Europa zu Wasser und zu Lande förderte.15
Wenn die Anfänge von „Asiens Moderne“ schon im 10. und 11. Jahrhundert auszumachen sind, also drei oder vier Jahrhunderte vor vergleichbaren Entwicklungen in Europa, stellt sich die Frage, ob diese beiden Welten sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Ostasien und insbesondere China diente der westlichen Wirtschaft während der industriellen Revolution als Absatzmarkt für Fertigwaren und als Lieferant neuer Rohstoffe: „Die industrielle Revolution ist nicht nur ein Produkt der europäischen Geschichte, schließlich ging es nicht nur um Maschinen, sondern um das ganze ökonomische und soziale Geflecht. […] Ohne die Kapitalakkumulation durch den Handel mit Ostasien, ohne die asiatische Baumwolle, ohne den chinesischen Absatzmarkt, ohne Verbindungen mit Ostasien hätte die industrielle Revolution womöglich nicht stattgefunden.“16
Die geschichtliche Entwicklung ist also ein komplexer Vorgang, in dem verschiedenartige Welten miteinander in Kontakt treten, sich gegenseitig bekämpfen, durchdringen und inspirieren. So gesehen ist Modernität nicht ein Merkmal einer bestimmten Gesellschaft, sondern das Resultat der Interaktion verschiedener Regionen und Kulturen. Und Asien ist keine in sich geschlossene Einheit, weder der Anfang der Weltgeschichte noch ihr Ziel oder Ende, weder das Subjekt der Weltgeschichte noch ein untergeordnetes Objekt. Eine neue Vorstellung von Asien würde umgekehrt also auch eine komplexere Sicht auf die „Weltgeschichte“ und ein weniger selbstzentriertes europäisches Selbstverständnis ermöglichen.
Die historischen Asienkonstrukte sind komplex und widersprüchlich – kolonialistisch und antikolonialistisch, konservativ und revolutionär, national und internationalistisch. Sie stammen aus Europa, wirken aber auf die Selbstdeutung der Europäer zurück, sie beziehen sich auf den Nationalstaat und überschneiden sich mit imperialen Visionen, sie entwerfen ein nichteuropäisches zivilisatorisches Konzept und einen geografischen Begriff im Kontext geopolitischer Bestimmungen. Asien neu zu erfinden wäre mithin eine universalgeschichtliche Aufgabe. Sie würde erfordern, den Eurozentrismus zu überwinden, ohne einen Asienzentrismus an seine Stelle zu setzen. Erst so würde man die Herrschaftslogik überwinden, die jeder Art von Zentrismus zugrunde liegt.
deutsch von Iwan-Michelangelo D‘Aprile
* Historiker, Chefredakteur von Dushu (Lesen), Peking. Dieser Artikel ist ein Auszug aus Wang Hui, „Imagining Asia. A Genealogical Analysis“, erscheint voraussichtlich 2005.