11.02.2005

Feinde und Helfer

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Feinde und Helfer

MOUNTIES lautet der Spitzname der kanadischen berittenen Polizisten. Doch die Truppe ist weder harmlos noch bürgerfreundlich, wenn es um die Unabhängigkeit Québecs und um vermeintliche Terroristen geht. Um die Separatisten zu schwächen, war den Mounties fast jedes illegale Mittel recht. Nach den Anschlägen vom 11. September übermittelten sie ihren Kollegen in den USA „Erkenntnisse“ über kanadische Staatsbürger, die nicht nur unautorisiert, sondern auch falsch waren. Maher Arar, Kanadier syrischer Abstammung, wurde in New York festgenommen, nach Syrien abgeschoben und dort für ein Jahr inhaftiert.

Von MICHEL GOURD *

Am frühen Morgen des 21. Januar 2004 tauchten Beamte der Königlichen Kanadischen Berittenen Polizei (RCMP)1 mit einem Durchsuchungsbefehl bei der Journalistin Juliet O’Neill auf, die für den Ottawa Citizen arbeitet. Fünf Stunden später verließen sie die Wohnung mit einer Kiste beschlagnahmter Dokumente. Die Mounties2 durchsuchten auch ihr Büro. Juliet O’Neill wurde zum Verhängnis, dass sie in ihrer Zeitung am 8. November 2003 einen RCMP-Bericht erwähnt hatte, der den syrischstämmigen Kanadier Maher Arar mit al-Qaida in Verbindung bringt. Die Hausdurchsuchung sollte die Informationsquelle der Journalistin aufdecken. Die Polizisten kopierten ihre Festplatte und nahmen Unterlagen, Notizhefte und Adressbücher mit.

Die Durchsuchungen stützten sich auf das Gesetz über die Informationssicherheit, das den unerlaubten Besitz von vertraulichen Regierungsdokumenten verbietet. Das Bundesgesetz, das in weiten Teilen Bestimmungen des alten Gesetzes über Staatsgeheimnisse von 1970 aufgreift, wurde nach den Terroranschlägen vom September 2001 verabschiedet. Gordon Fisher, Vizepräsident des Medienkonzerns CanWest Global, zu dem der Citizen gehört, und schwerlich linksradikaler Sympathien verdächtig, meinte, die Durchsuchung sei „der ehemaligen Sowjetunion würdig, nicht aber einer Demokratie“.

Anfang 2004 gab Anne McLellan, die Ministerin für öffentliche Sicherheit und Katastrophenschutz, bekannt, die RCMP versuche die Quellen in Polizei oder Regierung zu identifizieren, aus denen vertrauliche Informationen über den Fall Arar stammten. Wie kürzlich eine Umfrage ergab, sind die meisten Kanadier jedoch nicht damit einverstanden, dass die Polizei Hausdurchsuchungen bei Journalisten durchführt, um sicherheitsrelevante Dokumente aus undichten Quellen aufzuspüren.3 Aus gutem Grund.

Denn die Missachtung von Grundrechten der Kanadier hat eine lange Geschichte. In der Vergangenheit forschten die kanadischen Nachrichtendienste immer wieder Indianer und Inuit, Gewerkschaften und pazifistische Gruppen, Einwanderer, Diplomaten und ausländische Besucher aus.4 Denn seit Jahrzehnten schon ist die kanadische Regierung mit der Bekämpfung der Unabhängigkeitsbewegung in Québec beschäftigt.

Das Ausmaß der Krise zeigte sich am 5. Oktober 1970 um 8.20 Uhr, als die Zelle „Libération“ der Québec-Befreiungsfront (FLQ) den britischen Diplomaten James Cross entführte. Im Austausch für das Leben ihrer Geisel verlangten die FLQ-Aktivisten die Freilassung von zwanzig „politischen“ Gefangenen, deren Transport nach Kuba oder Algerien, Lösegeld in Höhe von 500 000 Dollar sowie die Veröffentlichung des FLQ-Manifests. Da die kanadische Regierung den Forderungen nicht nachkommen wollte, kidnappte die Gruppe den Arbeitsminister von Québec, Pierre Laporte, vor seinem Haus. Zum Schutz von Abgeordneten und Diplomaten bezogen am 12. Oktober 500 Soldaten in der Hauptstadt Ottawa Stellung; drei Tage später tauchte die Armee in Montreal und Québec auf. Am 16. Oktober verkündete die Regierung auf Basis des „Gesetzes über Kriegsmaßnahmen“ den Ausnahmezustand und ermächtigte die Ordnungskräfte per Dekret, mutmaßliche FLQ-Mitglieder auch ohne Haftbefehl festzunehmen und 21 Tage festzuhalten, bevor sie einem Richter vorgeführt werden mussten. Am 17. Oktober wurde Laportes Leiche im Kofferraum eines Autos gefunden.5

In den Tagen nach Verhängung des Ausnahmezustands durchsuchte die Polizei in Québec 4 600 Wohnungen, verhaftete hunderte von Personen und erhob Anklage gegen 36 Verdächtige. Mangels Beweisen stellte der Staatsanwalt die Ermittlungen zehn Monate später wieder ein.

Mounties auf Einbrechertour

ERST dreißig Jahre später erfuhr die Öffentlichkeit durch den Access to Information Act von 2000, der den Zugang zu Regierungsdokumenten regelt, von Geheimakten, laut denen das Bundeskabinett bei der Verabschiedung des „Gesetzes über Kriegsmaßnahmen“ sehr wohl wusste, dass die Polizei hunderte unschuldiger Personen verhaften würde – und nicht erwartete, die beiden FLQ-Geiseln mit dieser Maßnahme zu finden.6

In den Folgejahren der Oktoberkrise entstand eine solche Angst vor der Unabhängigkeitsbewegung, dass die Mounties bereit waren, alle Gesetze zu brechen, um die FLQ zu neutralisieren. So begingen sie unter anderem Einbruchdiebstahl in den Montrealer Büros der linksindependistischen Freien Presseagentur von Québec und brachten sich in Besitz der Mitgliederliste des „Parti Québécois“ (PQ), einer die Unabhängigkeit anstrebenden Partei, die sich immer wieder von der FLQ distanziert hatte. Das ganze Ausmaß der Polizeioperationen wurde bekannt, als die PQ nach ihrem Regierungsantritt 1976 einen Ausschuss zur Untersuchung dieser Vorgänge einsetzte. Die Keable-Kommission deckte hunderte illegaler Mounties-Operationen auf. Die Polizeibehörde hatte Personen ohne Haftbefehl festgehalten, sie hatte gelogen, betrogen und gestohlen, sie hatte das Briefgeheimnis verletzt und Brandstiftung begangen. Und sie hatte Falschinformationen über Personen verbreitet, um sie arbeitslos zu machen und ihr Familienleben zu zerstören.7

Wichtig war auch das Jahr 1995. Obwohl die Regierung ihr Möglichstes tat, um die Unabhängigkeitsbewegung zu bekämpfen, und obwohl die Medien kräftig Stimmung machten, verfehlten die Québecer mit 49 Prozent der Stimmen nur knapp den Weg zur Bildung eines autonomen Staats. Um der separatistischen Gefahr zu begegnen, legte die kanadische Bundesregierung an den Ministerien vorbei ein Programm auf, das mit erheblichen Geldmitteln ausgestattet war und die Aufgabe hatte, den föderalen Zusammenhalt zu stärken. In sechs Jahren wurden 465 Millionen kanadische Dollar – etwa 400 Millionen US-Dollar – für die Bekämpfung separatistischer Bestrebungen aufgewandt.

Die geheime Verwendung von Geldern in dieser Höhe ging naturgemäß mit zahlreichen Unregelmäßigkeiten einher. Wie die Oberste Rechnungsprüferin Sheila Fraser in ihrem Bericht vom Februar 2004 aufdeckte, waren überzogene Provisions- und Honorarzahlungen an Werbeagenturen, die der Liberalen Partei Kanadas nahe stehen, Spenden an die Liberale Partei selbst und überhöhte Abrechnungen keine Seltenheit.8 Angesichts der öffentlichen Empörung versprach die Regierung, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um Licht in die Angelegenheit zu bringen. Die Gomery-Kommission nahm im September vorigen Jahres ihre Arbeit auf, und die ersten Informationen, die sie veröffentlichte, bestätigen den Umfang des Skandals.

So sehr waren die kanadischen Nachrichtendienste mit der Überwachung der Unabhängigkeitsbewegung beschäftigt, dass sie nach eigenem Bekunden weder die Kapazität noch die Kompetenz besaßen, sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den neuen Aufgaben der nationalen Sicherheit zu widmen.9 Der mächtige Nachbar im Süden sah in der „Nachlässigkeit“ der kanadischen Behörden gegenüber dem „internationalen Terrorismus“ ein schwaches Glied in der Kette, die die Tür zum Kontinent verriegelte. Also musste Ottawa eilends Antiterrorgesetze verabschieden, die die Grundrechte der Kanadier einschränken. Nach Auffassung von Dominique Peschard, dem Vizepräsidenten der Liga für Grund- und Freiheitsrechte in Québec, befindet sich Kanada mit diesen Gesetzen, die die Überwachung der gesamten Bevölkerung ermöglichen, auf dem „Weg in den Polizeistaat“10 .

Das derzeitige politische Klima hilft dabei und öffnet der Überwachung systemkritischer Kräfte Tür und Tor. In Anlehnung an das „Gesetz über Kriegsmaßnahmen“ erweitert das berüchtigte Gesetzespaket C-36 die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden in erheblichem Maß. Es gestattet, Personen ohne jede Anklage bis zu 72 Stunden festzuhalten und zu verhören. Auch das Recht auf einen fairen Prozess, so die Liga, entfällt seither, denn Beweise gegen mutmaßliche Terroristen brauchen aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht vollständig offen gelegt zu werden. Das Gesetz sei so formuliert, dass bestimmte Protestformen als Terrorakt eingestuft werden könnten.

Die so genannten Sicherheitszertifikate erlauben es, Verdächtige ohne Anklageerhebung für lange Zeit hinter Schloss und Riegel zu bringen. Derzeit befinden sich aufgrund dieser Regelung fünf Personen in Haft, weil sie nach Auffassung der kanadischen Behörden eine Bedrohung für die Sicherheit des Landes darstellen.11 Auch die Massenverhaftungen bei Demonstrationen und der Datenbankabgleich zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten sind nicht zu unterschätzen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Durchsuchungen bei der Journalistin Juliet O’Neill, die das Ziel verfolgten, die undichte Stelle in der Affäre „Maher Arar“ ausfindig zu machen.12

Arar, der die kanadische und die syrische Staatsangehörigkeit besitzt, befand sich im September 2002 auf dem Rückweg von einem Familienurlaub in Tunesien, als er im Transitbereich des John-F.-Kennedy-Flughafens in New York von den US-Behörden nach Verbindungen zu al-Qaida befragt und zwölf Tage später nach Syrien deportiert wurde. Zuvor hatten die Mounties den US-Behörden Informationen vorgelegt, die angeblich beweisen, dass Arar Kontakt zu terroristischen Gruppen hatte. In Syrien wurde Arar verhaftet und nach eigenen Angaben gefoltert, bevor er ein Jahr später wieder freikam und Syrien und Jordanien auf Schadenersatz in Millionenhöhe verklagte. Eine ähnlich lautende Klage reichten seine Anwälte in New York gegen US-Justizminister John Ashcroft ein, kurz nachdem die Mounties bei Juliet O’Neill aufgetaucht waren.

Die RCMP räumte ein, dass ihr bei der Übermittlung von Erkenntnissen über den 35-jährigen Computeringenieur an die US-Behörden Fehler unterlaufen seien. Brian Garvie, als Chief Superintendent der RCMP einer der höchstrangigen Polizeibeamten, bemängelte in seinem 76-seitigen Bericht, dass seine Behörde gegen Dienstvorschriften verstieß, als sie ohne seine vorherige Einwilligung Erkenntnisse über Arar an das FBI weiterleitete.

Zur vollständigen Aufklärung der Umstände, unter denen der kanadische Staatsbürger nach Syrien ausgewiesen wurde, setzte die Regierung einen Untersuchungsausschuss ein. Anstatt aber alle relevanten Fakten ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, sind die Politiker im Gegenteil bemüht, sie zu verschweigen. Im Dezember 2004 beschuldigte Richter Dennis O’Connor die Regierung unter Paul Martin öffentlich der Zensur. Acht Monate lang hatte die hinter verschlossenen Türen tagende Kommission neun Beamte des kanadischen Nachrichtendienstes befragt. Doch aus der Zusammenfassung des Kommissionsberichtes wurden alle wichtigen Informationen eliminiert. Dabei enthält das Dokument nach Auffassung des Richters nichts, was die nationale Sicherheit gefährden könnte.13A m 10. Dezember 2004 schließlich schränkte das Bundesberufungsgericht die Grundrechte der Kanadier weiter ein. Es erklärte die Sicherheitszertifikate für verfassungsgemäß und bestätigte damit eine erstinstanzliche Entscheidung.

Fortan hat die Polizei in Kanada also das Recht, beliebige Personen ohne Vorliegen eines Straftatverdachts zu verhaften und in Gewahrsam zu nehmen. Grundrechte wie das Recht auf Informantenschutz, der Grundsatz der Unschuldsvermutung, das Recht, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung von einem Gericht prüfen zu lassen, oder das Recht auf Offenlegung aller Beweise werden nicht länger respektiert.

Hinsichtlich der Entführung geben sich allerdings Bürgerrechtsorganisationen, die kanadische Presse, Juliet O’Neill und Maher Arar selbst nicht geschlagen. Über den aktuellen Stand der verschiedenen Verfahren berichtet eine üppig ausgestattete Website14. Das Interesse der kanadischen Öffentlichkeit ist so groß, dass unter den Betroffenen Einverständnis darüber herrscht, dass die Regierung die Veröffentlichung von O’Connors Abschlussbericht nicht verhindern wird. Das Recht dazu hätte sie seit 2001.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalist, Québec.

Fußnoten: 1 Royal Canadian Mounted Police, französ. Gendarmerie Royale du Canada (GRC), die kanadische Bundespolizei. 2 Der Spitzname bezieht sich auf den altertümlichen Namen der RCMP; die Truppe wurde 1874 gegründet, um den kanadischen Westen zu „zähmen“ – einschließlich der dort lebenden Indianer. Mit den roten Uniformen wurde sie bald zum Symbol für die kanadische Staatsmacht und – ähnlich dem Ahornblatt – für Kanada schlechthin. 3 „Liberté de la presse“, Le Devoir, Montreal, 14. 12. 04. 4 Richard Cléroux, „Plein feu sur les services secrets canadiens“, (Les Éditions de l‘Homme) Montreal 1993. 5 James Cross wurde nach langen Verhandlungen freigelassen. Die drei FLQ-Mitglieder, die ihn festgehalten hatten, flogen nach Kuba aus. 6 Gilles Paquin, „Le cabinet fédéral savait qu‘il n‘y avait pas d‘insurrection en octobre 1970“, La Presse, Montreal, 31. 1. 1992. 7 Siehe Fußnote 4. 8 Isabelle Rodrigue, „Scandale des commandites: La commission Gomery amorce ses travaux sous haute tension“, Le Devoir, 7. 1. 2004, S. A1. 9 Le Droit, Montreal, 25. 9. 2004. 10 David Bombardier, „La Ligue des droits craint un État policier“, La Tribune, 8. 6. 2004, S. A7. 11 Siehe dazu „Homes not Bombs“ (www.homesnot bombs.ca) und die „Coalition Justice pour Adil Charkaoui“ (www.adilinfo.org). 12 Sylvain Larocque, „La GRC mène une saisie chez une journaliste dans le cadre de l‘affaire Arar“, La Presse Canadienne, 21. 1. 2004. 13 Bernard Descôteaux, „Censure au crayon feutre“, Le Devoir, Montréal, 23. 12. 2004. 14 www.maherarar.ca.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von MICHEL GOURD