11.02.2005

Washington war überall dabei

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Washington war überall dabei

ZEHN Milliarden Dollar soll Saddam Hussein aus dem „Oil for Food“-Programm der Vereinten Nationen abgezweigt haben. Der US-Kongress schäumt vor Wut und nutzt den Skandal, um mit der UNO abzurechnen. Dabei spielten die USA innerhalb der UNO, im Weltsicherheitsrat und in den Gremien, die das Irak-Embargo bis ins Einzelne überwachten, eine entscheidende Rolle. Rätselhaft, wie Saddam Hussein Rohöl auf Tankern außer Landes geschmuggelt haben soll, wenn für die Überwachung des Persischen Golfs die US-Marine zuständig war.

Von JOY GORDON *

Der neue Skandal kam in die Schlagzeilen, als der Wahlkampf um die US-Präsidentschaft im Frühjahr 2004 in die heiße Phase ging. Seit Monaten hatte es immer neue Berichte über Angriffe auf die amerikanischen Streitkräfte im Irak gegeben, dazu hunderte von Fotos, die US-Soldaten beim Foltern und Demütigen irakischer Gefangener zeigten. Da wurde auf einmal, zum Glück für die Bush-Regierung, die Aufmerksamkeit auf einen anderen Skandal gelenkt. Die irakische Zeitung al-Mada veröffentlichte eine Liste, die auf die Anklage hinauslief, das von den Vereinten Nationen betriebene „Oil for Food“-Programm sei durch korrupte Machenschaften unterlaufen worden.

Anfang April 2004 legte der Rechnungshof der USA einen Bericht vor, nach dem Saddam Hussein über 10 Milliarden Dollar aus illegalen Ölverkäufen und Schmiergeldern für Importverträge angehäuft hat.1 William Safire, der konservative Kolumnist der New York Times, verkündete, dies sei „der schwerste Finanzskandal der Menschheitsgeschichte“ – und das, obwohl ein Jahr zuvor im Zuge des Enron-Skandals – in den mit Kenneth Lay ein langjähriger Freund der Bush-Familie verwickelt war – ähnlich hohe Geldsummen versenkt worden waren, darunter auch Milliarden Dollar an Pensionsansprüchen der Enron-Mitarbeiter.

Claudia Rosett vom Wall Street Journal beschrieb das UN-Programm für den Irak mit Begriffen wie „Privilegienwirtschaft“ und „Geheimnistuerei“ und steckte die UN damit in dieselbe Schublade wie Diktaturen.2 Und Christopher Shays, der im US-Repräsentantenhaus zwei der sieben Anhörungen des einschlägigen Untersuchungsausschusses leitete, behauptete schlankweg, das „Oil for Food“-Programm der UN habe „Saddam Hussein bei den Ölverkäufen und den entsprechenden Warenkäufen die volle Kontrolle über Milliarden von Dollar überlassen“3 .

In Wirklichkeit haben viele dieser Behauptungen mit der Wahrheit nicht das Geringste zu tun. Das „Oil for Food“-Programm selbst machte eine große Menge an Informationen auf seiner Website zugänglich, die schon beim Anlaufen des Programms installiert wurde.4 Damit konnte man stets innerhalb von Sekunden etwa für jede Sechsmonatsperiode des Programms die „Verteilungsliste“ einsehen, das heißt ein Verzeichnis sämtlicher Warenposten, die der Irak aus Mitteln des „Oil for Food“-Programms kaufen durfte. Auf dieser Website finden sich auch Grafiken, die jeden einzelnen Vertrag über Ölkäufe und Warenimporte dokumentieren, desgleichen wöchentlich aktualisierte Informationen über die wichtigsten Entscheidungen, Probleme und Veränderungen bei den Vertragsabschlüssen und vieles mehr.

Es stimmt auch nicht, dass „die UN“ jemals Saddam Hussein die souveräne Kontrolle über irgendetwas eingeräumt hätte. Weder bei Ölverkäufen, Geldtransfers noch Warenkäufen war dies der Fall. Das „Oil for Food“-Programm, weit davon entfernt, der irakischen Regierung freie Hand zu lassen, besaß das penibelste Monitoring- und Ausgabenkontrollsystem, das man sich denken kann. Bevor der Irak irgendetwas kaufen konnte, musste er eine Antragsliste vorlegen, dazu eine Erklärung, wie und wo die Dinge im Einzelnen genutzt werden sollten. Als Anhang zu dieser Liste verlangte man eine ausführliche Erklärung über die Prioritäten in den jeweiligen Bedarfssektoren, etwa Landwirtschaft, Ernährung, Gesundheitsversorgung und Erziehungswesen.

Erst wenn die zuständigen Beamten der UNO dieser Liste zugestimmt hatten, durfte der Irak Verhandlungen mit einem Verkäufer aufnehmen. Dies war der einzige Punkt, in dem der Irak irgendetwas ohne Genehmigung entscheiden konnte. Und das nicht etwa, weil das UN-Personal seine Aufsichtspflichten vernachlässigt hätte, sondern weil der Sicherheitsrat dem Irak in seiner Resolution 968 und in dem nachfolgenden „Memorandum of Understanding“, das über die Details des „Oil for Food“-Programms vereinbart wurde, die Befugnis dazu gegeben hatte.

Die ätzenden Attacken laufen vor allem auf einen Vorwurf hinaus: Die UN habe keinerlei Kontrolle ausgeübt beziehungsweise keinerlei Rechenschaft über die Ölverkäufe und die Importe von Hilfsgütern abgelegt, die im Rahmen des Programms abgewickelt wurden. Aber die Realität sieht entschieden anders aus.

Sobald der Irak einen Vertrag ausgehandelt hatte, wurde dieser von mehreren Instanzen unter die Lupe genommen, bevor er schließlich genehmigt werden konnte. Zunächst wurde er den Waffenkontrolleuren von der Unscom, später der Unmovic vorgelegt, um sicherzugehen, dass der Irak keine Materialien importiert, die für die Produktion illegaler Waffen verwendet werden könnten. Dann ging der Vertrag zu den für das Programm zuständigen Mitarbeitern im Office of Iraq der UN, um sicherzustellen, dass die Lieferposten der Liste der genehmigten Waren entsprachen.

Die nächste Instanz war das „661 Committee“, also das Komitee beim UN-Sicherheitsrat, das für die Durchsetzung der Sanktionen gegen das irakische Regime zuständig war. In diesem Komitee saß je ein Vertreter der 15 Staaten, aus denen sich der Sicherheitsrat jeweils zusammensetzte; Entscheidungen wurden im Konsensverfahren getroffen, womit praktisch jedes Mitglied ein Veto einlegen konnte. In diesem Komitee spielten die USA eine besonders aktive Rolle, weil ihm sechzig US-Experten zur Verfügung standen, die für die Überprüfung der Irakverträge zuständig waren.

Die USA haben ihr Vetorecht denn auch in weit größerem Umfang wahrgenommen als die anderen Länder. Sie allein waren für die Blockierung von mehreren Milliarden Dollar für wichtige humanitäre Hilfsgüter verantwortlich, was von fast allen anderen im Sicherheitsrat vertretenen Staaten zunehmend kritisiert wurde. Wie aus dem Untersuchungsbericht des US-Kongresses hervorgeht, hat Washington jedoch niemals einen Vertrag aufgrund einer zweifelhaften Preisgestaltung blockiert, und zwar selbst dann nicht, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergaben, dass dieser Vertrag dem Saddam Hussein-Regime illegale Nebeneinkünfte einbringen könnte.5

War ein Vertrag genehmigt, wurden die Waren in den Irak geliefert, wo unabhängige, von den UN bestellte Kontrolleure bestätigen mussten, dass die Lieferungen den Verträgen entsprachen. Anschließend kontrollierten UN-Vertreter, die zu hunderten im Irak stationiert waren, mit tausenden von Inspektionsbesuchen vor Ort, dass die Hilfsgüter angemessen verteilt und nicht etwa zugunsten des Militärs oder für andere unzulässige Zwecke abgezweigt wurden.

Auch die Ölverkäufe wurden ähnlich umfassend durchleuchtet. Der UN-Generalsekretär ernannte eine Gruppe von „Ölinspektoren“, also internationalen Experten der Ölindustrie, von denen jeder Einzelne durch das 661 Committee bestätigt worden war. Sie hatten die Aufgabe, alle Öltransaktionen zu überprüfen. Sie hatten dem 661 Committee Empfehlungen vorzulegen, denn im Rahmen des „Oil for Food“-Programms konnte die Regierung in Bagdad keinerlei Verkäufe tätigen, ohne dass das Kontrollkomitee die Liefermenge, den Preis und die sonstigen Bedingungen genehmigt hätte.

An keinem Punkt dieses Verfahrens gingen Gelder aus dem Programm durch die Hände der irakischen Regierung. Alle Erlöse aus den Ölverkäufen flossen auf ein Treuhandkonto bei den Vereinten Nationen, über das diese wiederum alle Lieferanten von Waren für den Irak bezahlten.

Wenn es die irakische Regierung also tatsächlich geschafft haben sollte, Gelder abzuzweigen oder bestimmte Summen aus Ölverkäufen oder Importverträgen innerhalb des „Oil for Food“-Programms abzuschöpfen, so ganz gewiss nicht deshalb, weil die UN dem irakischen Diktator mehrere Milliarden Dollar in die Hände gespielt hätte. Und es lag auch nicht an einem lückenhaften Kontroll- und Rechnungsprüfungssystem. Wenn Gelder versickert sind oder unterschlagen wurden, geschah dies trotz eines denkbar sorgfältig ausgeklügelten Überwachungs- und Aufsichtsmechanismus.

Kampagne gegen die UN

SO trägt die US-Regierung für Lücken und Mängel der Programmkontrolle faktisch dieselbe Verantwortung wie die Vereinten Nationen. Tatsächlich lässt sich über die besondere Rolle der USA sehr viel mehr sagen. Nach dem Bericht des US-Rechnungshofes soll Saddam Hussein zum Beispiel Rohöl im Wert von 6 Milliarden Dollar aus dem Lande geschmuggelt haben, das meiste davon mit Tankern über den Persischen Golf. Doch für das Abfangen von Schmuggeltransporten war weder der UN-Generalsekretär noch irgendeine andere Instanz der UN verantwortlich – vielmehr eine Abfangflotte unter der Leitung von Offizieren der V. Flotte der US Navy. Der Vorwurf, die UN hätten dem Saddam-Regime ungeahndet illegale Öltransporte aus dem Irak gestattet, hat also mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

In einem umfassenden CIA-Report, der Anfang Oktober 2004 veröffentlicht wurde6 , heißt es, die illegalen Einnahmen Bagdads seien hauptsächlich aus nicht autorisierten Handelsabkommen zwischen der irakischen Regierung und anderen Staaten zustande gekommen. Der weitaus dickste Brocken war der illegale Handel mit Jordanien im Umfang von etwa 4,4 Milliarden Dollar. Besonders wertvoll für den Irak war diese jordanische Connection laut CIA-Report im Zeitraum 1990 bis 1996. Sie habe damals „das finanzielle Überleben des Regimes gesichert“, bevor dann im Dezember 1996 das „Oil for Food“-Programm anlief.7

Über diesen illegalen Handel mit Jordanien waren freilich die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – und selbstredend das ständige Mitglied USA – in vollem Umfang informiert. So hat etwa der Sicherheitsrat im Mai 1991 „zur Kenntnis genommen“, dass Jordanien, der engste Verbündete der USA in der arabischen Welt, seinen Handel mit dem Irak fortsetzte – ohne dass er etwas dagegen unternommen hätte. Der Sicherheitsrat ist zwar ganz allgemein für die Ahndung von Verstößen gegen UN-Sanktionen zuständig und hat auch immer wieder die Regierungen daran erinnert, dass sie keine Verstöße zulassen dürfen, doch speziell im Fall Jordanien hat das entscheidende UN-Gremium nichts getan. Und zwar volle zwölf Jahre lang, bis 2003, obwohl der unerlaubte Handel zwischen dem Irak und Jordanien über den gesamten Zeitraum ganz offen weiterlief.

UN-Mitarbeiter werden auch beschuldigt, den Irakern die Möglichkeit gegeben zu haben, Gelder abzuzweigen und Schwarzgeld aus Verträgen im Rahmen des „Oil for Food“-Programms einzukassieren. Irakische Beamte, die nach dem Fall von Bagdad im Frühjahr 2003 verhört wurden, haben enthüllt, dass sie Anweisung hatten, bei Importverträgen die Kostensumme um 5 bis 10 Prozent höher anzugeben und dann vom Verkäufer die Differenz zurückzufordern. Obwohl die US-Vertreter den anderen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats ab und zu mitteilten, dass solche „Kickbacks“ ihrer Ansicht nach vorkommen, lieferten sie nie die Beweise oder auch nur ausreichend Informationen, um den UN-Vertretern ein Durchgreifen zu ermöglichen. Tatsächlich waren die überhöhten Vertragssummen keineswegs augenfällig. Viele Kaufverträge für humanitäre Güter, zum Beispiel im Fall einer kompletten Wasseraufbereitungsanlage, waren sehr spezifisch abgefasst und bezogen sich auf Produkte, für die es auf dem Markt keinen „Standardpreis“ gibt.

Wenn der Preis jedoch ersichtlich jenseits der handelsüblichen Grenzen lag, verlangten die UN-Vertreter von dem Verkäufer eine Erklärung. Fiel diese nicht zufrieden stellend aus, wurde das Problem dem 661 Committee des Sicherheitsrats vorgelegt, dem ja die Umsetzung des Sanktionsregimes oblag und das alle irakischen Importe und Ölverkäufe absegnen musste. Die UN-Leute vor Ort haben das Komitee in mehr als siebzig Fällen auf Verträge aufmerksam gemacht, bei denen die Preise so extrem irregulär erschienen, dass man von Kickbacks ausgehen musste. Die UN-Vertreter selbst waren nicht befugt, einen Vertrag zu stoppen, sie konnten ihre Information nur an die Mitglieder des Sicherheitsrats beziehungsweise an deren Vertreter im 661 Committee weiterleiten. An diesem Punkt hatten alle Mitglieder des Komitees, und damit die Vertreter aller 15 Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats, die Chance, den Vertrag zu blockieren oder zu stornieren oder weitere Informationen anzufordern. Aber niemand tat es, auch nicht die USA.

In Washington erreichte die regelrechte Hasskampagne gegen die UN ihren Höhepunkt, als Senator Norm Coleman, ein Republikaner aus Minnesota, Kofi Annan zum Rücktritt aufforderte. Überraschenderweise reagierten sowohl Medien wie Politiker und erhoben ihre Stimmen zur Verteidigung der Vereinten Nationen und des Generalsekretärs. Tenor: Ölschmuggel und Kickbacks seien von den USA zumindest hingenommen worden.

Im Januar 2005 gab die von Kofi Annan beauftragte unabhängige Untersuchungskommission unter Vorsitz des ehemaligen US-Finanzministers Paul Volcker einen Teil der internen Prüfungsberichte über das „Oil for Food“-Programm frei. Veröffentlicht wurden aber auch die Berichte über die Arbeit der UN Compensation Commission (UNCC), die mit Einnahmen aus irakischen Ölverkäufen die Ansprüche bedient, die durch die Invasion des Irak in Kuwait 1990 entstanden sind. Hinsichtlich der Arbeit der UNCC gab es schon lange Bedenken, denn das Verfahren bot kaum eine Chance, Beweismittel und Berechnungsgrundlagen der Antragsteller zu überprüfen.

Aber wie schon beim „Oil for Food“-Programm waren die Verfahrensregeln für die UNCC nicht vom UN-Generalsekretär festgelegt worden. Auch hier setzte sich das Leitungsgremium, das die Prinzipien und die Modalitäten der Kommission bestimmte, aus den Mitgliedern des Sicherheitsrats zusammen, und auch hier fielen die Entscheidungen nach dem Konsensprinzip. Zwar wurden die Ansprüche jeweils von UNCC-Experten begutachtet, aber ob ein Anspruch bedient wird, entscheidet am Ende der Sicherheitsrat.

Was immer die Volcker-Kommission am Ende feststellen wird – es ist zu erwarten, dass die rechten Kritiker der Vereinten Nationen in den USA an ihrer Meinung festhalten, dass die UNO eine failed institution darstelle und dass Kofi Annan als Führungskraft versagt habe. Und dies, obwohl es inzwischen ganz andere Enthüllungen gegeben hat. Aus dem Irak kommen Nachrichten über die massive finanzielle Misswirtschaft unter der US-Besatzungsmacht sowie unter der nachfolgenden irakischen Übergangsregierung.

Das Gremium, das die Einnahmen aus den irakischen Ölverkäufen und die Gelder aus dem „Oil for Food“-Programm verwaltet, sowie der Generalinspektor der Besatzungsbehörde haben berichtet, dass beim irakischen Wiederaufbau Milliarden von Dollar verschwendet wurden oder ganz verschwunden sind. Die Gesamtsumme der versickerten Gelder belief sich allein für das erste Halbjahr 2004 auf 4 Milliarden Dollar.8

deutsch von Niels Kadritzke

* Professorin für Philosophie, Fairfield University, Connecticut.

Fußnoten: 1 Erklärung von Joseph A. Christoff, Leiter der Abteilung International Affairs and Trade beim US General Accounting Office, vom 7. 4. 2004, Dokument GAO-04- 651T, S. 2. 2 Aussage von Claudia Rosett vor dem Unterausschuss „National Security, Emerging Threats and International Relations“, Sitzung vom 21. 4. 2004, S. 3. 3 Aussage des republikanischen Abgeordneten Christopher Shays auf derselben Sitzung (Anm. 2), S. 1. 4 www.un.org/Depts/oip. 5 Aussage von John Ruggie bei den Hearings im Außenpolitischen Ausschuss des Repräsentantenhauses vom 28. 4. 2004. 6 Comprehensive Report of the Special Advisor to the DCI on Iraq‘s WMD, 30. 9. 2004, im Internet: www.cia.gov/cia/reports/iraq_wmd_2004. 7 Ebd., Regime finance and procurement section, S. 24. 8 Iraq Revenue Watch, Briefing Nr. 9 vom 9. 12. 2004, Fußnote 2. www.iraqrevenuewatch.org/reports/120604 .shtml.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von JOY GORDON