11.02.2005

Pflicht zum Freihandel

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Pflicht zum Freihandel

DIE Zeit läuft. Bis 2020, wenn die letzte Übergangsfrist endet, will die EU die besondere Förderung einstellen, die Europa seinen früheren Kolonien zukommen lässt. Wichtigster Zwischenschritt: Bis 2007 sollen sechs regionale Freihandelsabkommen die Vorzugsbehandlung von 78 Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks ablösen. Was einmal als kräftige Entwicklungshilfe begann, ist heute nur noch eine „schlanke Struktur für den Informationsaustausch“.

Von RAOUL MARC JENNAR *

Vor bald fünf Jahren, am 23. Juni 2000, unterzeichnete die Europäische Union mit 77 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks das Cotonou-Abkommen, benannt nach dem Ort des Vertragsabschlusses, der Hauptstadt Benins. Das Dokument ist typisch für die EU-Initiativen, mit denen sie auf die Verschuldungskrise der Entwicklungsländer in den 1980er-Jahren reagierte: Hinter dem humanistischen Reden über Solidarität, das Großzügigkeit verheißt, zeichnet sich ein Europa ab, das die neoliberale Globalisierung vorantreibt und allen Empfängern seiner Hilfen seine Standpunkte aufnötigt.1

Das war nicht immer so. 1963 unterzeichnete die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) das erste Assoziierungsabkommen mit achtzehn afrikanischen Staaten. Gegenstand waren der beiderseitige Handel, geringere Zölle für Erzeugnisse aus diesen Ländern und vor allem Infrastrukturprojekte im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Zwölf Jahre später, 1975, unterzeichnete die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) auf Betreiben ihres Entwicklungskommissars Claude Cheysson das Lomé-Abkommen, benannt nach der Hauptstadt Togos. Vertragspartner waren 46 ehemalige Kolonien, die unter der Abkürzung AKP (Afrika, Karibik, Pazifik) zusammengefasst wurden.

In Brüssel entstand ein Sekretariat. „Lomé I“, wie es später im internationalen politischen Jargon hieß, beruhte auf Partnerschaft und Solidarität. Es sah – wie schon der Vorläufer von 1963 – einseitige Zollsenkungen der EG für Einfuhren aus den AKP-Ländern vor. Neu war das Stabex, das „System zur Stabilisierung von Exporterlösschwankungen agrarischer Rohstoffe“. Es verstetigte die Exporteinnahmen, die aufgrund des Auf und Ab der Weltmarktpreise starken Schwankungen ausgesetzt waren, und umfasste Handelsvergünstigungen für Erzeugnisse wie Zucker, Rindfleisch und Bananen sowie einen Finanzierungsrahmen für Infrastrukturmaßnahmen und Agrarprogramme. 1979 unterzeichneten 58 Länder das „Lomé II“-Abkommen, das das Stabex-System durch Sysmin ergänzte, ein ähnliches System für mineralische Rohstoffe, also Bergbauprodukte. Zwischen 1984 und 1995 folgten weitere Lomé-Abkommen, die Zahl der Vertragsstaaten stieg auf 70 an.

Nach und nach fand neoliberales Gedankengut Eingang in die Vertragstexte. Die Handelsvergünstigungen wurden von der Umsetzung der IWF-Strukturanpassungsprogramme und der Förderung des Privatsektors abhängig gemacht. Als Ausgleich bestand die Union auf der Achtung der Menschenrechte; das letzte Lomé-Abkommen wies dem Umweltschutz noch eine wichtige Rolle zu.

Mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 erhielt die „Einbindung in die Weltwirtschaft“ oberste Priorität. 1996 gelangte die EU-Kommission zu der Auffassung, dass das Ende des Kalten Kriegs, die Gründung der WTO und die Konflikte, Naturkatastrophen und innenpolitischen Verhältnisse in den AKP-Staaten Neuverhandlungen notwendig machten.

Zuvor waren die Lomé-Verträge nur aufgrund einer Ausnahmeerlaubnis international abgesichert, weil die Bestimmungen gegen das Diskriminierungsverbot des Freihandelsabkommens Gatt, des WTO-Vorläufers, verstießen. Die nun folgenden Verhandlungen mit den AKP-Ländern mündeten vier Jahre später, 1980, in die Unterzeichnung des Cotonou-Abkommens. Anstatt aber wie bei den früheren Assoziierungsabkommen weiterhin auf grundsätzliche Ausnahmeregelungen zu sinnen, nötigte die Union den AKP-Staaten nun die WTO-Regeln auf.

Zunächst wurde der Kreis erweitert. 40 der nunmehr 77 AKP-Staaten gehören in die UNO-Kategorie der am wenigsten entwickelten Länder. Für sie werden die Vorzugsbedingungen akzeptiert, aber sie müssen auf weitere arme Länder, die nicht zur AKP-Gruppe gehören, ausgeweitet werden.

Sodann wurden Leistungen abgeschafft und wurde die Schaffung einer Freihandelszone vorgesehen. Stabex und Sysmin fielen weg, die einseitigen niedrigen Einfuhrzölle der EU sollten verschwinden und die AKP-Staaten ihre Binnenmärkte für europäische Erzeugnissen ebenso öffnen wie umgekehrt.2 Schließlich wurden die verbliebenen Sondervorteile per Ausnahmeregelung zeitlich begrenzt.

Erst großzügig, jetzt unnachgiebig

UM diese Ziele zu erreichen, spaltete die EU die Gruppe der bei internationalen Verhandlungen gern als einheitlicher Block auftretenden AKP-Staaten in mehrere Zonen auf und handelt mit ihnen bis Ende 2007 die verlangten WTO-konformen Freihandelsabkommen aus, die regionalen Economic Partnership Agreements. Einem solchen EPA zufolge finanziert die EU Programme in drei Sektoren: Sie unterstützt die Umsetzung von Strukturanpassungsprogrammen, sie unterstützt den sozialen Dialog, und sie unterstützt Maßnahmen zur regionalen Integration innerhalb des Geltungsbereichs der jeweiligen Partnerschaftsabkommen.

Cotonou markierte einen grundlegenden Konzeptionswandel. An die Stelle der Achtung der Souveränität anderer Länder trat das Dogma, Wachstum lasse sich allein durch den Abbau von Handelshemmnissen erzielen. Oberste Priorität genossen fortan die internationalen Handels- und Finanzregeln und ihre Verträge. So heißt es in Artikel 36, dass die Vertragsparteien übereinkommen, „eine neue, WTO-konforme Handelsregelung zu vereinbaren“. In Artikel 41 bestätigen sie „ihre jeweiligen Verpflichtungen aus dem Allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Gats)“, in Artikel 46 erkennen sie „die Notwendigkeit an, einen angemessenen und wirksamen Schutz der Rechte an geistigem und gewerblichem Eigentum und der übrigen unter das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (Trips-Übereinkommen) fallenden Rechte“ zu gewährleisten. Und Artikel 67 sieht vor, bei der Bewertung von Reformschritten einer Regierung auch die Befolgung der Strukturanpassungsprogramme des IWF zu berücksichtigen.

Die Europäische Union warf ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um ein ihr genehmes Abkommen zu erreichen. Séverine Rugumanu, Professorin an der Universität Daressalam, kommentiert: „Aufgrund ihrer wesentlich größeren institutionellen und ökonomischen Ressourcen ist die Europäische Union in der Lage, den Verlauf der Verhandlungen zu bestimmen und die Kooperationskriterien so zu gestalten, wie sie es für richtig hält.“3

Nicht in Frage stellt Cotonou wohlgemerkt die Schutzklauseln und protektionistischen Maßnahmen, die sich die Europäer zumal im Agrarbereich vorbehalten. Was ein Bericht der UN-Entwicklungsorganisation Unctad denn auch beklagt: „Die Industrieländer halten es der Mühe für wert, 3 bis 4 Prozent ihrer Erwerbsbevölkerung vor den Negativfolgen der instabilen und tendenziell sinkenden Preise bei Grunderzeugnissen zu schützen, lehnen jedoch analoge Schutzinstrumente für 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung der weit ärmeren Entwicklungsländer ab, die zu ihrem Lebensunterhalt auf die Landwirtschaft angewiesen sind.“4

Die Verhandlungen über die EPAs begannen im September 2003. Ungeachtet des Protests der AKP-Regierungen legte die EU-Kommission als Alleinvertreterin der Unionsstaaten bereits bei der Eröffnungssitzung eigenmächtig die Konferenzsprache sowie den Gegenstand und den Zeitplan der Verhandlungen fest. Die Verhandlungsvorlagen wurden in englischer Sprache abgefasst, die Verhandlungen ebenfalls in Englisch geführt. In den afrikanischen AKP-Ländern, in denen 94 Prozent der AKP-Bevölkerung leben, wird aber größtenteils Französisch gesprochen. Nach Auskunft afrikanischer Diplomaten kommt es nicht selten vor, dass die EU-Unterhändler auf Entscheidungen drängen, während ihre französischsprachigen AKP-Gesprächspartner gerade einmal die Übersetzung der Dokumente in Händen halten, zu denen sie Stellung beziehen sollen. Die zwanzig afrikanischen AKP-Länder, in denen Französisch die Amtssprache ist, gelten der EU offenbar als Quantité négligeable – aber was zählt die Frankophonie schon, wenn die Profite französischer Konzerne auf dem Spiel stehen!

Mit einem bemerkenswerten Sinn für Solidarität forderten die AKP-Regierungen, bevor sie in die getrennten EPA-Verhandlungen einsteigen wollten, ein für alle AKP-Staaten geltendes Rahmenabkommen – ein vergebliches Ansinnen. In den Augen der Kommission ist das AKP-Sekretariat heute nichts weiter als eine „schlanke Struktur für den Informationsaustausch, um die Abstimmung auf der EU-AKP-Ebene zu gewährleisten“5 .

Ansonsten unterteilt sie die AKP-Staaten in sechs Regionen: Westafrika, Zentralafrika, Ostafrika mit dem Horn von Afrika, Südafrika, karibischer Raum und pazifischer Raum – eine willkürliche Aufteilung, die in keiner Weise mit den bestehenden regionalen Organisationen korrespondiert und auch nicht von den Betroffenen selbst vorgeschlagen wurde. So blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als sich dem europäischen Diktat zu beugen. Seit September 2003 verhandelt die EU mit den sechs Regionen einzeln; die Ostafrikagruppe zerbrach denn auch in zwei Teile.

Die Kommission behandelt die AKP-Staaten nicht als Partner, sondern legt es darauf an, sie gegeneinander auszuspielen, sie „in den Welthandel zu integrieren“, wie die Zauberformel heißt. Ziel der Verhandlungen ist, die solidarischen Mechanismen der Lomé-Abkommen durch umfassenden Wettbewerb unter der Ägide der WTO zu ersetzen. Seit Cotonou stehen die schwach entwickelten Volkswirtschaften in unmittelbarer Konkurrenz zu den reichsten Ländern. Wie die Vereinigten Staaten, so will auch die Europäische Union nur noch eines kennen: Wettbewerb.

Die AKP-Länder weisen immer wieder darauf hin, dass „die bestehenden WTO-Regeln nicht geeignet sind, kohärente Entwicklungsstrategien in den AKP-Ländern auf den Weg zu bringen, und der Anpassung an die Gegebenheiten und Interessen vor Ort bedürfen“6 . Die Kommission schert das wenig. Sie fordert die strikte Anwendung des Gats-Abkommens zum Dienstleistungsverkehr, insbesondere den so genannten Modus 3, das heißt die Abschaffung von Investitionshemmnissen im Dienstleistungsbereich. Dabei flossen im Jahr 2000 doch nur 1,5 Prozent der weltweiten Auslandsinvestitionen in die AKP-Länder. In Wahrheit will man den AKP-Ländern nur die Möglichkeit nehmen, selbst zu entscheiden, welche Auslandsinvestoren sie ins Land lassen und wie sie sich die künftige Entwicklung ihrer Gesellschaft vorstellen.

Überdies sucht die Union in den Verhandlungen durchzusetzen, was sie im Rahmen der WTO nicht erreichen konnte: den „freien und unverfälschten Wettbewerb“, wie es in einer der EU-Verfassung würdigen Formulierung heißt, ferner die Gleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und schließlich den Abbau der Investitionsregulierungen, wie sie in den meisten AKP-Ländern bislang noch in Kraft sind.

Als Begründung dieser Forderungen betet die Union die Litanei der Arbeitgeberlobby nach, die da behauptet, Deregulierung schaffe ein günstiges Investitionsklima. Diese Rede ist nicht länger glaubhaft: Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Studien über bilaterale Abkommen, die die von der EU geforderten Klauseln enthalten, und alle relativieren sie die Auswirkungen von Deregulierungsmaßnahmen auf den Zufluss von Auslandsinvestitionen.7 Sogar die Weltbank muss einräumen, dass „die Analyse der OECD-Auslandsdirektinvestitionen in den Entwicklungsländern in den vergangenen zwanzig Jahren kaum Belege für die These zutage fördert, dass bilaterale Investitionsabkommen zusätzliche Investitionen generieren“8 .

Doch was soll’s. Die europäischen Konzerne wollen freie Hand haben, wo immer sie investieren, und maximalen Profit aus fehlenden Lohnforderungen, Sozialgesetzen und Umweltauflagen ziehen. In diesem Geist führt die EU-Kommission trotz der Proteste der Betroffenen und der internationalen Solidarität der Globalisierungskritiker die EPA-Verhandlungen weiter.9

deutsch von Bodo Schulze

* Politikwissenschaftler, Forscher bei Oxfam und an der Unité de Recherche, de Formation et d‘Information sur la Globalisation (Urfig). Autor von „Europe, la trahison des élites“, Paris (Fayard) 2004; im selben Jahr wurde er mit dem Preis der „Amis du Monde diplomatique“ ausgezeichnet.

Fußnoten: 1 Die geplante Finanzhilfe für den Zeitraum 2000–2007 beläuft sich auf insgesamt 13,7 Milliarden Euro. 2 Groupe de Recherche pour une Stratégie Économique Alternative (Gresea), EPA ou PAS? Introduction critique aux Accords de partenariat économique, Brüssel 2004. 3 Séverine Rugumanu, „Le nouvel accord de partenariat entre les ACP et l‘Union européenne ne résout pas tout“, Coopération Sud 2, UN-Entwicklungsprogramm, New York 2000. 4 Unctad, Le développement économique en Afrique. Résultats commerciaux et dépendance à l‘égard des produits de base, Genf 2003. 5 Mitteilung der EU-Kommission, 21. Oktober 2004. 6 AKP-Sekretariat, Négociations ACP-UE des AP. Points de convergence et de divergence, ACP/61/113/03 Rév. 1, Brüssel, 28. September 2003. 7 African Development Bank, International Investment in Africa: Trends and Opportunities, Abidjan, 2001; Ajit Singh, Foreign Direct Investment and International Agreements, South Centre, Genf 2001; Unctad, A Positive Agenda for Developing Countries: Issues for Future Trade Negotiations, Genf 2000; Weltbank, Global Economic Prospects and the Developing Countries 2003: Investing to Unlock Global Opportunities?, Washington 2003. 8 Mary Hallward-Driemeier, Do Bilateral Investment Treaties Attract FDI, Weltbank, Washington 2003. 9 Am 21. Juni 2004 trafen sich auf Einladung des globalisierungskritischen „Third World Network Africa“ Vertreter von hunderten afrikanischen Bürgerinitiativen im mosambikanischen Maputo und verabschiedeten die EPA-kritische „Maputo-Erklärung“. Im Oktober 2004 wurde auf dem Europäischen Sozialforum in London die Kampagne „Stop EPAs“ lanciert: www.woek.de/kasa_ handelspolitik.htm. Dazu erscheint ein Newsletter: www.epawatch.net/general/text.php?itemID=268&menu ID=28.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von RAOUL MARC JENNAR