11.02.2005

Aggressoren zahlen sich aus

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Aggressoren zahlen sich aus

DIE Freude ist groß über das Friedensabkommen für den von einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg zerrissenen Sudan. Doch Skepsis und Hoffnung halten sich die Waage. Die Abmachungen der zwei größten Kriegsparteien lösen nicht alle Konflikte. Ausgeklammert bleibt der Konflikt in Darfur. Und unberücksichtigt bleiben auch die Interessen kleinerer Minderheiten. Zudem ist fraglich, ob die Vereinbarungen tatsächlich umgesetzt werden.

Von GÉRARD PRUNIER *

Am 9. Januar 2005 wurde in der kenianischen Hauptstadt Nairobi ein Friedensabkommen unterzeichnet, das einen Konflikt beenden soll, der den Sudan 21 Jahre lang zerrissen hat. Bei den Auseinandersetzungen starben fast 1,5 Millionen Menschen, mehr als 4 Millionen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land, weitere 600 000 flohen in die Nachbarländer.1 Völlig zu Recht hat die internationale Gemeinschaft diese politische und zudem ökonomische Übereinkunft begrüßt, die erst nach 30 Monate dauernden schwierigen Verhandlungen zustande kam.

Dennoch ist Zurückhaltung angebracht, denn der Sudan bleibt weiterhin Schauplatz eines blutigen Konflikts, dieses Mal in der westlichen Provinz Darfur.2 Mit diesem Konflikt haben sich die Vertragspartner von Nairobi nicht befasst. Und was den Konflikt im Süden betrifft, so müssen sich die äußerst komplexen Vereinbarungen erst noch in der Zusammenarbeit aller politischen Kräfte bewähren, also der ehemaligen Guerilla der christlichen Bevölkerung wie der islamischen Fundamentalisten, aber auch der Oppositionsgruppen des Südens und des Nordens, die sich darüber beschweren, dass sie an den Verhandlungen nicht beteiligt waren. Die Umsetzung des Abkommens wird schwierig werden.

Der zugleich kulturelle und religiöse Krieg zwischen dem Norden und dem Süden des Sudan wird seit einem halben Jahrhundert geführt. Im August 1955, kurz bevor die Briten das Land verließen, provozierte die Meldung, dass die britischen Offiziere durch Araber ersetzt werden sollten, eine Meuterei des Äquator-Corps, einer Militäreinheit schwarzer Soldaten. Es folgte ein 17 Jahre andauernder Krieg, der im Februar 1972 durch das Abkommen von Addis Abeba beendet wurde. Dieser Friedensvertrag gewährte den drei südlichen Provinzen eingeschränkte Autonomie innerhalb eines föderalen Systems. Doch die Entdeckung von Erdöl im Jahre 1979 im Süden und der ein Jahr später begonnene Bau eines enormen Kanals, der Nilwasser für Ägypten abzweigen sollte (das Jonglei-Kanal-Projekt), veranlassten den sudanesischen Präsidenten Jafaar al-Numeiri, die Vereinbarung von Addis Abeba einseitig aufzukündigen.

Im Mai 1983 brach der Krieg erneut aus, als schwarze Armee-Einheiten sich gegen ihre arabischen Vorgesetzten erhoben. Oberst John Garang übernahm die Führung und gründete die SPLA, die „Sudanesische Volksbefreiungsarmee“ (Sudanese People’s Liberation Army). Da Präsident Numeiri von den USA gestützt wurde, fand die Rebellion Unterstützung bei Oberst Mengistu in Äthiopien und dessen Verbündeten im sozialistischen Lager. Das Ende des Kalten Krieges und der Sturz Mengistus im Mai 1991 schwächte die SPLA enorm und führte fast zu ihrer Niederlage. Doch ab 1993 fand sie Rückhalt bei Uganda und dessen Präsident Museveni. Und da in Khartum 1989 ein fundamentalistisches islamisches Regime an die Macht gekommen war, befand sich die SPLA gemeinsam mit Kampala plötzlich auf der Seite der USA.

Nach mehreren fruchtlosen Versuchen in den 1990er-Jahren erklärte sich Khartum nach dem 11. September 2001 zu ernsthaften Verhandlungen bereit. Das islamistische Regime, das al-Qaida von Anfang an Unterstützung gewährt hatte, befürchtete eine militärische Intervention der USA. 2002 fanden in Kenia erste Gespräche statt. Khartum verschleppte die Verhandlungen lange Zeit, in der Hoffnung, dass eine Änderung des geopolitischen Gleichgewichts weniger große Zugeständnisse bei den Verhandlungen erforderlich machen würde. Erst im November 2004, nach der Wiederwahl von George W. Bush, ließ sich das islamistische Regime auf eine umfassende Vereinbarung ein.

Doch in der Zwischenzeit – im Februar 2003 – hatte sich auch die Provinz Darfur im Westsudan gegen die Zentralgewalt erhoben. Damit zeigte sich erneut, dass das Hauptproblem des Sudan kein religiöser Konflikt ist, sondern aus der Tatsache resultiert, dass die Macht in den Händen einer kleinen, im Niltal konzentrierten arabischen Elite liegt. In der Provinz Darfur leben nur Muslime. Der Bürgerkrieg, der dort seit zwei Jahren ausgetragen wird, ist keineswegs ein Kampf von „Arabern gegen Afrikaner“, wie so oft behauptet wird. Auch die allmähliche Ausweitung der Kämpfe auf die rein arabische Provinz Kordofan zeigt, dass der Konflikt eher ökonomisch und politisch als religiös oder ethnisch geprägt ist.

Die Friedensvereinbarung vom 9. Januar ist nicht ein Vertrag, sondern ein ganzes Bündel von Verträgen zu unterschiedlichen Punkten, die seit Sommer 2002 nach und nach unterzeichnet wurden. Das erste dieser Dokumente ist unter dem Namen „Machakos-Protokoll“ bekannt – nach der kleinen Stadt in Kenia, wo es im Juli 2002 unterzeichnet wurde. Es sieht vor, dass nach Ablauf einer Übergangsperiode von sechs Jahren und einer zusätzlichen Vorlaufzeit von sechs Monaten im Süden ein Referendum zur Selbstbestimmung abgehalten wird. Im September 2003 einigten sich die Konfliktparteien schließlich auf eine Reihe von „Sicherheitsmaßnahmen“. Sie sehen vor, dass sich die Truppen des Nordens aus dem Süden und die SPLA-Verbände aus dem Norden3 zurückziehen. Außerdem sollen gemischte Armee-Einheiten in Stärke von 40 000 Mann aufgestellt werden, die sich ausschließlich aus Kräften der SPLA und der regulären Armee rekrutieren. Sie sollen in den drei südlichen Provinzen stationiert werden, aber auch entlang der inneren Grenze (im Gebiet um Abyei, in den Nubabergen und im südlichen Teil der Provinz des Blauen Nils), und einer gemeinsamen Führung unterstehen.

Im Dezember 2003 wurde ein „Abkommen zur Aufteilung der Reichtümer des Landes“ geschlossen. Es regelt auch die Bodennutzungsrechte, die personelle Besetzung des Finanzministeriums, ein doppeltes Bankensystem (nach islamischen4 Prinzipien im Norden, nach „klassischen“ im Süden) sowie die Kontrolle über Zoll- und Steuereinnahmen. Vor allem aber regelt es die Aufteilung der bedeutenden Erdölgewinne. Denn das Land gehört seit Fertigstellung der Pipeline von Heglig nach Port Sudan im Jahr 1999 zur Gruppe der mittelgroßen Erdölexporteure. Beim aktuellen Weltmarktpreis bringen die rund 390 000 Barrel pro Tag fast 1,9 Milliarden Dollar im Jahr. Nach Plänen des Energieministeriums soll die Erdölproduktion bis Ende 2005 auf 500 000 Barrel pro Tag erhöht werden. Falls der Weltmarktpreis stabil bleibt, werden damit mehr als 2,5 Milliarden Dollar in die Kassen fließen, deren Aufteilung innerhalb eines Jahres ausgehandelt werden muss.5 Das Abkommen über die Nutzung der natürlichen Ressourcen sieht allgemein eine Fifty-fifty-Teilung zwischen dem Norden und dem Süden vor.

Drei weitere Vereinbarungen wurden im Mai 2004 unterzeichnet. Die erste ist die wichtigste, denn sie regelt die gemeinsame Ausübung der politischen Macht. Nach diesem Dokument bleibt Omar Hassan al-Baschir Präsident, und Oberst Garang wird Vizepräsident, der ein Vetorecht bei den Entscheidungen des Staatschefs hat. In der sechsmonatigen Vorlaufphase zur Übergangsperiode soll eine gemeinsame Regierung gebildet werden – die zu 52 Prozent von der heute herrschenden Einheitspartei Mutammar al-Watani (patriotischer Kongress) gestellt wird; 28 Prozent erhält die SPLA, 14 Prozent gehen an die Opposition im Norden6 und 6 Prozent an Gruppen aus dem Süden, die nicht zur SPLA gehören. In diesen sechs Monaten soll auch eine Verfassungskommission ein Grundgesetz ausarbeiten. Ein solches Dokument war im Sudan bisher nur vorübergehend in Kraft oder von oben diktiert.

Nach zwei Jahren soll eine Volkszählung durchgeführt werden (die letzte fand 1982 statt), damit insgesamt dreieinhalb Jahre später – also etwa nach der Hälfte der Übergangsperiode – allgemeine Wahlen stattfinden können. Die beiden anderen im Mai 2004 unterzeichneten Vereinbarungen sehen regionale Übergangsverwaltungen für die Region um Abyei (an der Grenze zwischen Bahr-el-Ghazal und Kordofan), für die Nubaberge und für den südlichen Teil der Blauer-Nil-Provinz vor, Regionen mit gemischter Bevölkerung – Araber und Schwarzafrikaner, halb Christen, halb Muslime –, die im Norden liegen, aber während des Krieges auch zum Einflussgebiet der SPLA gehörten.

Die beiden letzten Dokumente, unterzeichnet am 31. Dezember 2004 in Naivasha in Kenia, korrigieren verschiedene Bestimmungen der Sicherheitsvereinbarungen vom September 2003 und enthalten einen Zeitplan für die Durchführung aller zuvor vereinbarten Regelungen.

Die große Schwäche dieser Abkommen liegt in den Verhandlungspartnern selbst: Das Regime in Khartum hat sich unmittelbar aus der Nationalen Islamischen Front (NIF) entwickelt, die bei den letzten freien Wahlen im April 1986 nur etwa 7 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Selbst wenn man dem Regime jetzt eine Art „Friedensbonus“ zugesteht, kann man sich kaum vorstellen, dass es mehr als 15 Prozent der Wähler repräsentiert. Und die SPLA – der einzige politische Partner des Regimes – ist weit davon entfernt, den ganzen Süden zu kontrollieren. Die Parteien, die es 1986 im Süden noch gab, existieren durchaus noch an der Basis der Gesellschaft und verfügen noch immer über eine nicht zu unterschätzende Macht. Die verschiedenen Milizen im Süden, die gegen die SPLA gekämpft haben – und von der Regierung lange Zeit instrumentalisiert wurden –, sind keineswegs nur Organisationen von Kollaborateuren, sondern haben eine lokale Gefolgschaft. Die SPLA, die sich ethnisch vor allem um die Dinka aus der Gegend von Bor gruppiert, ist insbesondere beim großen Volk der Nuer – und auch unter den Völkern in der Provinz Äquator – wenig beliebt. Hinzu kommt, dass im Süden – alle Flüchtlinge und Umgesiedelte eingeschlossen – nicht mehr als 25 bis 30 Prozent der sudanesischen Bevölkerung leben. Die Unterzeichner der Vereinbarungen von Nairobi repräsentieren mithin gemeinsam nur ein knappes Drittel der Sudanesen.

Oberst Galang setzt darauf, im Norden wenigstens so viele Stimmen gewinnen zu können, wie er im Süden verlieren wird. Tatsächlich haben der Niedergang der einst bedeutsamen Kommunistischen Partei des Sudan und die Unfähigkeit der laizistischen linken Kräfte, sich effektiv zu organisieren, eine Art Schwarzes Loch in der sudanesischen Wählerlandschaft hinterlassen.7 Garang und seine SPLA hoffen, diese „herrenlosen“ Stimmen für sich gewinnen zu können, trotz der kulturellen Barrieren zwischen den „arabischen“ Wählern im Norden und ihrer eigenen „schwarzafrikanischen“ Identität. Aber wird es überhaupt zu Wahlen kommen?

Die erste Hürde ist das Andauern des Konflikts in Darfur. Er hat bislang weit mehr als die 70 000 Opfer gekostet, die von der internationalen Gemeinschaft offiziell anerkannt sind.8 Dieser Konflikt ist eine typische Folge der Nichtbeachtung von Gruppen, die weder Anhänger des Regimes in Khartum noch der SPLA sind. In Darfur leben nur Muslime, etwa zur Hälfte Schwarzafrikaner und zur Hälfte Araber, die sich aber stark von den Arabern aus dem Niltal (wo Khartum liegt) unterscheiden. Die ganze Region leidet seit einem Jahrhundert unter derselben politischen und ökonomischen Marginalisierung wie der Süden. Aber als Muslime haben die Bewohner ihr Schicksal geduldig ertragen und der herrschenden arabischen Gruppe vertraut, die ihnen Entschädigungen versprach – die nie angekommen sind.9 Als die Bewohner von Darfur im Jahr 2002 sah, wie die SPLA den seit über 20 Jahren andauernden Bürgerkrieg für sich zu nutzen verstand, glaubten sie, auch an den Verhandlungstisch gebeten zu werden, wenn sie nur zu den Waffen griffen. Sie sind auch weiterhin ausgeschlossen – aber es könnte durchaus sein, dass sie so lange kämpfen, bis auch sie dabei sind.

Für den Süden stellt sich die Frage: Wird der Norden die Erdöleinnahmen transparent verwalten und dem Süden den ihm zugesprochenen Anteil zukommen lassen? Hat die SPLA genügend ausgebildete Kader, um die ihnen zustehenden Posten in der Zentralverwaltung auszufüllen? Wie wird das Verhältnis zwischen der Zentralregierung und der von der SPLA gebildeten Regierung des Südens beschaffen sein? Und wenn sich die Dinge anders als vorgesehen entwickeln sollten, kann man dann darauf vertrauen, dass sich die Offiziere der SPLA – von denen viele die lange Übergangsperiode mit Skepsis und Misstrauen sehen – bis zum Referendum im Juli 2011 zurückhalten werden? Im geteilten und ungleichen Sudan, mit seinem reichen Norden und seinem ausgepowerten Süden, wird es noch lange dauern, bis ein wirklicher Frieden erreicht ist.

deutsch von Thomas Hartmann

* Forscher am CNRS (Centre national de recherches scientifiques), Direktor am französischen Zentrum für Äthiopienstudien, Addis Abeba.

Fußnoten: 1 Siehe Gérard Prunier, „Der Friede im Sudan hängt auch von den Nachbarn ab. Der steinige Weg zum Kompromiss.“ Le Monde diplomatique, Dezember 2002. 2 Jean-Louis Péninou, „Als die Reiter Gewehre erhielten“, Le Monde diplomatique, Mai 2004. 3 Die Begriffe „Nord“ und „Süd“ beziehen sich auf die Grenzen im Innern des Landes, wie sie von der britischen Kolonialverwaltung in den 20er-Jahren definiert und 1972 im Friedensvertrag von Addis Abeba bestätigt wurden. 4 Das heißt vor allem ohne Zinsen. 5 Keiner der großen westlichen Erdölkonzerne ist an der Förderung im Sudan beteiligt. Die „Nile Petroleum Corporation“, die 90 Prozent des Erdöls fördert, gehört zu 50 Prozent der China National Petroleum Corporation, zu 30 Prozent dem malaysischen Konzern Petronas, zu 25 Prozent dem staatlichen indischen Konzern ONGC-Videsh und zu 5 Prozent dem staatlichen sudanesischen Unternehmen Sudapet. Total (Frankreich), Sonatrach (Algerien) und russische und japanische Unternehmen besitzen seit 20 Jahren ruhende oder nicht produktive Förderrechte. 6 Diese Opposition hat sich mehr oder weniger unter dem Schirm der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) im Exil in Asmara organisiert und wird von einem alten Routinier der sudanesischen Politik geführt: von Mohammed Osman al-Mirghani, dem Vorsitzenden der Demokratischen Unionspartei (DUP). 7 Die alten demokratischen Parteien DUP und Umma sind stark religiös geprägt; zudem sind sie nach Jahren oftmals schlechter Regierungsbeteiligung verschlissen. 8 Die Zahl der Opfer könnte bereits bei 300 000 liegen – und sie wächst weiter, da die Sicherheitslage die Ausführung des UNO-Nahrungsmittelprogramms für Vertriebene verhindert. Der neueste UN-Bericht spricht zudem von „Verschleppungen, Zerstörung von Dörfern, Vergewaltigungen und anderen Formen sexueller Gewalt, Plünderungen und Vertreibungen in der ganzen Darfur-Region“. 9 Die Provinz Darfur, die etwa ebenso groß ist wie Frankreich, hatte 2002 ganze 170 Kilometer asphaltierte Straßen und durchschnittlich einen Arzt pro 150 000 Einwohner.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von GÉRARD PRUNIER