11.03.2005

Unrentable Kundschaft in Bolivien

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Unrentable Kundschaft in Bolivien

Die bäuerliche und indigene Landbevölkerung Boliviens lebt am unteren Rand des Existenzminimums. Für sie sind die Folgen der Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur besonders hart. Anfang des Jahres führten massive Proteste dazu, dass dem Wassermulti Suez Lyonnaise der Vertrag gekündigt wurde. Aber die Soziale Bewegung ist gespalten, und der politische Gegner im reichen Osten des Landes will mehr Autonomie.

Von WALTER CHÁVEZ *

IM Februar 2003 besuchte eine Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) Bolivien und drängte die Regierung Sánchez de Lozada zu einer kräftigen Erhöhung der Lohnsteuer, um die Lücke im Staatshaushalt auszugleichen, die damals 8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach. Es kam zu einem spontanen Volksaufstand, Teile der Polizei schlossen sich an und kämpften gegen die Armee. Vier Soldaten, dreizehn Polizisten und neunzehn Zivilisten wurden getötet, der Präsident floh für Stunden aus dem Regierungspalast, und die IWF-Delegation saß in einer Suite ihres Fünfsternehotels fest und musste tatenlos zusehen, wie ihre Pläne auf dem Müllhaufen landeten.

Sechs Monate später wollte die Unternehmensgruppe Pacific LNG (bestehend aus der spanischen Repsol YPF, British Energy und Panamerican Energy) durchsetzen, dass bolivianisches Erdgas nach Mexiko und Kalifornien exportiert werden darf. Sie konnte dabei auf die Unterstützung einer Regierung zählen, der wenig daran gelegen war, die Reichtümer des Landes zu dessen eigenen Gunsten zu nutzen – es kam zum so genannten Gaskrieg1 . Zwei Wochen dauernde Proteste und passiver Widerstand mündeten in eine Erhebung der indigenen Landbevölkerung. Trotz der gewaltsamen Unterdrückung und des Eingreifens der Armee – es gab 67 Tote und über 400 Verletzte – sah sich Präsident Sánchez de Lozada zum Rücktritt gezwungen und floh in die Vereinigten Staaten.

Am 11. Januar 2005 war auf dem Altiplano, dem bolivianischen Hochland, wieder der alte Schlachtruf zu hören: „El Alto de pie, nunca de rodillas“ (etwa: El Alto steht, geht niemals auf die Knie). Nach drei Tagen Generalstreik kündigte die Regierung dem französischen Wassermulti Suez Lyonnaise des Eaux den Vertrag. Das Unternehmen betrieb bis dahin die Trink- und Abwasserversorgung in der Hauptstadt La Paz und der riesigen Hochlandvorstadt El Alto, und zwar über ein Subunternehmen namens Aguas del Illimani S. A., an dem auch die Weltbank über ihren privatwirtschaftlichen Arm, die Internationale Finanz-Corporation (IFC), zu 8 Prozent beteiligt ist.

Die Suez Lyonnaise war 1997 im Zuge der von der Regierung Sánchez de Lozada betriebenen Privatisierungen in Bolivien eingestiegen. Der Markt war eigentlich nicht attraktiv genug, aber die Weltbank tat sich mit dem französischen Konzern zusammen, der schließlich die staatliche Samapa ablöste. Die Veränderungen machten sich rasch bemerkbar: In einigen dezentralen Gebieten stiegen die Wassergebühren bis auf das Sechsfache, und die Preise für einen Wasseranschluss verdoppelten sich. Das Gehalt für den neuen Vorstand stieg ebenfalls – von 12 500 auf 65 000 Bolivianos (rund 10 000 Dollar). Auch machten die französischen Beschäftigten von Aguas del Illimani keinen Hehl aus ihrem Rassismus und ihrer Verachtung für die Hochlandbewohner, die in ihren Augen „die schlimmsten Kunden und Verbraucher der Welt“ waren.2

Ende 2004 wurde bekannt, dass die Suez Lyonnaise mit der gegenwärtigen Regierung Carlos Mesa eine Reihe von Vergünstigungen ausgehandelt hatte, die dem Konzern eine Rendite von 12 Prozent sicherten – zu Lasten der als unrentabel geltenden abgelegenen und ärmeren Gebiete im Altiplano. Das für 2004 anvisierte Ziel von 15 000 Anschlüssen wurde kurzerhand auf null zurückgefahren. Daraufhin formierte sich der Widerstand der Sozialen Bewegung im Altiplano gegen die Suez Lyonnaise. Am 10. Januar erklärte schließlich der stellvertretende Minister für den öffentlichen Dienst und öffentliche Bauprojekte, José Barragán: „Etwa 40 000 Haushalte (in El Alto) haben keinen Zugang zu Trinkwasser; das Abwasserproblem ist noch gravierender. Der Vertrag in seiner jetzigen Form sieht vor, alle Hochlandbewohner an die Wasserversorgung anzuschließen. Wir verlangen von Aguas del Illimani, dass sie diesen Vertrag einhalten. Wenn sie den Menschen keine Versorgung anbieten, weil diese arm sind, nicht bezahlen, als Kunden unrentabel sind und so weiter, dann müssen wir uns einen anderen Betreiber suchen.“

Unter dem Druck von mehr als 600 Stadtteilorganisationen aus El Alto gab die Regierung nach und erklärte die „Aufhebung des Konzessionsvertrags mit Aguas del Illimani“. Bolivien hatte den Wassermulti mit legalen Mitteln vor die Tür gesetzt. Dasselbe Schicksal war im April 2000 dem US-Konzern Bechtel zuteil geworden, der ebenfalls für die Trink- und Abwasserversorgung in El Alto und La Paz zuständig gewesen war.

Bolivien ist nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas, hat acht Millionen Einwohner und Auslandsschulden von 5,5 Milliarden Dollar, zu deren Tilgung 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufgewendet werden müssen. 1985 erließ Präsident Víctor Paz Estenssoro vom Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) ein Dekret („Decreto supremo 21060“), das den Weg für die liberale Marktwirtschaft ebnete. Es folgten Rationalisierungen in den Staatsbetrieben, die Entlassung von rund 25 000 Bergleuten und der Zusammenbruch der jungen inländischen Industrie, die der Konkurrenz durch die Importprodukte nicht gewachsen war.

In den 1990er-Jahren wurden die Bodenschätze – in erster Linie Erdöl und Gas – und die Infrastrukturdienstleistungen privatisiert. Diese Entwicklung war von einer weitgehenden Lähmung und Auflösung der Sozialen Bewegung begleitet. Tatsächlich war ein Teil der Linken, zusammengeschlossen im Movimiento de Izquierda Revolucionario (Linke Revolutionäre Bewegung, MIR) und dem Movimiento Bolivia Libre (Bewegung Freies Bolivien, MBL) – beides Mittelschichtsparteien mit einer gewissen Volksnähe –, aktiv am Prozess der Liberalisierung von Politik und Wirtschaft des Landes beteiligt.

Eine radikale politische Wende zeichnete sich seit April 2000 ab, als die Coordinadora del Agua de Cochabamba, ein Zusammenschluss von Kokabauern, Landwirten, Arbeitern und Studenten, den Bechtel-Konzern in die Knie zwang. „Eine soziale Bewegung in einem der ärmsten Länder des Kontinents hat der Globalisierung ihre erste große Niederlage zugefügt“, sagte der Chef der Coordinadora, Oscar Olivera.

Eine neue indigene und bäuerliche Linke machte sich nachdrücklich bemerkbar. Sie hatte nichts von der lebensfremden, doktrinären Linken realsozialistischer Prägung und stützte sich auf eine lange Geschichte indigener Revolten und ein eigenes Repertoire kollektiver Aktionen: Hungerstreiks, Straßenblockaden, Besetzung von Städten, schließlich Aufstände.

Im Juni 2002 wurde der Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus, MAS) unter dem Anführer der Kokabauern, Evo Morales3 , mit 20,5 Prozent der Stimmen zweitstärkste politische Kraft – gegenüber 22 Prozent für den Movimiento Nacionalista Revolucionario (Nationalistische Revolutionäre Bewegung, MNR), die Gonzalo Sánchez de Lozada zum Präsidenten machten.

Auf parlamentarischer Ebene tat sich Entscheidendes: MAS und Movimiento Indígena Pachacuti (Indigene Bewegung Pachacuti, MIP) erhielten zusammen 41 Sitze und setzten durch, dass in den parlamentarischen Debatten die indigenen Sprachen (Aymará, Quechua und Guaraní) gesprochen werden durften. Das war ein erstes – zumindest symbolisches – Anzeichen für die nicht mehr unangefochtene Diskurshoheit der herrschenden Eliten.

Die Soziale Bewegung, allen voran die MAS, hätte nach dem Sturz Sánchez de Lozadas das Machtvakuum durchaus für sich nutzen können, zog es jedoch vor, sich an die Regeln der demokratischen Legitimität zu halten und eine verfassungskonforme Nachfolge zu unterstützen. So übernahm der bisherige Vizepräsident Carlos Mesa das Präsidentenamt.

Tatsächlich hat die Soziale Bewegung nicht vor, Veränderungen dadurch herbeizuführen, dass sie einen Präsidenten durch einen anderen ersetzen lässt – wie es in Argentinien oder Ecuador der Fall war. Sie hat auch nicht vor, an die Macht zu kommen, um eine Diktatur des Proletariats zu errichten, wie es die Linke in den Siebzigerjahren beabsichtigte. Ihr geht es vielmehr darum, die neoliberale Glaubenslehre zu revidieren, die Bolivien in zwanzig Jahren keinen sichtbaren Nutzen gebracht hat.

Die Wut der Sozialen Bewegung auf das neoliberale Modell erklärt sich aus den makroökonomischen Zahlen. Die zwanzig Jahre Neoliberalismus haben lediglich den unternehmerischen und politischen Eliten sowie dem ausländischen Investitionskapital genützt, die inländische Wirtschaft dagegen stagnierte und schrumpfte in einigen Bereichen gar. Als Beispiel mag das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Bolivien dienen: 1980 lag es bei 940 Dollar, heute, nach 25 Jahren der rasanten Kommerzialisierung lebensnotwendiger Güter, beläuft es sich auf 960 Dollar. Das Amt für Statistik in Bolivien (INE) gibt an, dass 58,6 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben; auf dem Land erreicht dieser Anteil 90 Prozent.

Nach dem Human Development Report 2003 des United Nations Development Programme (UNDP) leben die Bewohner ländlicher Regionen von weniger als einem Boliviano täglich (das entspricht 10 US-Cent).4 Da 3,8 der 8 Millionen Einwohner Boliviens Bauern sind, ist die hohe Kampfbereitschaft der vorwiegend aus bäuerlichen und indigenen Vereinigungen und Gewerkschaften bestehenden Sozialen Bewegung nur allzu begreiflich.

Mit der Amtsübernahme durch Carlos Mesa erhielt diese die Zusage für ein Dreipunkteprogramm: Über die Regelung der Erdgasexporte soll per Volksabstimmung entschieden werden; ein neues Gesetz soll die derzeit in ausländischem Besitz befindlichen Bodenschätze wieder zu nationalem Eigentum erklären und die Steuern der Konzerne, die Bodenschätze ausbeuten, um 18 bis 50 Prozent erhöhen; und eine verfassunggebende Versammlung soll einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln.

Im Jahr 2004 geriet die Soziale Bewegung in eine Phase der Stagnation. Ihre Streikaufrufe wurden kaum befolgt, das Engagement der indigenen Bevölkerung ließ nach, und bei den Kommunalwahlen im Dezember bekamen MAS und MIP weniger Stimmen als 2002. Zu tun hat dies sicherlich mit den Fraktionskämpfen innerhalb beider Parteien und mit dem Kampf um die Führung der Sozialen Bewegung. So wurde Evo Morales, der Parteichef der MAS mit guten Chancen für einen Sieg bei den Wahlen 2007, aus dem traditionsreichen Dachverband der Gewerkschaften (Central Obrera Boliviana, COB) ausgeschlossen und von Felipe Quispe, dem Chef der Landarbeitergewerkschaft (Central Sindical de Trabajadores Campesinos de Bolivia, CSUTCB), zum „Feind der Sozialen Bewegung“ erklärt.

Außerdem haben sich im Osten Boliviens, insbesondere in der Provinz Santa Cruz, die konservativen Kräfte aus Unternehmertum und Oligarchie zusammengeschlossen, die eine föderale Struktur des Landes anstreben – das heißt: eine teilweise Autonomie für das reiche Tiefland des Ostens. Sie widersetzen sich vehement der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und fordern „Rechtssicherheit“, damit die Ausbeutung der fossilen Energieträger durch die internationalen Ölkonzerne weiterhin unter den gegenwärtigen Bedingungen vonstatten gehen kann. Diese konservative Bewegung hat in den letzten Wochen an Boden gewonnen. Mit einem Generalstreik und einer Massenveranstaltung hat sie am 27. Januar erreicht, dass Präsident Mesa per Dekret für den kommenden Juni die Wahl von Präfekten – vergleichbar etwa mit Provinzgouverneuren – anordnete. Ihre Einsetzung bedeutet einen klaren Schritt in Richtung Autonomie der reichsten Region des Landes. Diese Maßnahme schiebt sich vor die versprochene Einsetzung einer Verfassungsversammlung und zielt darauf, der Sozialen Bewegung ihre Führungsrolle streitig zu machen.

Gleichwohl „kann sich diese verfahrene Situation positiv auswirken“, sagt Senator Filemón Escóbar von einer Fraktion innerhalb des MAS. „Die Soziale Bewegung kann sie als Signal sehen, ihre Kräfte zu bündeln, ihre Stoßrichtung zu überprüfen und das Hauptziel nicht aus den Augen zu verlieren: die Revision des neoliberalen Modells, auf dass eine gerechtere demokratische Gesellschaft ohne die heute herrschende Ungleichheit entsteht. Wir müssen die Reihen schließen, damit die verfassunggebende Versammlung Wirklichkeit wird.“

Tatsächlich geschieht das bereits. Evo Morales und die MAS wollen weiterhin die Führungsrolle innerhalb der Opposition für sich beanspruchen und die Basis für die Einberufung der verfassunggebenden Versammlung mobilisieren. Morales arbeitet so schon heute an den Wahlen von 2007, die mit der Einsetzung einer legitimen, demokratisch gewählten Regierung der neuen Linken enden könnten. Die Vertreibung des Suez-Lyonnaise-Konzerns hat es gezeigt: Trotz der Versuche konservativer Kreise, die politische Macht zurückzugewinnen, ist der Aufstieg der neuen Linken nicht am Ende.

deutsch von Christian Hansen

* Redaktionsleiter der bolivianischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Fußnoten: 1 Walter Chávez, „Wasserkrieg, Erdgaskrieg, Bürgerkrieg“, Le Monde diplomatique, November 2003. 2 Frank Poupeau, „Vivendi y el agua en Bolivia“, in Informe-Diplo, www.eldiplo.org, 10. 5. 2002 3 Walter Chávez, „Der starke Mann vom Chaparé“, Le Monde diplomatique, Mai 2003. 4 Tageszeitung La Razón, La Paz, 12. 10. 2003.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2005, von WALTER CHÁVEZ