Fünf Versuche, einen Nationalstaat zu errichten
Bei ihrem jüngsten Treffen in Bratislava kamen die Präsidenten Bush und Putin auch auf Kirgisien zu sprechen – als möglichen Standort für eine russisch-amerikanische Militärbasis im Kampf gegen die islamistische Gefahr. Dass diese Gefahr auch für Zentralasien akut werden könnte, hängt mit dem politischen Erbe der ehemaligen Sowjetrepubliken zusammen. Die Machtkonzentration bei den Clans der Autokraten ist mangels demokratischer Strukturen kaum aufzubrechen. Das zeigen auch die erheblichen Defizite, die derzeit von den europäischen Wahlbeobachtern in Kirgisien moniert werden.
Von VICKEN CHETERIAN *
IM Herzen der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe steht ein gigantisches Denkmal des Ismoil Somoni. Der persischsprachige König herrschte im 10. Jahrhundert über ein großes zentralasiatisches Reich. Seine Statue in Duschanbe steht vor einer Art Triumphbogen und trägt eine goldene Krone. Durch den Triumphbogen führt der Weg in einen wunderbaren Rosengarten, in dem man eine große Marmorplatte besichtigen kann, auf der das Reich des Somoni dargestellt ist. Dieses Reich erstreckte sich vom Kaspischen Meer bis zu den Grenzen des heutigen China. Doch seine Hauptstadt war nicht Duschanbe, sondern Buchara, und die liegt nicht in Tadschikistan, sondern im heutigen Usbekistan.
Das Somoni-Denkmal von Duschanbe versinnbildlicht all die offenen Fragen, die sich in Zentralasien im Hinblick auf die nationale Identität und die Grenzen der neuen Staaten stellen. Das Standbild hat 20 Millionen Dollar gekostet, berichten einheimische Journalisten, und zwar im Jahre 1999, als der gesamte Staatshaushalt noch keine 250 Millionen Dollar ausmachte. Symbole sind in Zentralasien eine wichtige Sache,1 und der von staatlicher Seite geförderte Kult einer längst untergegangenen Dynastie wird in Tadschikistan wie in der gesamten Region mit großem Ernst betrieben. Mit anderen Worten: Monumente sind ein Politikum.
Im Nachbarstaat Usbekistan sind die Lenin- und Marx-Denkmäler durch Statuen von Emir Timur ersetzt worden, der im Rest der Welt als Tamerlan bekannt ist. Im Zentrum der Hauptstadt Taschkent sitzt der mongolische Eroberer aus dem 16. Jahrhundert mit gezücktem Schwert auf einem stattlichen Ross. Für die usbekische Regierung ist das Denkmal ein Symbol der Macht, doch in den benachbarten Ländern verbinden sich mit dem Namen des Eroberers andere Erinnerungen: Von Kirgisien bis Georgien ließ Tamerlan verwüstete Städte und Schädelpyramiden zurück. Aber auch für die Usbeken gibt es ein kleines Problem: Timur war gar keiner von ihnen. Die Usbeken eroberten diesen Teil Zentralasiens von Timurs Enkel Babur, worauf dieser nach Indien zog und dort das Mogulreich gründete.
Tadschikistan: Politik der Händler und Bürokraten
ZU Sowjetzeiten war Tadschikistan die ärmste der 15 Republiken, und doch war es Teil einer Supermacht. Heute sind wir einer der ärmsten Staaten der Welt“, erklärt die Soziologin Saodat Olimowa. Deshalb sei es nötig, „eine pantadschikische Identität zu schaffen, um die Frustration und die Schmach des Krieges hinter uns zu lassen“, der das Land in den 1990er-Jahren erschütterte. Doch die Wiederbelebung der nationalen Idee wird nicht so sehr durch mangelnde historische Fantasie behindert als vielmehr durch die tiefe Armut, die in Tadschikistan herrscht. Obwohl in der Landwirtschaft und bei den Exporten ein leichtes Wachstum zu verzeichnen ist, wird die Arbeitslosenrate auf 40 Prozent geschätzt, und das bei einer Bevölkerung, die zur Hälfte aus Jugendlichen unter 18 Jahren besteht. Mutmaßlich bis zu eine Million tadschikische Bürger sind nach Russland oder Kasachstan ausgewandert, wo sie häufig nur illegale Arbeit finden. Zudem macht die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Russland das Leben für Tadschiken und andere Migranten aus den zentralasiatischen Republiken zur Hölle. Sie werden von der Polizei schikaniert und von Unternehmen unter miserablen Arbeitsbedingungen ausgebeutet; als Opfer von Gewaltverbrechen kehren Jahr für Jahr hunderte emigrierte Tadschiken im Sarg zurück in die Heimat.
Tadschikistan ist dabei, die Folgen des furchtbaren Bürgerkriegs zu überwinden, der zwischen 1992 und 1997 zehntausende Menschenleben forderte. Bemerkenswert an diesem Krieg war allerdings auch der Friedensvertrag, der 1997 zwischen der Regierung und der Opposition geschlossen wurde. Nach der damals vereinbarten Formel wurde die Opposition, deren führende Kraft die Partei der Islamischen Wiedergeburt (PIW) ist, an der Macht beteiligt. Ihr wurden von der Regierung 30 Prozent der Posten in der staatlichen Bürokratie zugesagt. In einer Region, in der die früheren kommunistischen Führungen keine Toleranz gegenüber dem politischen Islam aufbringen, war die Präsenz der PIW in der Regierung von Taschkent ein großer Schritt voran, nicht nur zur Beilegung des politischen Konflikts, sondern auch allgemein in Richtung demokratischer Verhältnisse. Denn die PIW ist neben der Volksdemokratischen Partei des Präsidenten und den Kommunisten im Parlament vertreten. In Tadschikistan ist diese PIW die einzige politische Kraft, die nicht die Interessen der staatlichen Bürokratie vertritt, sondern vornehmlich die Basarhändler.
Doch der 11. September 2001 hat die Machtbalance verschoben und die PIW in eine schwierige Lage gebracht, meint Parviz Mullojanow, ein politischer Beobachter in Duschabe: „Sie will sich nicht ihre Beziehungen zum Präsidenten verderben, deshalb lässt sie derzeit nichts von sich hören.“ Selbst wenn der Staatsapparat gegen ehemalige Kämpfer der islamischen Opposition vorgeht und sie aus ihren Regierungsämtern entfernt oder sogar ins Gefängnis wirft, schweigt die PIW, um die Zusammenarbeit mit der Regierung nicht zu gefährden.
Die Folge ist, dass im Untergrund neue Formen radikaler islamistischer Bewegungen nachwachsen, und zwar nicht nur in Tadschikistan, sondern auch in anderen Ländern Zentralasiens. Die bekannteste dieser Bewegungen ist die Hisb ut-Tahrir, die Partei der Befreiung, eine radikale sunnitische Bewegung, die von palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien gegründet wurde und sich für die Wiedererrichtung des Kalifats, also für den Islam als Staatsform, einsetzt. Zwar spielt die Hisb ut-Tahrir in den arabischen Ländern nur eine periphere Rolle, doch in Zentralasien hat sie inzwischen große Popularität erlangt. Wie Mullojanow betont, ist ihr Einfluss in Tadschikistan bislang auf die dort lebenden ethnischen Usbeken beschränkt: „Die Anziehungskraft der Hisb ut-Tahrir beruht auf ihrem Panturkismus, der in Zentralasien unterschiedliche Formen annimmt. Sie spielt eine Rolle, die früher vom Jadidismus2 besetzt war, später dann vom Nationalismus und heute eben von der islamischen Bewegung.“
Usbekistan: Investoren anlocken und verjagen
IM März 2004 kam es in Usbekistan zu tagelangen Schießereien zwischen der Polizei und mehreren Dutzend Kämpfern einer Stadtguerilla, die in Buchara und Taschkent mehrere Polizeistationen angriffen. Im Juli desselben Jahres gab es zwei Selbstmordattentate auf die Botschaften der USA und Israels. Diese von Frauen ausgeführten Attentate mit über fünfzig Toten und Dutzenden von Verletzten haben erneut gezeigt, wie fragil die politische Situation in Usbekistan ist. Zwar hatte es schon vorher terroristische Angriffe gegeben, aber bei den Aktionen von 2004 waren zwei neue Faktoren im Spiel: Erstens gingen sie von Buchara aus, einer bis dahin weitgehend friedlichen Stadt, während die militanten Gruppen ihre Aktionen auf das Fergana-Tal begrenzt hatten. Und zweitens fanden die Terroranschläge erstmals eine gewisse öffentliche Zustimmung. Viele Menschen in Taschkent meinten damals, solange sich die Angriffe gegen die Polizei als ein Symbol der Repression und der Korruption richteten, sei es ihnen egal. Da Usbekistan eine tiefe ökonomische Krise durchläuft, sind mangels anderer Möglichkeiten öffentlicher Artikulation weitere schwerere Attentate durchaus denkbar.
Der usbekische Präsident Islam Karimow hat die Hisb ut-Tahrir beschuldigt, hinter den Anschlägen zu stehen. Die Herrscher Zentralasiens, aber auch russische und US-amerikanische Beobachter sehen in dieser Partei – die das Kalifat fordert, den Einsatz von Gewaltmitteln aber ablehnt – immer mehr ein „Äquivalent von al-Qaida“.3 Die eigentliche Gefahr liegt jedoch darin, dass eine andauernde massive Unterdrückung der Hisb ut-Tahrir zur Herausbildung radikalerer Untergrundorganisationen führen könnte, die eher dazu neigen, ihre politischen Ziele mit gewaltsamen Methoden zu verfolgen.
Im Kern existiert eine solche Gruppe bereits in Gestalt der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU). Die IBU wurde 1998 von usbekischen Veteranen gegründet, die im tadschikischen Bürgerkrieg aufseiten der Opposition gekämpft hatten. Ihr politischer Anführer ist Tahir Juldasch und ihr militärischer Kommandant Juma Namangani. Beide stammen aus dem Fergana-Tal, einer vernachlässigten Provinz Usbekistans, in der Präsident Islam Karimow keine große Popularität genießt. Die IBU hat ihr Rückzugsgebiet in den Bergregionen von Tadschikistan und Kirgisien, in Tawildara bzw. Batken, von wo aus sie ihre bewaffneten Angriffe organisierte: 1999 in Kirgisien und 2000 in Usbekistan. Da sich die IBU auf die Seite der Taliban gestellt hatte, erlitt sie während der US-Invasion in Afghanistan schwere Verluste. Nach Aussagen von US-Militärs kam ihr Anführer Namangani während der Luftangriffe auf Kundus ums Leben. Seitdem waren usbekische Kämpfer an den Kämpfen in der westpakistanischen Stammesregion Wasiristan beteiligt, wo sich die pakistanische Armee und islamische Rebellen gegenüberstehen.4
Weder die Hisb ul-Tahrir noch die IBU könnten für die Stabilität in Usbekistan eine Gefahr darstellen, wenn das Land nicht ohnehin in eine tiefe Systemkrise geraten wäre. Zu Beginn der 1990er-Jahre schlug Usbekistan einen anderen Weg ein als die übrigen postsowjetischen Staaten, die auf eine Politik der vollständigen Privatisierung setzten. Das autoritäre Regime blieb erhalten, und der Staat behielt auch die Aufsicht über die meisten wirtschaftlichen Aktivitäten. Mit diesem System blieb die Stabilität gewahrt, und der ökonomische Verfallsprozess lief milder ab als in den meisten anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Auf diese Weise konnte Usbekistan zunächst auch ausländische Investoren anziehen, zum Beispiel einen deutsch-koreanischen Autohersteller, einen Schweizer Nahrungsmittelkonzern und niederländische Banken. Aber Korruption, staatliche Kontrolle und bürokratische Willkür haben die ausländischen Investoren längst vertrieben. Das Regime hält sich heute mit dem Export von Erzen und Baumwolle über Wasser, wobei die Preise, die die Bauern für die Baumwolle erzielen können, von der Verwaltung festgelegt werden und nur einem Bruchteil ihres Weltmarktpreises entsprechen.
Noch immer, 13 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR, verschlechtern sich die ökonomischen Verhältnisse für die Bürger. Die Lage der Landarbeiter lässt sich nur als eine Art Sklaverei beschreiben: Die Bauern können nicht aus ihrem Kolchos austreten, sie dürfen weder entscheiden, was sie anpflanzen, noch, an wen sie ihre Produkte verkaufen wollen. Wie in anderen Teilen Zentralasiens gibt es auch in Usbekistan eine massenhafte Abwanderung von Bauern und Arbeitslosen in die Hauptstadt, was dort zu einer Reihe ganz neuer sozialer Probleme führt, wie etwa zur Verbreitung von HIV durch Prostitution.5
Die Reaktion der Regierung beschränkt sich darauf, das Land zu isolieren. Die Grenzen wurden geschlossen und vermint, die Bürger der benachbarten Staaten können nur mit Visum einreisen. In jüngster Zeit haben Einschränkungen des traditionellen Basarhandels zu Tumulten in den Städten des Fergana-Tals geführt. Niemand in Taschkent geht heute davon aus, dass ein derart autoritäres Regime ausländische Investitionen anlocken oder Reformen und einen Modernisierungsprozess zustande bringen könnte.
Turkmenistan: neutral und stalinistisch
TURKMENISTAN hingegen ist zu einer Art stalinistischem Themenpark geworden. Während es reihenweise Luxushotels und Präsidentenpaläste gibt, haben etliche Bürger keinen Zugang zu Trinkwasser. Präsident Saparmurat Nijasow hat sich den Titel „Turkmenbaschi“ zugelegt, was „Haupt aller Turkmenen“ bedeutet. Der Präsident ist in der Tat omnipräsent: Er steht bei jeder Zeitung als Gründer des Blattes im Kopf, im Fernsehen ist sein Gesicht bei sämtlichen Programmen in einer Ecke des Bildschirms zu sehen, seine Schriften – unter dem Titel „Ruhnama“ (Buch der Seele) erschienen – sind Pflichtlektüre für alle Studenten und Staatsangestellten.
Der turkmenische Führer hat ein „Social Engeneering“-Programm gestartet, das eine neue Generation von Turkmenen nach seinem eigenen Bilde hervorbringen soll. In den Schulen wurde der Fremdsprachenunterricht abgeschafft. Das nationale Philharmonische Orchester wurde für „unturkmenisch“ erklärt und aufgelöst. Die Schulpflicht ist von 12 auf 10 Jahre reduziert; alle Studienabschlüsse, die seit 1993 außerhalb des Landes gemacht wurden, wurden für ungültig erklärt. Die Zahl der Studenten an Hochschulen und Fachhochschulen ist von 30 000 – im letzten Jahrzehnt als Sowjetrepublik – auf gegenwärtig 3 000 zurückgegangen.6 Die Medien sind zensiert, das Internet wird überwacht, Reisen von und nach Usbekistan sind immer schwieriger. Jeder Dissens wird rücksichtslos unterdrückt, erst recht seit dem gescheiterten Attentat auf Nijasow im November 2002.7
Auf jede Kritik innerhalb der internationalen Organisationen reagieren die turkmenischen Vertreter mit dem Argument, man könne keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes dulden, und drohen, sich aus der betreffenden Organisation zurückzuziehen. Gleichzeitig haben in den letzten Jahren über ein Dutzend turkmenische Diplomaten in ihren Gastländern für sich und ihre Familien um Asyl nachgesucht.
Turkmenistan besteht zu 80 Prozent aus Wüste, und die dort lebenden nomadischen Stämme haben keine starken nationalen Bindungen. Das Land besitzt reiche Erdgasvorkommen, deren zentralistische Förderungs- und Transportstruktur eine enorme Machtkonzentration zur Folge hat; aus den Erlösen wird ein großer Polizei- und Repressionsapparat finanziert. Insgesamt hat die bizarre Herrschaft des Turkmenbaschi zur vollständigen Lähmung des Landes, zum Niedergang der Landwirtschaft und zu Massenarbeitslosigkeit unter den jungen Leuten geführt.
Kirgisien: Demokratie im Clansystem
ALS das offenste Land in Zentralasien gilt immer noch Kirgisien, obwohl auch hier seit etlichen Jahren ein autoritäres Regiment herrscht. Der vergleichsweise ausgeprägte Pluralismus in Kirgisien beruht weniger auf entwickelten politischen Institutionen, die den Bürgern die Ausübung ihrer politischen Rechte ermöglichen. Er rührt eher daher, dass es Präsident Askar Akajew nicht gelungen ist, seine autoritäre Herrschaft durchzusetzen. Wie in Kasachstan und Usbekistan hat die Privatisierungspolitik im Laufe der Jahre auch in Kirgisien ein ökonomisches System hervorgebracht, das um die Familie des Präsidenten zentriert ist. Die profitabelsten Sektoren der Wirtschaft gehören vollständig oder teilweise den engsten Verwandten des Präsidenten; das gilt zum Beispiel für den Luftverkehr, für den Import wichtiger Konsumgüter, für die Baubranche und überhaupt – nach Aussage eines Experten – für jedes Unternehmen, das mehr als eine Million Dollar Jahresumsatz hat.
Am 13. März 2005 wird in Kirgisien die Stichwahl für die Zusammensetzung des neuen Parlamentes stattfinden; für den Oktober ist die Wahl eines neuen Präsidenten vorgesehen, bei der Präsident Akajew nicht mehr kandidieren wird – zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes könnte also ein Elitenwechsel stattfinden. Es wird einen wirklichen Kampf um die Macht geben, meint Alexander Kulinski, ein politische Analytiker in der Hauptstadt Bischkek: „Der Präsident und die ‚Familie‘ werden mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln kämpfen.“ Aber auch über die Gegner des herrschenden Clans macht sich der Parteienexperte keine Illusionen: „Hier gibt es keine (oder nur wenige) demokratische Parteien. Für die meisten ist Demokratie nur ein Lippenbekenntnis, weil man die Gunst des Westens erringen möchte.“
Zu Beginn der 1990er-Jahre galt Kirgisien in der gesamten ehemaligen Sowjetunion als ein Modell für politische Reformen. Präsident Askar Akajew war kein ehemaliger Apparatschik, sondern ein Naturwissenschaftler, der eine politische Liberalisierung durchsetzte, eine freie Presse aufbaute und mit großzügiger Unterstützung durch internationale Organisationen die Privatisierung der Wirtschaft einleitete. Doch die Investitionen aus dem Ausland machten nur einen Bruchteil der früheren staatlichen Subventionen aus, weshalb viele Bergwerke und Fabriken bankrott machten und die russischen Facharbeiter in Scharen aus Kirgisien abwanderten. Der ökonomische Niedergang konnte in jüngster Zeit gestoppt werden, doch die Abwanderungen dauern an und werden auf jährlich 55.000 Menschen geschätzt. Insgesamt sind bereits eine halbe Million Arbeiter aus Kirgisien nach Russland oder Kasachstan gegangen.
Unter diesen Umständen, meint der Politikwissenschaftler Emil Jurajew, könnten die staatlichen Versuche, eine neue nationale Identität aufzubauen, nicht gelingen: „Doch das Gefühl ethnischer Zugehörigkeit wird immer stärker, wie auch die regionalen und die Stammesidentitäten im Land immer ausgeprägter werden. Die staatliche Macht beruht im Wesentlichen auf der Bürokratie der Hauptstadt und auf dem Clansystem.“ In diesem Gebirgsland gibt es nur wenige Verbindungsachsen, die den Zusammenhalt befördern, und viele Beobachter befürchten, dass im Falle eines Machtkampfes das Land zerfallen könnte: im Norden das Chui-Tal mit der Hauptstadt Bischkek, im Süden das Fergana-Tal mit Osch, der zweitgrößten Stadt des Landes.
Kasachstan: Eine neue Dynastie
KASACHSTAN ist das einzige Land, dessen Wirtschaft dank den lukrativen Rohölexporten einen Produktivitätszuwachs verzeichnen kann. Im Jahr 2003 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 9 Prozent, und die Investitionen ausländischer Unternehmen beliefen sich auf 2,1 Milliarden Dollar.8 Nach zehn Jahren Bevölkerungsrückgang beginnt sich derzeit der demografische Trend umzukehren: Viele Familien kehren nach Kasachstan zurück, ja mehr noch: Arbeit Suchende aus der ganzen ehemaligen Sowjetunion kommen hierher; Almati, das wirtschaftliche Zentrum des Landes, wirkt wie eine permanente Baustelle, ständig entstehen neue Einkaufszentren und Geschäfte; die Straßen ersticken im Autoverkehr.
Doch Kasachstan leidet noch immer an den alten politischen Krankheiten. Überhastete ökonomische Reformen haben die soziale Kluft zwischen den Schichten vertieft: ein Viertel der Bevölkerung lebt heute unterhalb der Armutsgrenze. Die beiden stärksten Parteien bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober 2004 waren Oton („Vaterland“) des Präsidenten Nursultan Nasarbajew und Asar („Gemeinsam“), die von der Präsidententochter Dariga Nasarbajewa geleitet wird. Die wichtigste Oppositionsgruppe, eine Koalition aus der Kommunistischen Partei und der Demokratischen Alternative für Kasachstan, schaffte es nicht, ins Parlament zu kommen. Obwohl die Partei der Präsidententochter nur 4 der 77 Parlamentssitze erringen konnte, verstärken sich die Gerüchte, dass Dariga Nasarbajewa, nachdem sie schon die kasachischen Medien dominiert und auch in der Wirtschaft eine aktive Rolle spielt, sich auf die Rolle als Nachfolgerin ihres Vaters vorbereitet. Sollte sie tatsächlich Staatschefin werden, würde damit – nach dem Wahlerfolg des Präsidentensohns Ilham Alijew in Aserbaidschan – eine weitere neue Dynastie entstehen.
Republiken ohne Republikaner
DIE fünf zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion erlangten 1991 die Unabhängigkeit nicht etwa, weil die Menschen für die Unabhängigkeit auf die Straße gegangen waren, ganz im Gegenteil: Anders als in den baltischen Staaten und im Kaukasus waren in Zentralasien die Herrschenden (und, wie das Unionsreferendum von 1991 zeigte, auch die Öffentlichkeit) bis zum Schluss für den Erhalt der Sowjetunion. Alle fünf Präsidenten, die heute in den Staaten Zentralasiens regieren und ihnen den Stempel aufdrücken, sind im Laufe der 1980er-Jahre, also in den instabilen Perestroika-Jahren an die Macht gekommen und haben auf verschiedene Weise in den Jahren nach 1991 ihre politische Legitimität neu zu begründen versucht: Kasachstan und Kirgisien setzten auf eine Politik der Privatisierungen und der politischen Reformen; Usbekistan und Turkmenistan blieben bei den Prinzipien der Planwirtschaft und des Staatsdirigismus; in Tadschikistan drohte 1992 zunächst der Zerfall des Landes durch einen heftigen Bürgerkriegs, bevor es 1997 zu der bemerkenswerten nationalen Versöhnung kam. Doch in allen fünf Staaten erkennt man eine gemeinsame Tendenz: die Konzentration der Macht in den Händen des Staatsoberhaupts.
In keinem der fünf Länder war die Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit, denn aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen erfreute sich das Projekt der Nationalstaatsbildung nur geringer politischer Beliebtheit. Stattdessen verlässt man sich lieber auf gesellschaftliche Netze, die nach dem Prinzip regionaler Solidarität funktionieren.
Allerdings gibt es auch Gruppierungen, die einen regionalen Zusammenschluss anstreben – in den frühen 1990er-Jahren unter dem einheitlichen Banner der Turkvölker, heute unter dem Banner des Islam. Die Herrschaftseliten, die noch in der alten sowjetischen Tradition groß geworden sind, qualifizieren den Islam nur mit Begriffen wie „extremistisch“ und „terroristisch“. Sie sind außerstande, in der islamischen Religion etwas anderes als eine Art Folklore zu sehen, und das in einer Zeit, da der Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie – und Repression – eine Neubewertung des Islam in der Geschichte und Gegenwart Zentralasiens notwendig macht. Dabei geht die fortwährende Unterdrückung islamischer politischer Gruppen und diverser Sekten einher mit einer immer stärkeren Islamisierung der Gesellschaften. Damit ist selbst für die säkularsten der fünf Länder, Kasachstan und Kirgisien, vorauszusehen, dass sich der politische Islam noch weiter radikalisieren wird.
deutsch von Niels Kadritzke
* Journalist und Projektleiter von Cimera, einer NGO in Genf, die in der Kaukasusregion, in Zentralasien und auf dem Balkan für die Weiterbildung von Journalisten tätig ist.