Es war einmal in Nicaragua
Nachruf auf eine Revolution – 30 Jahre danach von Hernando Calvo Ospina
César Augusto Sandinos Antwort an einen nordamerikanischen Offizier, der ihn zur Kapitulation aufgefordert hatte, bewies Entschlossenheit: „Ich ergebe mich nicht. Ich erwarte Sie hier. Wenn ich kein freies Vaterland haben kann, will ich lieber sterben.“
Im frühen 20. Jahrhundert hatte Nicaragua bereits mehrere Invasionen der USA hinter sich. Seit 1854 mischten sich die Nordamerikaner militärisch in die Politik des Landes ein. Auch Großbritannien versuchte, dessen Atlantikküste unter seine Kontrolle zu bringen, denn beide Großmächte planten lange Zeit eine Kanalverbindung zwischen Pazifik und Atlantik auf nicaraguanischem Gebiet, bevor die Entscheidung für den 1914 vollendeten Panamakanal fiel.
Unter dem Vorwand, die politischen und militärischen Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen im Land zu schlichten, entsandte US-Außenminister Philander C. Knox im September 1909 ein Truppenkontingent nach Nicaragua, das erst 1925 wieder abzog. Ein Jahr später landeten erneut mehr als 5 000 amerikanische Marinesoldaten und blieben bis 1933, diesmal vorgeblich, um die drohende Eroberung des Landes durch die „mexikanischen Agenten des Bolschewismus“ zu verhindern.
Einer dieser „Agenten“ war Sandino. Zwar betrachtete er sich selbst als liberal, doch 1927 griff er zu den Waffen, nicht nur um die US-Invasoren, die er wahlweise als „Imperialisten“ oder „Kokainistenbande“ bezeichnete, zu bekämpfen, sondern auch gegen die liberal-konservative Elite Nicaraguas. Diese betrachtete er als repressiv, ausbeuterisch und rassistisch. Außerdem warf er ihr den Ausverkauf des Landes vor. „Sandino hat von den anarchistischen Gewerkschaften in Mexiko die schwarz-rote Fahne und vom Salvadorianer Farabundo Martí1 die Analyse der Klassengesellschaft übernommen“, erklärt der Soziologe Orlando Nuñez. „In seinen Schriften formulierte er die Notwendigkeit einer lateinamerikanischen Einigung, von der schon Simón Bolivar geträumt hat, aber er spricht auch davon, die indigene Bevölkerung einzubinden und das Bündnis mit den einheimischen Unternehmern zu suchen, um dem US-Imperialismus die Stirn zu bieten.“
Bedrängt von der kleinen Guerilla, die Sandino, der „General der freien Männer“, um sich geschart hatte, wurden die US-Truppen zu Anfang der Großen Depression aus Kostengründen abgezogen. Zurück ließen sie eine Nationalgarde unter Führung eines einheimischen Offiziers, der seine Ausbildung in Militärakademien der USA absolviert hatte: Anastasio Somoza. Am 21. Februar 1934 folgte Sandino einer Einladung der Regierung zu Verhandlungen. Beim Verlassen des offiziellen Empfangs bei Präsident Juan Bautista wurde er ermordet. Einige Monate danach gab Somoza zu, dass die Anweisung zu diesem Mordanschlag vom US-Botschafter Arthur Bliss Lane gekommen war.
Unter der Vormundschaft Washingtons hielt sich die Somoza-Dynastie – Anastasio (1936–1956), Luis (1956–1963), Anastasio Junior (1967–1979) – mehr als vier Jahrzehnte an der Macht. 1960 gründeten Carlos Fonseca Amador, Tomas Borge und andere nicaraguanische Intellektuelle unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN). Lange Zeit waren die Erfolge dieser Guerilla eher bescheiden, vor allem weil es den Kämpfern an Erfahrung im Umgang mit der Landbevölkerung fehlte. Doch die Machtfülle und der Machtmissbrauch der Familie Somoza und deren Willfährigkeit gegenüber den USA schürten auch in Teilen des Bürgertums Unzufriedenheit.
Ein guter demokratischer und katholischer Eindruck
Dort keimte die Hoffnung, man könne sich im Bunde mit der FSLN des Diktators entledigen und politisches Territorium zurückerobern. Auf der anderen Seite erkannten die Sandinisten, dass mit dieser Annäherung ihre Ziele in greifbare Nähe rückten. Auch das Zusammengehen mit den Anhängern der christlichen Befreiungstheologie – verstanden als eine Kirche der Armen – war ein entscheidender Schritt. Während die Diktatur die Repression verschärfte, gewann die linke Guerilla mit einigen spektakulären militärischen Erfolgen im Jahr 1978 auch international viel Sympathie. Die US-Regierung unter Präsident Carter (1977–1981) konnte Somoza nicht mehr stützen. Am 19. Juli 1979 endete der bewaffnete Aufstand mit dem Sturz des Diktators.
Die sandinistische Revolution stieß international – insbesondere bei den europäischen Linken – auf viel Sympathie. Dass zahlreiche Bürgerliche an der Macht beteiligt waren, bekräftigte die Hoffnung, zumal der sozialdemokratisch orientierten Regierungen, auf ein moderates politisches System. Carlos Fonseca, der Sohn des FSLN-Gründers, erinnert sich: „Die Revolution hat Begeisterungsstürme ausgelöst. Alle, die damals jung waren, hat diese politische Atmosphäre zutiefst geprägt. Nichts schien uns unmöglich.“
In weniger als zehn Jahren sorgte die Bildungskampagne der Regierung unter dem jungen Daniel Ortega für einen Rückgang des Analphabetentums von 54 auf 12 Prozent. Menschen aus einfachen Verhältnissen erhielten Zugang zu höherer Bildung. Gesundheitsversorgung war nicht länger das Privileg einer Minderheit. Bauern profitierten von der teilweisen Enteignung und Neuverteilung von Großgrundbesitz. Wichtige Ressourcen wurden verstaatlicht. Die Regierung drängte die Arbeiter zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss und die kleinen Bauern zur Gründung von landwirtschaftlichen Kooperativen. „Es begann ein Prozess der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Organisation auf der untersten Ebene“, sagt Orlando Nuñez.
Doch dafür wäre ein Umbau des politischen Systems und eine andere Wirtschaftsordnung nötig gewesen. An diesem Punkt kam es innerhalb des Regierungsbündnisses sehr bald zu Zerwürfnissen. Die mit der FSLN verbündeten Bürgerlichen wollten zwar die Diktatur stürzen, aber keinesfalls die rechtsstaatliche Ordnung in ihrer überkommenen Form antasten. Die Revolutionäre dagegen betrachteten ihre liberalen Mitstreiter als Mittel, um international in einem günstigeren Licht dazustehen und so einem möglichen Boykott oder militärischen Angriff zu entgehen. Nuñez: „Die Revolution musste den Eindruck einer demokratischen und katholischen Gesinnung erwecken. Mit anderen Worten: Sie durfte die Interessen der Vereinigten Staaten und Europas nicht erkennbar gefährden.“
Doch die Rechnung ging nicht auf. Noch unter Jimmy Carter rüsteten die Vereinigten Staaten die ehemaligen Nationalgardisten Somozas zum konterrevolutionären Kampf. Und Präsident Ronald Reagan war kaum im Amt, als er sich im Januar 1981 zu der Behauptung verstieg, Nicaragua sei gegenwärtig das größte Sicherheitsproblem für die USA. US-amerikanische Offiziere und Söldner, darunter etliche Exilkubaner, bildeten in Honduras, El Salvador und Costa Rica die konterrevolutionäre Guerilla aus. Vom Grenzgebiet der Nachbarländer aus griffen diese Contras nicaraguanische Soldaten und Zivilisten an. „Meine Generation wurde zum Kriegführen gezwungen“, erzählt Carlos Fonseca Junior. „Ich war fünfzehn, als ich an die Front gehen musste, wie tausende andere Nicaraguaner auch. Unsere Gegner waren die traditionelle Oligarchie im eigenen Land und die Vereinigten Staaten.“
„Gottlose“, „Kriegstreiber“, „Kommunisten“, „totalitäre Exporteure der Revolution“, „Drogenhändler“ – gekämpft wurde nicht nur mit Waffen. Die Tageszeitung La Prensa und andere konservative Medien in Nicaragua lieferten die Munition für eine internationale Diffamierungskampagne.
Die Kriegswirtschaft brachte Nahrungsmittelknappheit und Rückschritte bei den Sozialreformen. Schon allein deshalb verbreitete sich Missstimmung in der Bevölkerung. Überdies spielten viele Maßnahmen der Sandinisten den Contras direkt in die Hände. Diese gewannen Anhänger bei den Kleinbauern, für die die massiv geförderten staatlichen Genossenschaften eine unfaire Konkurrenz darstellten. Auf Widerstand stießen auch dirigistische Handelsbeschränkungen und Preisdiktate, ebenso die im September 1983 eingeführte allgemeine Wehrpflicht.
Die indigenen Miskitos an der Atlantikküste wurden zwangsweise evakuiert, und es kam zu Massenverhaftungen. Jacinto Suárez kämpfte damals auf Seiten der FSLN und ist heute deren Abgeordneter im Zentralamerikanischen Parlament. „Es gelang uns damals nicht, ein gutes Verhältnis zur Landbevölkerung aufzubauen“, sagt er. „Wenn ich heute mit ehemaligen Anführern der Contras rede, wird mir klar, dass wir da schwere Fehler gemacht haben. Wir haben Teile der Bauernschaft und der indigenen Bevölkerung angegriffen. So mancher von uns glaubte, dass ihm die Waffe in der Hand das Recht gab, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen.“
Obwohl die Contras in diesem Konflikt, der insgesamt 29 000 Menschenleben kostete, enorme Verwüstungen anrichteten, verfehlten sie ihre militärischen Ziele. Den Regierungstruppen gelang es, sie in einem schmalen Landstreifen, dem „Contra-Korridor“, festzuhalten. 1984 gewannen die Sandinisten überlegen die Präsidenten- und Parlamentswahlen. Zudem regte sich in den USA Widerstand gegen die Unterstützung der Contras. 1986 wurde die Iran-Contra-Affäre öffentlich: Die US-Regierung hatte heimlich Waffen an Iran verkauft und mit diesem Geld die Contras finanziert. Zudem hatten die Contras mit Rückendeckung der CIA Drogenhandel betrieben.
1987 wurden die Vereinigten Staaten vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen der Verminung der nicaraguanischen Häfen zu einer hohen Entschädigungszahlung verurteilt.
Der Krieg gegen die Contras hatte das arme Nicaragua wirtschaftlich völlig erschöpft, das Land teilweise verwüstet und die Bevölkerung demoralisiert. Nach Friedensverhandlungen zwischen Sandinisten und Contras wurden am 25. Februar 1990 Präsidentenwahlen abgehalten, bei denen die bürgerliche Kandidatin Violeta Chamorro siegte, Anführerin des Nationalen Oppositionsbündnisses UNO. Im Verlauf des Wahlkampfs konnten die Sandinisten laut Meinungsumfragen noch auf die Unterstützung von 53 Prozent der Bevölkerung zählen. Doch dann marschierten die USA in Panama ein, und die Regierung beging einen verhängnisvollen Fehler.
„Dank der Verhandlungen mit den Contras schien das Land endlich einem Frieden nahe“, sagt Jacinto Suárez. „Endlich hörte das Töten auf, und es zeigte sich ein Licht am Ende des Tunnels. Aber als die Amerikaner in Panama einmarschierten, umstellten Panzer die US-Botschaft in Managua.2 Bewaffnete Sandinisten marschierten durch die Straßen, um Solidarität mit dem Nachbarland zu demonstrieren. Zwei Tage danach lagen wir in den Meinungsumfragen nur noch bei 34 Prozent. Dieser Trend ließ sich nicht mehr umkehren. Die Leute hatten Angst, dass unter einer sandinistischen Regierung der Krieg weitergehen würde.“
Den Wahlverlierern blieben noch wenige Wochen, um mit Violeta Chamorro eine geordnete Machtübergabe auszuhandeln. Gegen den Widerstand der Vereinigten Staaten akzeptierte die neue Präsidentin, den Sandinisten das Kommando über Armee, Polizei und Geheimdienste zu überlassen, wobei Letztere allmählich aufgelöst werden sollten. Die Europäer spielten bei diesem Friedensprozess die Rolle des Vermittlers. Insbesondere der spanische Ministerpräsident Felipe González „übernahm eine Aufgabe, die die Gringos nicht direkt erledigen konnten“, versichert der damalige Armeeinspekteur Lenín Cerna. „Schon bald danach hatten sie alle unsere Geheimdienste in der Hand.“ Immerhin behielten die Sandinisten die Kontrolle über Armee und Polizei. Der letzte hohe Offizier, der seine Laufbahn als sandinistischer Guerillero begann, wird demnächst in Pension gehen.
Nachdem die Contras aufgelöst waren, gliederten sich ihre Angehörigen mehr oder weniger erfolgreich in die nicaraguanische Gesellschaft ein. Die neue Regierung und die Oligarchie begannen zunehmend, die Vereinbarungen zur Machtübergabe in Frage zu stellen. Zugleich gingen sie daran, die sozialen Errungenschaften der Revolution zu demontieren. Der Wind hatte sich gedreht. Das war auch für Israel Galeano, einen ehemaligen Anführer der Contras, eine bittere Erfahrung: „Erst hat die Oligarchie mit eurer Hilfe den Somoza-Clan verjagt. Dann hat sie uns benutzt, um euch aus der Regierung zu jagen. Keiner von uns hat etwas davon gehabt. Nur die Oligarchie hat am Ende triumphiert.“3
Elena Aguilar war einst militante Sandinistin und arbeitet heute an der Arbeiter-und-Bauern-Schule „Francisco Morazán“ in einem Vorort von Managua. Sie schildert, wie die alten Eliten des Landes nicht nur den Staat betrogen, sondern auch die Bauern, die in den 1980er-Jahren von der Umverteilung des Ackerlands profitiert hatten. „Zunächst erklärte man den Bauern, dass die alten Eigentümer ihr Land zurückverlangten, stattdessen aber vom Staat entschädigt würden. Tatsächlich hat der Staat großzügige Entschädigungen gezahlt. Das hat die Alteigentümer aber nicht daran gehindert, später die Rückübertragung von „gestohlenem“ Land einzuklagen. Es kam zu endlosen Gerichtsverhandlungen. Die Bauern und die Kooperativen konnten sich diese Prozesse nicht leisten. Irgendwann tauchten angebliche Berater auf und rieten den Leuten zum Vergleich. Viele verkauften ihr Land billig an die Kläger. Rein zufällig gab es enge Familienbande zwischen diesen Klägern und einigen hohen Ministerialbeamten.“
Mit Violeta Chamorro hielt der Neoliberalismus in Nicaragua Einzug – zum Vorteil vor allem US-amerikanischer, aber auch europäischer und asiatischer Konzerne. Öffentliche Güter wurden verschleudert, die Spekulation blühte. „In nur wenigen Jahren“, sagt Orlando Nuñez, „haben diese Leute die ohnehin schwache Mittelschicht im Land so gut wie eliminiert und den vielen Kleinbetrieben auf dem Land und in den Städten den Boden entzogen. Sie haben Nicaragua in seine bisher schlimmste wirtschaftliche, soziale und finanzielle Krise gestürzt.“
Unter den Präsidenten Violeta Chamorro, Arnoldo Alemán und Enrique Bolaños gingen die meisten Errungenschaften der Revolution zum Teufel. Die Löhne schrumpften auf Grund der Inflation um ein Drittel, die Arbeitslosigkeit erreichte 45 Prozent, die Verarmung zog immer weitere Kreise.
Unaufhaltsam schien der deprimierende Rückfall in alte Zeiten. „Die Revolution hat nicht lange genug gedauert, um das System zu erneuern“, erklärt Carlos Fonseca. „Sie ist an den politischen und wirtschaftlichen Realitäten und an dem Krieg gescheitert, den man ihr aufgezwungen hat. Die aktive Teilhabe der Bevölkerung an der Macht war nicht institutionell gefestigt, sonst hätte der Neoliberalismus nicht so leicht die sozialen Errungenschaften aushebeln können.“
Ernüchternd ist, dass der Widerstand gegen diesen Neoliberalismus durch Spaltungen und erbitterte Kämpfe unter den Sandinisten untergraben wurde. Beim Parteikongress von 1994 eskalierte die Auseinandersetzung. Mit 12 von 15 Sitzen im Parteivorstand siegte Ortegas radikaler Flügel. Für sein autoritäres Vorgehen wurde er wiederholt scharf kritisiert. Viele prominente Funktionäre, darunter fast alle früheren FSLN-Minister und Abgeordneten, traten aus der Partei aus und gründeten die Bewegung der Sandinistischen Erneuerung (MRS).4
Zwölf Jahre später siegte die FSLN unter Ortega bei den Präsidentenwahlen am 5. November 2006 mit 38 Prozent der Stimmen. Um das zu erreichen, hatte sich Ortega immer wieder auf politischen Kuhhandel und Kompromisse eingelassen, die die alten Anhänger vor den Kopf stoßen mussten. So hatten in der Vergangenheit Sandinisten und Konservative gemeinsam dafür gesorgt, dass der ehemalige Präsident Arnoldo Alemán wegen Korruption angeklagt und verurteilt wurde. Nun bot Ortega dem zu 20 Jahren Haft verurteilten Politiker die Freilassung – formell als Umwandlung der Strafe in einen angeblichen Hausarrest –, falls sich Alemáns Liberale Verfassungspartei (PLC) aus dem Präsidentenwahlkampf heraushielt. Ebenso erstaunlich war der „Nichtangriffspakt“ der Sandinisten mit Kardinal Miguel Obando y Bravo: In den 1980er-Jahren war der Kleriker einer der wütendsten Feinde der Sandinisten gewesen, doch angesichts des Vormarschs evangelikaler Sekten in Lateinamerika sah er den Vorteil eines solchen Bündnisses für die Katholiken und spielte mit.
An die Macht durch vorteilhafte Allianzen
„Wir haben konsequent vorteilhafte Allianzen mit den Parteien der Oligarchie angestrebt“, erzählt Eden Pastora5 , der legendäre Comandante Zero aus den Tagen der Revolution und spätere Überläufer zu den Contras, der dann nochmals die Seite wechselte: „Mal machen wir mit den einen gemeinsame Sache, dann wieder mit anderen. So sind wir vorangekommen, aber wir verkaufen uns nicht. Es ist uns gelungen, den Gegner zu spalten und zu schwächen. Anfangs hatte ich auch meine Probleme mit dieser Strategie, aber ich bin der nüchternen Einsicht gefolgt: Wenn uns solche Pakte an die Macht bringen und uns in die Lage versetzen, unsere Gesellschaftsreform fortzusetzen, dann sind sie gerechtfertigt.“ Lenín Cerna sekundiert: „Unsere Bündnisse während der Opposition waren rein taktische Manöver. Was Taktik und Strategie angeht, macht uns so schnell keiner etwas vor. Wir waren schließlich mal Guerilleros und Offiziere, dann erst sind wir Politiker geworden.“ So viel Pragmatismus ist für viele nicht mehr hinnehmbar.
Bei den Kommunalwahlen vom 9. November 2008 siegte die FSLN dennoch in 105 von 146 Gemeinden. Zuvor hatte Ortega die beiden wichtigsten Oppositionsparteien trickreich von der Wahl ausgeschlossen: die konservative PC und die 1994 von der FSLN abgespaltene MRS. Es gab auch Vorwürfe des Wahlbetrugs, zumindest der Intransparenz.
Dennoch: Seit Beginn der sandinistischen Präsidentschaft am 10. Januar 2007 sind Gesundheitsvorsorge und Bildung wieder umsonst. Hinzu kommt ein „Null Hunger“-Programm: Millionen Kinder erhalten in den Schulen täglich eine unentgeltliche Mahlzeit. Um die Abhängigkeit des Landes von Nahrungsmittelimporten zu verringern, vergibt die Regierung zudem Ackerland und Kredite zu sehr niedrigen Zinsen an kleine und mittlere Produzenten. Mehrere hunderttausend Familien kamen bereits in den Genuss dieser Initiative, die von Frauen verwaltet und in Kooperativen organisiert wird. „Die Frauen sind am verlässlichsten und fast immer für das Überleben der Familie verantwortlich“, erklärt Elena Aguilera. „Und zwar umso mehr, als die Männer immer häufiger auswandern müssen, weil sie in Nicaragua keine bezahlte Arbeit finden.“6 Die Frauen erhalten eine Ausbildung und ein Startkapital in Form von Kühen, Schweinen und Getreide. Sie bezahlen nur 20 Prozent ihrer Darlehen zurück. Der Rest soll kapitalisiert werden und ihnen helfen, als Selbstversorgerinnen auf eigenen Beinen zu stehen. Im Rahmen des Programms „Null Wucher“ vergibt der Staat zu einem Zinssatz von 5 Prozent (statt der üblichen 25 Prozent) Kredite an Selbständige.7
Außerdem weht der politische Wind in der Region jetzt aus einer anderen Richtung. Im Rahmen der Wirtschaftsgemeinschaft Bolivarianische Allianz für unser Amerika (Alba)8 tauscht Nicaragua Bohnen, Fleisch und Leder gegen Erdöl aus Venezuela.9 Die Alba finanziert über solche Tauschgeschäfte und über ihre Entwicklungsbank einen wesentlichen Teil der Sozialprogramme im Land, wie die Alphabetisierungskampagne und die kubanischen Augenärzte, die mit modernem Gerät aus Venezuela arbeiten.
Im Februar trat der neue US-Botschafter Robert Callahan in Managua sein Amt an. Diese Personalie hat alte Wunden wieder aufgerissen, denn in den 1980ern war derselbe Callahan Presseattaché der diplomatischen Vertretung der USA in Honduras unter John Negroponte. Zu dieser Zeit steuerte die CIA von dort aus die Offensive der Contras. Präsident Ortega hat dem Botschafter im Februar schon einmal mit Ausweisung gedroht.
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann
Hernando Calvo Ospina ist Journalist und Autor von „Colombie. Derrière le rideau de fumée. Histoire du terrorisme d’Etat“, Paris (Pantin) 2008.