Sättigung oder zwei Grenzen des Wachstums
John Maynard Keynes hat über die kleine Not des Augenblicks hinausgedacht von Karl Georg Zinn
Die erste große Wirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts markiert das Ende eines gescheiterten wirtschaftspolitischen Experiments. Oberflächlich betrachtet erscheint sie als eine Finanzkrise, die den Einbruch des realwirtschaftlichen Wachstums ausgelöst hat. Tatsächlich aber hatten wir es von Anfang an mit einer Doppelkrise zu tun, deren Ursachen bis in die 1970er-Jahre zurückreichen.
Damals wollte man die hohen Wachstumsraten der Zeit zwischen 1950 und 1973 wiederhaben. So wäre Vollbeschäftigung zu erreichen, lautete das hohle Versprechen. In den folgenden drei Jahrzehnten hat sich die Wirtschaftspolitik bemüht, Wachstum durch marktradikales Neo-Laissez-faire und eine beispiellose globale Kreditexpansion zu stützen. Doch die Hoffnungen, auf diese Weise die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden, haben sich nicht erfüllt.
Der Fehler lag in der grundsätzlichen Fehleinschätzung der Wachstumsmöglichkeiten hoch entwickelter kapitalistischer Volkswirtschaften – schließlich war für diese das Wachstumsparadigma schon in den 1970er-Jahren überholt. Dafür lassen sich zwei prinzipielle Begründungen heranziehen: die „ökologische“, nach der auf dem begrenzten Planeten Erde kein unbegrenztes Wachstum möglich ist,1 und die auf John Maynard Keynes (1883–1946) zurückgehende Theorie der endogen bedingten Wachstumsabschwächung.
Diese langfristig angelegte Theorie – und zugleich Prognose – wurde nach 1945 in der politischen wie in der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte weitgehend verdrängt. Dabei lohnt es sich, den „verborgenen“ Keynes zu entdecken, weil er die dauerhafte Wachstumsabschwächung weit im Voraus diagnostiziert und seine Prognose durch wirtschaftspolitische Empfehlungen ergänzt hat, die gerade heute wieder von hoher Aktualität sind.
Die Beschäftigung mit der Theorie der endogenen Wachstumsabschwächung ist umso wichtiger, als die meisten Ökonomen auch jetzt noch an der Vorstellung festhalten, der einzig gangbare Weg aus der Krise führe über eine Wachstumsbelebung. Es kann doch niemandem entgangen sein, dass ein erheblicher Teil des ohnehin relativ niedrigen Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahrzehnte nur eine Art Scheinblüte war, die erst durch die finanzkapitalistische Verschuldungsorgie möglich wurde. Dabei hat die maßlose Kreditexpansion bei Investoren und Konsumenten die Überakkumulation in ganz neue Dimensionen getrieben. Deshalb wird nun auch der Abbau von immensen Überkapazitäten unvermeidlich – und entsprechend viel Sachkapital vernichtet.
Es gibt eine Alternative zu diesem wachstumspolitischen Irrweg. Aber sie wird (noch) ignoriert. Damit werden auch Chancen vertan, etwas gegen die – im Vergleich mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – viel bedrohlichere ökologische Krise zu unternehmen. Die Bewältigung der ökologischen Probleme wird damit wieder einmal den wirtschaftlichen Interessen unter- beziehungsweise eingeordnet. Die ökologische Zeitbombe wird nicht entschärft, weil die relativ kleine Not des Augenblicks die viel größere künftige Not überdeckt und außer Acht geraten lässt.
Dieselben Politiker, Banker und Manager samt den Heerscharen besser verdienender Lobbyisten und Thinktanker, die seit den 1980er-Jahren die Überliberalisierung auf nationaler und internationaler Ebene vorangetrieben und staatliche Interventionen verteufelt hatten, scheinen neuerdings eine Kehrtwende vollzogen zu haben. Doch der Schein trügt. Die Wirtschaftseliten haben keineswegs auf einmal das Gemeinwohl für sich entdeckt, dem sie nun mit echten Reformen aufhelfen wollen. Warum auch? Die vergangenen 30 Jahre der Umverteilung von unten nach oben, die auf der globalen Expansion kapitalistischer Praktiken und der Schwächung der arbeitenden Bevölkerung und ihrer gewerkschaftlichen Vertretungen beruhte, waren für die Kapitaleigner und ihre Klientel eine glänzende Epoche. Und so soll es möglichst weitergehen – trotz und wegen der großen Krise. Dazu braucht die kapitalistische Wirtschaft heute wieder den Staat: zum einen, um die Verluste zu sozialisieren, und zum anderen, um den Wahlbürgern weiszumachen, dass alles nur ja zu ihrem Besten geschehe.
Doch ganz passiv war der Staat auch vorher nicht. Denn ohne ihn hätte es gar nicht zu der „Entstaatlichung“ der letzten 30 Jahre kommen können. All die Deregulierungen, Privatisierungen, Flexibilisierungen und in deren Gefolge die extreme Konzentration des Reichtums an der Spitze der Verteilungspyramide waren nur dank der Agentenfunktion der Politik(er) möglich. Um eine solche gegen die breite Mehrheit der arbeitenden Menschen gerichtete Politik durchsetzen zu können, bedurfte und bedarf es stets wirkungsvoller Ideologiearbeit. Jahrelang wurde der Neoliberalismus propagiert. Jetzt, in Zeiten der Krise wird wieder hervorgeholt, was die englische Wirtschaftswissenschaftlerin Joan Robinson als „Bastardkeynesianismus“ bezeichnet hat. Denn das, was die Medien und politischen Propagandisten landauf, landab als den Keynesianismus präsentieren, ist nicht einmal die halbe Wahrheit: Zum einen wird weder die Keynes’sche Analyse der langfristigen Entwicklung des Kapitalismus noch seine Prognose abnehmender Wachstumsraten thematisiert oder gar wirtschaftspolitisch aufgegriffen. Zum anderen sind die Wendehals-Keynesianer unserer Tage offenbar nicht in der Lage, die Pfadabhängigkeit der gegenwärtigen Krise zu begreifen.
Nur wenige von den historisch interessierten Ökonomen bemühen sich um einen genauen Vergleich der Großen Depression und der gegenwärtigen Krise. Was sie herausfinden, passt einfach nicht zum Zweckoptimismus und der Beruhigungsrhetorik der Apologeten „unserer“ Produktionsverhältnisse. Die Ökonomen Barry Eichengreen und Kevin H. O’Rourke zum Beispiel meinen, dass die gegenwärtige Krise noch tiefergehende und umwälzendere Auswirkungen haben werde als die Depression nach 1929.2 Von solchen Befunden will in der politischen Führungsschicht und den Massenmedien kaum jemand etwas wissen. Sie wären ja auch schlecht für die Bemühungen, die Krise als „Herausforderung und Chance“ zu verklären und die chronische Erkrankung des gegenwärtigen Westkapitalismus zu verschleiern. Die Beteuerungen, dass man „gestärkt“ aus der Krise hervorgehen werde, sind zwar leere Phrasen, aber ideologisch zweckdienlich, weil sie die Rettungsaktionen zugunsten des Kapitals gegenüber denjenigen legitimieren, die am Ende auch diese Zeche zahlen müssen – die arbeitenden Menschen und die breite Masse der Steuerzahler. Denn wie immer man die Sozialisierung der Verluste kaschiert, diese müssen aus der durch menschliche (Mehr-)Arbeit erzielten Wertschöpfung bedient werden.3
Ideologie wirkt freilich nur so weit, als sie von den Adressaten geglaubt und akzeptiert wird – deshalb die ständige Beschwörung einer „prinzipiellen“ wirtschaftspolitischen Wende von der neoliberalistischen Markttheologie zum regulierenden Interventionsstaat, deshalb auch der opportunistische Rückgriff auf den Vulgärkeynesianismus aus den Lehrbüchern der Zeit vor dem neoliberalistischen Interregnum.
Doch die Wiederkehr des staatsmonopolistischen Kapitalismus unter dem Markenzeichen „Keynesianismus“ ist ein Etikettenschwindel. Man kann die aktuellen kreditfinanzierten Staatsausgaben zwar als keynesianisch bezeichnen, weil Keynes solche Maßnahmen für die Dämpfung oder gar Überwindung normaler Konjunkturzyklen, wie sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts regelmäßig auftraten, empfohlen hat. Aber gegen dauerhafte Wachstumsschwäche und die mit ihr einhergehende Massenarbeitslosigkeit können derartige „Konjunkturprogramme“ nur wenig ausrichten. Deshalb sah Keynes für solche Situationen ganz andere Maßnahmen vor, die freilich im aktuellen Keynes-Gerede nirgends auftauchen.
Wie andere Ideologien ist auch die neoliberale fehleranfällig. Ein grundsätzlicher Fehler, den die Koalition aus Kabinetten und Kapital in ihrem „Krisenmanagement“ macht, liegt schon in der Deutung der Krise als einer „reinen“ Finanzkrise. Diese Einschätzung war besonders in Europa verbreitet (im Gegensatz zu China, Japan und auch den Vereinigten Staaten), wo sie sich auch am hartnäckigsten hält. Tatsächlich haben wir es aber mit einer „Doppelkrise“ zu tun, das heißt einer Finanzkrise und einer Krise der Realwirtschaft (samt Immobilien).
Die realwirtschaftliche Krise ist somit nicht nur als Reflex auf die Finanzkrise zu sehen. Wir erinnern uns: Bereits seit Anfang der 1980er-Jahre hatten die meisten hoch entwickelten kapitalistischen Länder so schwache Wachstumsraten, dass sie außerstande waren, Vollbeschäftigung auch nur annähernd wiederherzustellen. Den großen Volkswirtschaften der EU ist es nicht einmal gelungen, den Abwärtstrend der tatsächlichen Beschäftigung zu brechen.4 Aufgrund ihrer Fehleinschätzung widersetzten sich die EU-Vertreter – allen voran die deutsche und die französische Regierung – auf dem Londoner Weltfinanzgipfel am 2. April 2009 einem international abgestimmten Konjunkturprogramm, also einem koordinierten Vorgehen der Industrieländer zugunsten einer realwirtschaftlichen Expansionspolitik.
Wenn ich hier vom „verborgenen Keynes“ spreche, meine ich dessen theoretisch begründete und von der tatsächlichen Entwicklung bestätigte Prognose, dass entwickelte kapitalistische Volkswirtschaften nicht unbegrenzt wachsen werden. Das führt zu der logischen Einsicht, dass das Beschäftigungsproblem ohne Rückgriff auf Wachstum gelöst werden muss. Aber wie konnte gerade diese wichtige Einsicht verborgen bleiben? Eigentlich sollten wir doch annehmen, dass zumindest die Leute, die neuerdings wieder so viel über den Keynesianismus reden, ihren „Jahrhundertökonom“ John Maynard Keynes und sein Werk etwas genauer kennen. Das ist aber nicht der Fall.
Keynes’ Hauptwerk, die 1936 erschienene „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ wurde von seinem Landsmann John Richard Hicks schon ein Jahr später in seinem kurzen Aufsatz „Herr Keynes und die Klassiker“5 interpretiert – und zwar mit weitreichenden Folgen. Die Rezeption der „Allgemeinen Theorie“ und insbesondere die Lehrbuchdarstellungen orientierten sich vorwiegend nicht am Original, sondern reproduzierten die handliche Version von Hicks – eine Kombination aus Keynes und klassischer Gleichgewichtstheorie. Dieser ausgedünnte „Keynesianismus“ ging als „Neoklassische Synthese“ in die nationalökonomische Theorie ein.6
Die Frage, wie sich anhaltender technischer Fortschritt und steigende Arbeitsproduktivität auf das Wachstum reicher Volkswirtschaften und den gesellschaftlichen Wohlstand auswirken werden, beschäftigte Keynes spätestens seit Ende der 1920er-Jahre. 1930 erschien dann sein Aufsatz „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“.7 Darin wagte Keynes einen Ausblick auf die aus seiner Sicht mögliche Konstellation im Jahr 2030, allerdings unter zwei Vorbehalten: wenn es bis dahin keine großen Kriege und kein massives Bevölkerungswachstum gebe.
Als wesentliche Voraussetzung für die „goldene Zukunft“ sah er steigende Durchschnittseinkommen – dank anhaltenden Produktivitätswachstums. Keynes war sich sicher, dass bis 2030 eine Vervielfachung des Pro-Kopf-Einkommens eintreten werde. Damit hätten seine Enkelkinder die Möglichkeit, das „alte Knappheitsproblem der Menschheit“, nämlich Mangel an Lebensnotwendigem, sprich Armut, zu überwinden. Darüber hinaus könne die Arbeitszeit massiv reduziert werden, so dass die Menschen ihr Leben mehr den geistigen, schönen Seiten des Daseins und der Muße widmen könnten.8
Keynes Zukunftsoptimismus wurde auch nach 1930 nicht erschüttert, wie einige Bemerkungen in Texten aus der Zeit der Großen Depression zeigen. Im Schlusskapitel seiner „Allgemeinen Theorie“ führt er aus, was geschehen müsste und könnte, um allen Menschen ein gutes Leben zu verschaffen. Es versteht sich, dass derartige sozial- und moralphilosophischen Überlegungen in der beschränkten Keynes-Rezeption von Hicks und seinen Adepten keinen Platz haben. Das kann man bei einer Wirtschaftswissenschaft, die dem naturwissenschaftlichen Ideal nacheifert und sich für wertfrei hält, sogar verständlich finden. Für die Ignoranz gegenüber Keynes’ Aussagen zum langfristigen Wachstum hoch entwickelter kapitalistischer Ökonomien gibt es keine vergleichbare Entschuldigung.
Im Mai 1943 legte Keynes auf Wunsch der britischen Regierung seine Einschätzung der wahrscheinlichen Beschäftigungsentwicklung nach Kriegsende vor.9 Dabei argumentierte er auf der Grundlage seiner 1936 in der „Allgemeinen Theorie“ entfalteten Überlegungen, dass mit wachsendem Reichtum auch die (freiwillige) Ersparnis zunehmen werde, und zwar in einem Ausmaß, dass diese Summen nicht mehr von der (freiwilligen) Investition absorbiert werden. Damit ergebe sich eine Lücke zwischen Produktionsfähigkeit (Angebot) und Nachfrage, die sich – wenn überhaupt – auf Dauer nur durch staatliche Interventionen schließen lasse.
Für die Nachkriegszeit prognostizierte Keynes drei unterschiedliche Wachstumsphasen. Die erste ist geprägt vom Nachholbedarf der Investoren und Konsumenten. Die Umstellung auf Friedensproduktion sowie der Wiederaufbau erfordere eine hohe Investitionsquote. Damit ergebe sich aber eine starke Tendenz zur Nachfrageinflation, weshalb eine Förderung der Ersparnisbildung beziehungsweise Konsumbeschränkung geboten sei. In dieser Phase seien hohe Wachstumsraten und steigende Beschäftigung zu erwarten.
In der zweiten Phase sah Keynes den Inflationsdruck schwinden, während sich Wachstum und Beschäftigung noch auf einem hohen Niveau halten könnten. Konjunkturellen Ausschlägen ließe sich nunmehr mit antizyklischer Fiskalpolitik begegnen: im Abschwung vermehrte kreditfinanzierte Staatsausgaben, im Aufschwung eine Rückzahlung der Kredite aus steigendem Steueraufkommen. Damit sei im Mehrjahresdurchschnitt annähernde Vollbeschäftigung zu gewährleisten.
In der dritten Phase werde eine so anhaltende Wachstumsabschwächung eintreten, dass keine stabile Vollbeschäftigung mehr zu erzielen sei (saturation of investment). Auf dem erreichten hohen Einkommensniveau würden die Ersparnisse nicht mehr vollständig von den Investitionen absorbiert. Infolgedessen werde die Produktion und damit das Volkseinkommen dauerhaft unter das zur Vollbeschäftigung erforderliche Niveau absinken. Bei fortlaufenden Produktivitätsfortschritten (durch Rationalisierung) werde die Arbeitslosigkeit ansteigen, sofern keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden.
Die für die dritte Phase charakteristische Konstellation eines (zu) niedrigen Wachstums wird in der Literatur als Stagnation oder auch säkulare Stagnation10 bezeichnet. Keynes hingegen sprach von „gesättigtem Investitionsbedarf“, der letztlich von der abnehmenden Konsumdynamik herrühre. Der französische Sozialwissenschaftler Jean Fourastié gelangte zum prinzipiell gleichen Ergebnis: Auf lange Sicht wird infolge nachlassender Konsumneigung der Anteil der industriellen Produktion an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung abnehmen – zugunsten einer Ausdehnung des Dienstleistungssektors.11 Keynes wie Fourastié verstanden diese „Zukunft ohne Wachstum“ als Erfolg der Menschheit im Bemühen, sich von Armut und mühseliger Arbeitslast zu befreien.
Die Zukunftsvision der beiden „Stagnationstheoretiker“ lässt sich also in dem Postulat zusammenfassen: „Vollbeschäftigung und Wohlstand bei abnehmendem und schließlich ausbleibendem Wachstum“! Fourastié nahm allerdings zu Unrecht an, Dienstleistungen seien kaum zu rationalisieren, so dass alle Arbeitsplatzverluste in der Industrie (wie zuvor im Fall der Landwirtschaft) durch das Wachstum der Dienstleistungsbranche abgefangen würden. Keynes sah die Zukunft realistischer und traute den Marktmechanismen nicht zu, ohne staatliche Interventionen für ausreichende Beschäftigung zu sorgen.
Die Chancen des Überflusses
Um trotz abnehmenden Wachstums Vollbeschäftigung zu sichern, müsse die Wirtschaftspolitik in drei Richtungen agieren. Erstens müsse sie für eine gleichmäßige Einkommensverteilung sorgen, um den Massenkonsum zu heben und jene Konsumbedürfnisse zu befriedigen, die noch als „sinnvoll“ gelten. Keynes scheute sich also nicht, zwischen sinnvollem und rein konsumistischen Verbrauch zu unterscheiden. Zweitens müsse die Staatsquote erhöht werden, um öffentliche Güter in einem dem historischen und kulturellen Entwicklungsstand der Gesellschaft angemessenen Umfang bereitzustellen.12
Das dritte Postulat hängt mit Keynes’ grundsätzlicher Wachstumsskepsis zusammen. Da er es für ausgeschlossen hielt, dass sich das Beschäftigungsproblem durch permanentes Wachstum lösen lasse (etwa durch verteilungspolitische Steigerung des Massenkonsums und/oder permanente Erhöhung der Staatsausgaben), empfahl er Arbeitszeitverkürzungen. Dabei hatte er freilich nur „normale“ Arbeitszeitverkürzungen und noch nicht die indirekte Arbeitszeitverkürzung infolge steigender Lebenserwartung vor Augen. Viel wichtiger ist aber, dass Keynes dank seiner Theorie schon während des Zweiten Weltkriegs sozialökonomische Konstellationen vorherzusehen vermochte, mit denen heute praktisch alle reichen Länder zu kämpfen haben. Das hat damals kein anderer Ökonom und keine andere wirtschaftstheoretische Schule geschafft.
Unbegrenztes Wirtschaftswachstum ist unmöglich. Das ist eigentlich eine triviale Feststellung, und dennoch steht Wachstum nach wie vor auf der wirtschaftspolitischen Agenda aller Regierungen. Die Stagnationsthese bleibt tabuisiert.13
Aber leistet Keynes auch einen Beitrag zur neueren „ökologischen“ Wachstumskritik? Umweltprobleme und endliche Ressourcen spielten in den Prognosen von Keynes und Fourastié zwar noch keine Rolle. Doch ihre Beschreibung des in den industrialisierten Volkswirtschaften angelegten Stagnationsmechanismus hebelt nicht nur das Wachstumsparadigma aus, sondern liefert auch eine ergänzende Argumentation für die ökologischen Wachstumskritiker. Ob Kapitalismus ohne Wachstum, und das heißt ohne Akkumulation, möglich ist, lässt sich wohl nicht eindeutig beantworten. Fest steht jedoch, dass sowohl die marxistische Kapitalismuskritik als auch die prokapitalistische Wirtschaftstheorie davon ausgehen, dass das System ohne Wachstum (Akkumulation) nicht überlebensfähig sei – weshalb die kapitalistischen Machteliten auch jegliche Wachstumskritik kategorisch ablehnen und sich höchstens in oberflächlicher Öko-Rhetorik üben. Diskussionen mit Wissenschaftlern, die für ein weiteres Wachstum pessimistische Ausblicke bieten, geht man wohlweislich aus dem Wege.14
Die ökologisch begründete – mehr oder weniger apokalyptische – Wachstumsskepsis wiegt weitaus schwerer als die der „Stagnationstheoretiker“. Letztere leiten aus der von ihnen erwarteten Wachstumsabschwächung schließlich kein Katastrophenszenario ab. Wenn sie anhaltende Massenarbeitslosigkeit und zunehmende soziale Armut für eine Katastrophe hielten, würden sie damit ja implizit den gegenwärtige Kapitalismus als etwas Katastrophales bezeichnen.
Gegenüber der ökologischen Wachstumsproblematik und den absehbaren Gefahren für unseren Planeten und seine Bewohner erscheint die gegenwärtige Wirtschaftskrise fast harmlos. Keineswegs harmlos sind allerdings die verzweifelten Bemühungen der Wirtschaftspolitik, den Problemen wieder nur mit mehr Wirtschaftswachstum beikommen zu wollen. Das wird zwar nicht oder nur unzulänglich gelingen, aber dabei wird kostbare Zeit verschwendet. Statt die Krise zu nutzen, um eine grundsätzliche Systemreform einzuleiten, wird das Gegenteil versucht, nämlich den Status quo ante wiederherzustellen.
Doch es wird vermutlich bei dem Versuch bleiben, denn die aktuelle Krise ist nur der Auftakt zu einer globalen Transformation des Kapitalismus. Die Vorrangstellung des Westens ist längst im Schwinden und wird im Laufe dieses Jahrhunderts zu Ende gehen. Die Dialektik der Globalisierung beschleunigt den technisch-wirtschaftlichen Wiederaufstieg Ostasiens. Damit stehen deren westkapitalistische Initiatoren – insbesondere die USA mit ihrem berühmten „Washington-Konsens“ – vor einem Dilemma: Entweder setzt sich die Deindustrialisierung des Westens fort und damit auch die chronische Krise; oder der Westen fängt endlich an, sein Wirtschaftssystem umzustellen und nach Lösungen zu suchen, die auch ohne anhaltendes Wachstum funktionieren.
Ob und wie weit ein solcher Versuch noch mit kapitalistischen Verhältnissen vereinbar sein wird, muss offen bleiben. In jedem Fall aber wird es sich um einen anderen Kapitalismus als den heute vorherrschenden handeln. Denkbar ist – mit allerlei Unterschieden von Land zu Land – sowohl ein neofeudalistisches Regime als auch ein sozialistischer Weg. In den USA und in den mitteleuropäischen Ländern hat sich bereits während der vergangenen Jahrzehnte eine zunehmende Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung hergestellt, die von den Herrschenden durchgesetzt und von Wählermehrheiten nachträglich sanktioniert wurde. Allem Anschein nach fördern die „postdemokratischen“ Tendenzen15 dieser Gesellschaften die Transformation zu neofeudalistischen Verhältnissen.
Karl Georg Zinn lehrte von 1970 bis 2004 Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen TH Aachen, insbesondere Makroökonomie, Geschichte der politischen Ökonomie, Außenwirtschaft.
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