Fraktionen und Koalitionen
Das innenpolitische Kaleidoskop im Iran von Sharareh Omidvar
Die harte Konfrontation zweier Lager im Iran darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl die demonstrierenden Massen als auch das herrschende Regime keine homogenen Blöcke sind.
Der Aufstand gegen den Wahlbetrug wird großenteils von jungen, eher wohlhabenden Städtern getragen, wobei der hohe Anteil von Frauen auffällt. Was diese jungen Leute aus unterschiedlichen kulturellen Milieus eint, ist in erster Linie eine antitraditionalistische Einstellung. Die äußert sich bei den einen in der Forderung nach Freiheiten westlichen Typs. Bei anderen entspringt sie der patriotischen Besorgnis, dass die Herrschaft der Traditionalisten die Glaubwürdigkeit des Iran in der übrigen Welt untergraben hat. Am stärksten politisiert sind die Studenten, bei denen linke Ideen seit einiger Zeit wieder im Kommen sind. Doch der Protest der meisten jungen Leuten richtet sich schlicht gegen den herrschenden Autoritarismus und dessen Repräsentanten Mahmud Ahmadinedschad.
Wie überall auf der Welt, so kommuniziert auch die iranische Jugend vorwiegend über SMS und Internet. Darüber hinaus hat die jüngere Generation im ständigen Kampf gegen das von der Regierung betriebene Contentfiltern im Internet eine hohe technische Kompetenz entwickelt. So wurden mehrere Webseiten von Ahmadinedschad-Anhängern von jungen Internetbenutzern angegriffen und blockiert.
Die urbane Mittelschicht als soziale Basis der Protestbewegung ist so heterogen, dass ihre konkreten Forderungen langfristig kaum vereinbar scheinen. Die verheerenden Folgen von Ahmadinedschads Wirtschaftspolitik bekamen sie in sehr unterschiedlichem Maß zu spüren. Doch fordern alle ein Ende der wirtschaftlichen und sozialen Instabilität, rechtsstaatliche Verhältnisse und uneingeschränkte Pressefreiheit. Der Protest richtet sich auch gegen Ahmadinedschads abenteuerliche Außenpolitik. Deshalb unterstützten sie die Kandidatur von Mir Hossein Mussawi.
Das gilt auch für einen Teil des Großbürgertums. Dazu zählen etwa jene Ärzte, die zugleich Mitbesitzer von Luxuskrankenhäusern1 sind, und viele Neureiche, die seit der Revolution ein immenses Vermögen gemacht haben, wie zum Beispiel regimenahe Technokraten und Unternehmer. Diese Leute unterstützen Mussawi aus unterschiedlichen Gründen. Die meisten erhoffen sich ökonomische Stabilität und die Normalisierung der Beziehungen zum Westen. Auch bei ihnen ist das Hauptmotiv nicht unbedingt die Sympathie für Mussawi, sondern die erbitterte Gegnerschaft gegen Ahmadinedschad. Die Heterogenität von Mussawis Anhängern ist eine Stärke und eine Schwäche zugleich. Kurzfristig könnte sie tatsächlich helfen, schwankende Geister bei der Stange zu halten. Langfristig aber drohen gravierende Meinungsverschiedenheiten und Konflikte – zumal für den Fall, dass der einigende Faktor Ahmadinedschad entfallen sollte.
Eine der Stärken des iranischen Regimes war seit jeher die Koexistenz verschiedener Strömungen. Keiner Strömung ist es in den letzten dreißig Jahren gelungen, die anderen zu isolieren; vielmehr führte jeder Versuch einer Fraktion, die Macht zu monopolisieren, zu internen, wenn auch bisher verdeckten Konflikten. Auch heute steht hinter dem Konflikt zwischen Ahmadinedschad und seinen Widersachern der Versuch einer Fraktion, rivalisierende Gruppen auszuschalten.
Innerhalb des Regimes kann man heute drei Strömungen unterscheiden: die Konservativen oder Autoritären (Ahmadinedschad, Teile der Führung der Revolutionswächter, das geistliche Oberhaupt Chamenei); die „Zentrumsanhänger“ (Rafsandschani, Karrubi und andere) und die „Reformer“ (Mussawi, Chatami und andere). Allerdings haben die Repräsentanten, die heute auf der politischen Bühne dominieren, nicht immer derselben Fraktion angehört. Das zeigt auch ein Blick auf die personelle Konstellation zu dem Zeitpunkt, als sich die „Reformisten“ um Mohammed Chatami zusammenschlossen.
Als 1997 die zweite Amtszeit von Staatspräsident Rafsandschani endete, wollte das konservative Lager um Ali Akbar Nateq Nuri (der heute zu Ahmadinedschads Gegnern zählt) wieder an die Macht kommen. Auf der Gegenseite bildete sich – mit Unterstützung Rafsandschanis – die Reformbewegung heraus, die ihren Vertreter Chatami an die Macht brachte. Die damaligen Konservativen denunzierten im Wahlkampf Chatami als einen Gegner des Islams und der Revolution; und die Modaressin („Lehrende“) der Koranschulen von Qom erklärten es sogar zur religiösen und spirituellen Pflicht, für Nateq Nuri und gegen Chatami zu stimmen.2
Opposition entsteht, wenn eine Gruppe allein die Macht will
Bei den Parlamentswahlen von 1999 hatte sich die Konstellation wiederum verändert. Die Reformbewegung, die sich seit 1997 radikalisiert hatte, hoffte eine Mehrheit im Parlament zu erlangen. Jetzt aber verbündeten sich die „Zentrumsanhänger“ mit den „Konservativen“. In den Wahlen erlitt Rafsandschani, der als Kandidat für die nächsten Präsidentenwahlen galt, eine demütigende Niederlage und wurde sogar verdächtigt, sein bescheidenes Ergebnis nur durch Wahlbetrug erreicht zu haben. Karrubi, der zweite Exponent der heutigen Protestbewegung, verbündete sich mit den „Zentrumsanhängern“ und wurde mit deren Unterstützung zum Parlamentspräsidenten gewählt.
Der Radikalismus der vom Volk unterstützten Reformbewegung setzte die institutionellen Machthaber allerdings zunehmend unter Druck. Damals schrieb der Revolutionsführer Ajatollah Chamenei einen Brief an Parlamentspräsident Karrubi und forderte ihn auf, die Debatten über die Pressefreiheit zu beenden und die betreffenden Dekrete von der Agenda zu nehmen. Damit war eines der wichtigsten Anliegen der Reformer ohne ernsthaften Widerstand abgewürgt. Die Begeisterung der Wähler für die Reformer schlug in Verzweiflung um, woraufhin Chatami immer mehr Abstriche von seinem radikalen Programm machte.
Die Konflikte zwischen „Reformern“ und „Zentrumsanhängern“ nahmen damals Formen an, die eine Einheitsfront gegen die Konservativen auszuschließen schienen. Historisch gesehen aber gilt auch für die Islamische Republik die Gesetzmäßigkeit, dass sich alle Strömungen zum Widerstand gegen eine Fraktion zusammenschließen, die auf die alleinige Macht aus ist. Das hat dreißig Jahre lang für ein gewisses „Gleichgewicht“ gesorgt. Und auch bei den letzten Wahlen wirkte wieder derselbe Mechanismus: Die Protestbewegung wird von den Gruppen innerhalb des Regimes getragen, die ihre ökonomischen Interessen und ihre politische Glaubwürdigkeit bedroht sehen.
Allerdings umfassen die Kräfte, die 2009 den Protest artikulieren, ein größeres Spektrum. Nicht nur Mohsen Resai, der konservative Kandidat (und einer der Gründer der Revolutionsgarde), kritisierte das Innenministerium und dessen brutales Vorgehen gegen die Demonstranten, sondern auch andere Würdenträger des Regimes wie die Ajatollahs Montaseri, Sandschani, Sanei und Ardebili.
Die größte Schwäche der heutigen Protestbewegung ist, dass die unterprivilegierten Schichten praktisch nicht vertreten sind. Tatsächlich war soziale Gerechtigkeit für die Reformer nie ein Thema. Ihre zentrale Forderung zielt auf den Umbau der staatlichen Strukturen zu einer islamischen Form von Demokratie. Die in der Ära Rafsandschani begonnenen Wirtschaftsreformen, die weitgehend auf der Linie der Forderungen des IWF lagen, wurden während der beiden Amtsperioden Chatamis fortgesetzt.
Diese Reformen brachten für den größten Teil der Mittel- und Unterschichten eine erhebliche Verschlechterung ihrer sozialen Lage. Und der Sieg von Ahmadinedschad in den Präsidentschaftswahlen von 2005 erklärt sich vorwiegend daraus, dass er die Unzufriedenheit der benachteiligten Schichten ansprach. Allerdings wurden auch während seiner Amtszeit die neoliberalen Reformen keineswegs gestoppt. Im Gegenteil: Die Öffnung der Märkte und die daraus folgenden Massenimporte vernichteten einen Teil der Industrie und produzierten Massen von Arbeitslosen. Trotz einiger Maßnahmen des Regimes zugunsten der ärmsten Schichten ist der Graben zwischen Arm und Reich unter Ahmadinedschads Regierung noch tiefer geworden.3
Dass die unterprivilegierten Schichten in der gegenwärtigen Protestbewegung nicht vertreten sind, kann sich allerdings ändern: Auch bei der Revolution von 1979 schlossen sich die sozial benachteiligten Schichten dem Protest erst einige Zeit nach den bürgerlichen und urbanen Bevölkerungsgruppen an. Der Hauptunterschied zwischen der gegenwärtigen Bewegung und der Revolution von 1979 ist jedoch ein anderer: Alle Wortführer der heutigen Bewegung sind mit dem Herrschaftssystem verbunden und keinesfalls Dissidenten. Unter der Diktatur des Schahs dagegen duldeten die Machthaber keine Protestströmung und jede von den Ansichten des Schahs abweichende Meinung wurde als Infragestellung des Regimes wahrgenommen.
Diese Besonderheit ist zugleich die Stärke und die Schwäche der Bewegung und relativiert die Möglichkeit einer Radikalisierung. Zwar können Personen wie Mussawi, die am Rand des Regimes und zugleich im Zentrum der Bewegung stehen, dem Protest zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen, doch bei einer Radikalisierung könnten Differenzen zwischen den Anführern aufbrechen, und manche Protagonisten könnten sich zurückziehen. Tatsächlich sind sämtliche Anführer der Bewegung zu eng mit dem Regime verbunden, als dass sie wünschen könnten, die Rolle eines iranischen Gorbatschow oder eines iranischen Jelzin zu spielen.
Nach der Niederschlagung der Wahlproteste sind drei Szenarien vorstellbar. Das erste: Ahmadinedschad bleibt an der Macht, ohne irgendwelche Zugeständnisse an die anderen Strömungen zu machen, indem er die Protestierenden erfolgreich isoliert und die alleinige Kontrolle über Exekutive, Legislative und Judikative behält. Das aber ist unter den gegebenen Umständen nur um den Preis tiefer Risse innerhalb des Regimes und der iranischen Gesellschaft denkbar.
Auf internationaler Ebene wäre die Folge, dass Obamas Politik der Öffnung gegenüber dem Iran von den Konservativen und vom Staat Israel heftig angegriffen wird. Bleibt also Ahmadinedschad unbestritten an der Macht, gießt er damit Öl ins Feuer der Propaganda der Konservativen in Amerika und der Militärs in Israel.
Das zweite Szenario könnte auf eine Art Kohabitation hinauslaufen, von der zwei Varianten denkbar sind: eine eher konservative und eine eher reformorientierte. Im ersten Fall bliebe Ahmadinedschad an der Macht, aber Kritik an seinem Auftreten und seinen Ausfällen wäre immerhin noch möglich, und die Konservativen könnten sich die Macht mit den Gemäßigten und vielleicht auch mit den Reformern teilen. Man könnte das sogar als Regierung der nationalen Versöhnung bezeichnen und den Reputationsverlust, den das Regime in den letzten Wochen erlitten hat, schrittweise wieder gutmachen.
Im Lager der Sieger werden sich die Konflikte verschärfen
Bei einer Kohabitation, in der die Reformer das Übergewicht haben, müsste allerdings die letzte Wahl immer noch annulliert und eine neue Wahl organisiert werden. Bei diesem Szenario würden die Konservativen und die Gemäßigten ihren Platz innerhalb der Regierung behalten, so wie es auch schon in den beiden Amtszeiten von Chatami der Fall gewesen ist.
Die internationalen Folgen wären wesentlich andere als die des ersten Szenarios: Käme eine Kohabitation zustande, würde der Iran auf die Annäherungsversuche von Präsident Obama eher eingehen und könnte damit den amerikanischen und israelischen Konservativen den Wind aus den Segeln nehmen.
Das dritte Szenario sähe so aus: Die Konflikte zwischen der Strömung von Ahmadinedschad und seinen Gegenspielern in der Elite gehen weiter, und die Protestbewegung radikalisiert sich, indem sie breitere Unterstützung auch jenseits der Machtelite sucht. Bei Leuten also, die sich nach Jahren der Unterdrückung von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden nicht mehr exponiert haben, und zwar weder innerhalb der Linken noch der Rechten.
Dieses letzte Szenario ist aber ohnehin schwer vorstellbar, weil eine Radikalisierung der Bewegung die Einheitsfront gegen Ahmadinedschad aufbrechen könnte. Um eine langfristige Perspektive zu entwickeln, braucht die Bewegung klar definierte Ziele und eine Organisation. Doch konkrete und radikale Alternativen zu definieren und umzusetzen, ist im heutigen Iran noch schwieriger als anderswo.
Es ist zwar noch zu früh, um den Ausgang der Krise vorauszusagen, doch leider spricht alles dafür, dass die weitere Entwicklung auf das erste Szenario hinauslaufen wird. Andererseits hält sich seit Wochen hartnäckig das Gerücht, wonach – im Sinne des zweiten Szenarios – hinter den Kulissen Verhandlungen zwischen den Lagern laufen, in denen Rafsandschani eine wichtige Rolle spielt.
Die Protestbewegung ist jedoch noch nicht am Ende. Ihre Anführer und vor allem Mussawi selbst haben noch keineswegs kapituliert. Zwar wird es zu deutlich weniger Zusammenstößen auf den Straßen kommen, man wird jedoch immer wieder Anlässe finden, um tausende von Demonstranten auf die Beine zu bringen.
Aber selbst die wahrscheinlichen Sieger werden künftig viel größere Probleme haben, die Konflikte und Widersprüche im Innern des Regimes zu beherrschen und ihre Autorität auch auf der Straße durchzusetzen.
Aus dem Französischen von Barbara Schaden
Sharareh Omidvar ist Journalistin. © Le Monde diplomatique, Berlin