13.01.2012

Ranguns Verwandlung

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Ranguns Verwandlung

Die Nicht-mehr-Hauptstadt Birmas bereitet sich auf den erwarteten Aufschwung vor von Elizabeth Rush

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Am Ufer des Yangon, wo früher Tiger und Elefanten vorbeizogen, graben zwei Jungs in einem Berg aus Schutt und Klinker. Sie sind auf der Suche nach wiederverkäuflichen Metallen. „Geld“, sagt der eine und wirft eine Handvoll altes Betoneisen vor mir auf den Boden. Der andere bückt sich, hebt es auf und klopft mit einem kleinen Hammer den Mörtel ab. Bis vor Kurzem stand hier eine Mauer zwischen Fluss und Stadt. Das koloniale Bauwerk am Rand von Birmas ehemaliger Hauptstadt Rangun wurde sozusagen über Nacht abgerissen. Im Morgengrauen kamen die Armen, die sich jetzt durch den Abraum wühlen.

Nachdem die Birma-Hafenbehörde Anfang 2011 angekündigt hatte, die Fahrrinne im Yangon vertiefen zu lassen, vergab sie schnell die ersten Aufträge zur Verbreiterung der Strand Road. Über diese wichtige Küstenstraße wurde bisher das Holz, Birmas kostbarstes Exportgut, von den Wäldern im Norden zum wichtigsten Seehafen des Landes transportiert.

Vor 150 Jahren ließen die Briten die Strand Road bauen, um die exotischen Schätze ihrer Kolonie auf dem einfachsten Weg außer Landes zu bringen. Die Strand Road begrenzt das rechtwinklige Straßennetz der Stadt nach Süden hin und zieht sich wie eine Linie, die Ordnung in die Natur bringen will, den Fluss hinunter. Heute ist die Straße zu alt und zu schmal für den erwarteten Wirtschaftsaufschwung. Mehrere Millionen Dollar sollen in den Ausbau der Strand Road fließen, die streckenweise auf bis zu zehn Spuren verbreitert werden soll.

Schon bald werden im Hafen von Rangun dreimal so viele Containerschiffe anlegen können wie heute, jedes einzelne kann statt 15 000 künftig 35 000 Tonnen Fracht laden. Der alte Hafen, der Oberbirma mit dem unteren Irrawaddy-Delta verbindet, wird wieder zum Leben erwachen.

In den 1920er und 1930er Jahren war Rangun nach New York die zweite Anlaufstelle für Auswanderer aus aller Welt. In der Hoffnung, in Birma ihr Glück zu machen, stiegen hier Kaufleute und Arbeiter aus Indien, Bangladesch, Armenien und anderen Ländern Europas in Scharen an Land.

Pfarrschulen wurden gegründet, Kaufhäuser eröffnet, Bleiglasfenster und handbemalte Keramikfliesen importiert und schmiedeeiserne Aufzüge gebaut. Doch im Gegensatz zu New York hielt Rangun den Boom- und Pleitephasen nicht stand, die so viele Großstädte im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Nachdem die Briten 1948 abgezogen waren, folgte eine 14 Jahre währende Phase der Demokratie. Dann übernahm das Militär die Macht und versuchte mit eiserner Hand, die Einheit in dem multiethnischen Land zu wahren. Seit Anfang Februar 2011 hat Birma nach fast 50 Jahren wieder eine zivile Regierung und nennt sich nun „Republik der Union von Myanmar“. Doch die Wirtschaft des Landes liegt darnieder. 2010 landeten weniger als 300 000 Touristen auf dem internationalen Flughafen von Rangun. Einwanderer gibt es kaum. Birma ist heute das ärmste Land in Südasien. Doch die neue Strand Road soll beweisen, dass die Regierung fest entschlossen ist, das Land auf die internationale Bühne zurückzuholen.

Noch vor sechs Jahren wollte das Yangon City Development Committee (YCDC) die Strand Road als historisches Erbe erhalten. Der damalige Plan sah vor, den Hafenbetrieb ins 25 Kilometer weiter südlich gelegene Thilawa zu verlagern. Das zurückgewonnene Flussufer sollte Promenade werden, die historischen Gebäude auf der Nordseite wollte man sanieren. Auf die Frage, warum die Strand Road plötzlich zur Autobahn werden soll, antwortet der Bauleiter des YCDC: „Sie dient jetzt nur noch, nun ja, wie soll ich sagen, dem Güterverkehr. Wir hoffen, dass die Unternehmen des Mittelstands und die Schwerindustrie davon profitieren.“

Die Strand Road wird zur Container-Autobahn

Schon jetzt ist die Straße von Werbetafeln gesäumt: Max Cola, New Zealand Milk Powder, Samsung, Herbal Shampoo und Gold Roast Coffee Mix wollen Birmas wachsende Mittelschicht erreichen. Teenager mit Taschengeld erkennt man an ihren T-Shirts mit dem Aufdruck der kalifornischen Punkband Rancid.

Läden mit Plastikspielzeug, die die Stadt überschwemmen, und importierte Fernsehprogramme sind aber nur eine Seite von Birmas Zukunft. Asia World Co. Limited ist ein Firmenkonglomerat, über das erstaunliche Mengen an chinesischen Investitionen ins Land kommen. Zu seinem Portfolio gehören etwa die chinesisch-birmesische Öl- und Gaspipeline, der vor Kurzem gestoppte Bau des Myitsone-Staudamms oder der Tiefseehafen in Kyaukpyu. Asia World finanziert auch den Ausbau der „Strand“. Mehr als 40 Prozent der in Rangun verladenen Container werden an den firmeneigenen Kais umgeschlagen. Dank der verbreiterten Strand Road wird der Warenstrom eines Tages schneller durch den Hafen von Rangun fließen. Das Frachtvolumen könnte sich in den nächsten Jahren verfünffachen. Asia World, dessen Chef der Kokang-Chinese Steven Law ist (eigentlich Tun Myint Nain und inzwischen vermutlich der zweitreichste Mann Birmas), kann sich auf gigantische Gewinne freuen.

Trotz der Versuche der birmesischen Regierung, ihre Verbindungen zu Asia World zu leugnen, wissen die Leute in Rangun längst, wer hinter dem Ausbau der Strand Road steckt, für den sie sich im Übrigen kaum interessieren. Der Bibliothekar U Zaw Win erklärt sich das so: „Da geht’s doch nur um ausländisches Kapital. Für uns hier wird das kaum etwas bringen.“

Während die Stadtverwaltung ganz mit dem Ausbau der Strand Road beschäftigt ist, geht es bei der seit jeher unsicheren Stromversorgung und der Kanalisation mit ihren über hundert Jahre alten Rohren überhaupt nicht voran. Täglich sieht man junge Arbeiter auf der Straße, die sich bis auf die Unterhose ausziehen und mit bloßen Händen in verstopfte Gullis greifen. Passanten laufen Slalom um die Haufen schwarzen Morasts, bis irgendwann Müllwerker kommen, das Ganze auf Schubkarren laden und fortschaffen. Nur einen halben Block weiter südlich wird unterdessen der frische Beton der neuen Strand Road eifrig gewässert, damit er gut aushärtet.

Dass Birmas Rohstoffe nur an ausländische Großabnehmer gehen, ist nicht neu. Seine Böden geben Rubine, Gold, Kupfer und Teakholz her. Allerdings verlassen die begehrten Güter das Land neuerdings deutlich schneller. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Militärregierung schrittweise den Markt geöffnet, so dass sich das Handelsvolumen verzehnfacht hat. Während Kapital aus China, Korea, Indien und vielen Asean-Staaten nach Birma floss, strömten seine natürlichen Ressourcen außer Landes.

Tatsächlich hat es auch zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen, dass Investoren aus aller Welt ins Land kamen. 2010 gab es zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder Parlamentswahlen. Mit echter Demokratie hat das allerdings noch wenig zu tun: Aung San Suu Kyi, die berühmte Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin von 1991, steht zwar seit gut einem Jahr nicht mehr unter Hausarrest, aber zu den Wahlen im letzten Frühjahr durfte sie trotzdem nicht antreten. Außerdem machten Gerüchte über gefälschte Stimmzettel die Runde. Doch als das Parlament zum ersten Mal zusammentrat, schienen die „gewählten“ Volksvertreter zur allgemeinen Überraschung ihr Mandat tatsächlich ernst zu nehmen. Zu ihrer zweiten Sitzung im August 2011 wurden sogar Journalisten zugelassen.

Abwrackprämie für 40 Jahre alte Autos

Im September 2011 führte die Regierung, die seit einigen Jahren im abgelegenen Naypyidaw sitzt1 , eine Art Abwrackprämie ein: Wer sein mindestens 40 Jahre altes Auto abgibt, bekommt einen Gutschein, mit dem sich die exorbitanten Einfuhrzölle für Neuwagen um die Hälfte reduzieren. Das hat auf den ersten Blick zwar nichts mit Demokratie zu tun, ist aber immerhin ein kleiner Schritt in Richtung Chancengleichheit. Bisher besaßen nur die privilegierten Regierungsgünstlinge Autos ab dem Baujahr 1971. Ende September stoppte Präsident Thein Sein dann das umstrittene Myitsone-Staudammprojekt (siehe den Artikel auf Seite 20). Seine Begründung: Der Bau verstoße gegen den „Willen des Volkes“, den heiligen Fluss Irrawaddy zu stauen. Im Oktober wurden über 6 000 Häftlinge freigelassen – unter ihnen auch namhafte Dissidenten.

Außerdem wurde die Zensur gelockert, Gewerkschaften zugelassen, und im Dezember 2011 durfte Aung San Suu Kyi ihre Partei, die Nationale Liga für Demokratie, für die nächsten Wahlen registrieren. Manche Beobachter sind der Meinung, der neue Präsident wolle mit den jüngsten Maßnahmen nur seine Macht festigen. Andere glauben, es gehe den einstigen Generälen lediglich um den Profit. Die Intellektuellen sind jedoch angesichts der Freilassung von politischen Gefangenen erleichtert, manche sogar vorsichtig optimistisch.

Das alles sind, nach Jahrzehnten der Militärherrschaft, nur Tropfen auf einen heißen Stein. Die Menschen in Birma sind längst daran gewöhnt, keine Erwartungen zu haben und keine Zukunftspläne für sich und ihre Familien zu schmieden, aus Selbstschutz vor den unvermeidlichen Enttäuschungen.

Wenn sich Birma nun um Investitionen aus jenen Teilen der Welt bemüht, die lange Zeit Sanktionen gegen die Militärdiktatur verhängt haben, dann stellt sich die Frage, wem das wohl zugutekommen wird. Da sind zunächst die Freunde des Regimes, die bei einem panikartigen Ausverkauf kurz vor den Wahlen im vergangenen Jahr mehr als 80 Prozent des bisherigen Staatsbesitzes – von Eisfabriken bis zu Tankstellen – ersteigert haben. Da sind die Milliardäre Tay Zaw und Stephen Law mit ihren Unternehmen Htoo Group (Bergbau, Schifffahrt, Immobilien und Hotelgewerbe) und Asia World. Außerdem ist – trotz der nach wie vor bestehenden US-Sanktionen gegen Birma – der Ölmulti Chevron im Land. Und da sind die koreanischen und chinesischen Bauunternehmen, die in einem rasanten Tempo in Rangun Luxusappartments hochziehen.

Laut New York Times2 haben sich im vergangenen Sommer Manager des weltgrößten Baumaschinenherstellers Caterpillar, der als Seismograf für vielversprechende US-Investitionen im Ausland gilt, mit birmesischen Regierungsvertretern getroffen, um den Spielraum für gemeinsame Geschäfte auszuloten. Und im Herbst statteten IWF-Mitarbeiter dem Land einen zweiwöchigen Besuch ab, um Fragen des internationalen Zahlungsverkehrs und der Währungspolitik zu klären (der offizielle Kurs liegt bei 6,5 Kyat für einen Dollar, auf dem Schwarzmarkt bekommt man bis zu 800 Kyat für einen Dollar).

Mit der Rückkehr in die Weltwirtschaft könnte sich das Image des isolierten, von militärischer Gewaltherrschaft geprägten Landes bald ändern. Und womöglich wird das Füllhorn der Investitionen, wenn irgendwann das ganze Teakholz gerodet ist und alle Rubine in Gold gefasst sind, den Birmesen nicht nur Importlimonade und bessere Löhne bescheren, sondern auch ein sicheres Auskommen.

Solange Monsunregen fällt, sind die Bauarbeiten an der Strand Road eingestellt. Auf den halbfertigen Trassen wird Fußball gespielt, abends gehen die Leute hier spazieren. Die Lichter gehen mal an und dann wieder aus, Fernseher werden auf die Straße gerollt, Generatoren dröhnen, die Leute sitzen an kleinen Plastiktischen, trinken Tee zu frittiertem Flaschenkürbis und schauen sich dabei koreanische Seifenopern an. Ein unbestimmtes Warten liegt in der Luft. Wenn die Strand Road fertig ist, wird es diese improvisierte Promenade nicht mehr geben. Statt des Getrappels nackter Fußsohlen auf Beton wird dann das Dröhnen von Lkw-Motoren zu hören sein.

„Den Kolonisatoren von einst ging es um die Gewinne aus dem Teakholzhandel“, sagt der birmesische Intellektuelle Moe War Than. „Daran hat sich nichts geändert, nur dass heute andere an der Macht sind und der Raubbau an der Natur wegen der globalen Erwärmung heute noch problematischer ist.“

Bald werden containerweise Kupfer, Holz und Zinn über die neue Strand Road rollen. Abgesehen von den neuen Zielen für die wertvollen Rohstoffe und dem Eifer, mit dem wir alle die Plünderung dieser Landschaften betreiben, hat sich vermutlich viel weniger verändert, als wir gern glauben möchten.

Fußnoten: 1 Siehe André und Louis Boucaud „Weg aus Rangun. Birmas Militärregime verbunkert sich im Dschungel und macht illegale Geschäfte“, Le Monde diplomatique, November 2006. 2 „Burmese Wary of ‚Democracy’, After Decades of Oppression“, New York Times, 25. August 2011: www.nytimes.com/2011/08/26/world/asia/26myanmar.html?pagewanted=all. Aus dem Englischen von Herwig Engelmann

Elizabeth Rush ist Autorin und Fotografin. Im Sommer 2012 erscheint ihr Buch „Yangon: Still Lives from a Vanishing City“ im Verlag Things Asian Press (San Francisco), siehe auch www.elizabethrush.net.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2012, von Elizabeth Rush