El Salvador – zwanzig Jahre nach dem Frieden
von Toni Keppeler und Cecibel Romero
Auf der Plaza Cívica im Zentrum der Hauptstadt San Salvador standen die Menschen dicht gedrängt, bestimmt 100 000. An einem der beiden Türme der wuchtigen Betonkathedrale hing ein riesiges rotes Transparent mit den vier weißen Buchstaben, die bis dahin in der Öffentlichkeit verboten gewesen waren: FMLN, darüber der fünfzackige Stern. Über dem Haupteingang ein großes Porträt von Farabundo Martí, dem kommunistischen Freiheitshelden, der in den dreißiger Jahren nach einem gescheiterten Volksaufstand erschossen und später zum Namenspatron der Guerilla wurde. Es war der 16. Januar 1992, und niemand auf diesem Platz hatte mehr Angst.
Vor nunmehr zwanzig Jahren haben die Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) und die ultrarechte Regierung unter dem Kaffee- und Finanzmagnaten Alfredo Cristiani im Schloss Chapultepec in Mexiko-Stadt nach zwölf Jahren Bürgerkrieg mit 80 000 Toten einen Friedensvertrag unterzeichnet. Vom 1. Februar an sollten die Waffen schweigen. Das erschien damals so unglaublich, dass die meisten Salvadorianer daran zweifelten und zumindest mit ernsthaften Zwischenfällen rechneten. Doch der Waffenstillstand hat bis heute gehalten. Seit zweieinhalb Jahren ist die ehemalige Guerilla sogar an der Macht.
Ruhiger aber ist es kaum geworden. El Salvador ist heute zusammen mit dem Nachbarland Honduras weltweit die Region mit der meisten Gewalt außerhalb von Kriegsgebieten. Jedes Jahr sterben mehr als 60 von 100 000 Einwohnern eines gewaltsamen Todes – mehr als in Afghanistan oder im Irak.
So wie die Gewalt mit dem Friedensvertrag nicht aufgehört hat, hat sie auch nicht erst mit dem Bürgerkrieg begonnen: Dessen Anfang wird gemeinhin auf den 24. März 1980 datiert, den Tag, an dem Óscar Romero, der Erzbischof von San Salvador, von einem rechten Killer im Auftrag des Majors Roberto D’Aubuisson erschossen wurde. D’Aubuisson war der Chef der Todesschwadronen und Gründer der späteren Regierungspartei Republikanisch-nationalistische Allianz (Arena). Romero, ein ursprünglich konservativer Kleriker, war die prominenteste unabhängige Stimme, die sich um Vermittlung zwischen der Armee und der Guerilla bemüht hatte. Mit seiner Ermordung wurde eine Verhandlungslösung für lange Zeit unmöglich.
Seit 1930, seit dem Putsch des vormaligen Verteidigungsministers General Hernández Martínez, herrschte in El Salvador das Militär und sicherte die Macht einer kleinen Oligarchie aus 14 Familien, deren Reichtum auf riesigem Landbesitz gründete. Ein Aufstandsversuch 1932, organisiert von der Kommunistischen Partei und getragen vor allem von der verarmten indianischen Bevölkerung, wurde blutig niedergeschlagen. Innerhalb weniger Tage ließ Martínez Hernández über 30 000 Menschen niedermetzeln. Danach folgte eine fast vierzigjährige Friedhofsruhe. Erst 1970 entstand mit der aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangenen FPL (Volksbefreiungskräfte) eine erste Guerillaorganisation. Vier weitere bewaffnete Gruppierungen wurden in den kommenden Jahren gegründet.
Ideologisch hatten die fünf Organisationen wenig gemeinsam. Zwar stammte die jeweilige Führungsriege fast durchweg aus der schmalen salvadorianischen Mittelschicht – meist Studenten –, aber deren politische Herkunft reichte von der Kommunistischen Partei über die Gewerkschaften bis zur Jugend der Christdemokraten. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppierungen waren bis Anfang der 1980er Jahre keine Seltenheit. Als sie sich trotzdem am 10. Oktober 1980 zur FMLN zusammenschlossen, einte sie nur das gemeinsame Ziel: die Militärdiktatur zu stürzen.1
Der Chef der Todesschwadron zerhackt eine Melone
Dass der Konflikt im Jahr 1980 eskalierte, lag nicht nur an der zunehmenden Repression, deren Gipfel der Mord an Romero war. Eine entscheidende Rolle spielten die internationalen Rahmenbedingungen: In Nicaragua hatte im Juli 1979 die Sandinistische Befreiungsfront die Somoza-Dynastie gestürzt und die Macht übernommen, in den USA wurde der demokratische Präsident Jimmy Carter abgewählt und durch den republikanischen Kalten Krieger Ronald Reagan ersetzt. In El Salvador hoffte die Guerilla, dem nicaraguanischen Beispiel folgen zu können.
Genauso fürchtete die Rechte einen Dominoeffekt. Ihr ohnehin ausgeprägter blinder Antikommunismus witterte nun selbst in braven Christdemokraten die Agenten Moskaus. D’Aubuisson demonstrierte das mit einem legendären Fernsehauftritt, als er eine Wassermelone auf den Tisch legte und mit der Machete entzweihieb. Grün ist in El Salvador die Farbe der Christdemokratischen Partei. D’Aubuisson machte den Zuschauern mit seinem Hieb klar, dass diese sich nur einen gemäßigt konservativen Anstrich gäbe, im Kern aber rot sei.
Schon im Januar 1981 versuchte die FMLN, das Militärregime mit einer groß angelegten Offensive in die Knie zu zwingen. Doch der Sturm auf die Macht scheiterte und ein schneller Sieg nach dem Vorbild der Sandinisten war nicht mehr möglich. Die Armee war zu stark, hoch gerüstet und zudem aus Washington alimentiert. Carter hatte dem Somoza-Regime in Nicaragua gegen Ende des Bürgerkriegs wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen Waffenlieferungen verweigert. Unter Reagan stieg der Kleinstaat El Salvador2 zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe nach Israel und Ägypten auf. Washington subventionierte den Bürgerkrieg mit durchschnittlich einer Million US-Dollar pro Tag.
Schon im Oktober 1982 forderte die FMLN deshalb die Regierung zu einem „Dialog ohne Vorbedingungen“ auf. Doch der von der verfassunggebenden Versammlung eingesetzte provisorische Präsident Magaña reagierte nicht. Erst sein Nachfolger, der aus der von Kämpfen und Unregelmäßigkeiten überschatteten Wahl am 25. März 1984 als Sieger hervorgegangene Christdemokrat Napoleón Duarte, traf sich am 15. Oktober 1984 in La Palma im Norden des Landes mit vier Comandantes der FMLN. Sein Angebot freilich war indiskutabel: Die FMLN solle die Waffen niederlegen, die Führungsriege könne ungehindert ins Exil ausreisen. Die kaum begonnenen Verhandlungen schliefen schnell wieder ein.
Erst das Jahr 1989 brachte die entscheidende Wende. Zwar wurde die Großoffensive der FMLN im November wegen des gleichzeitigen Falls der Berliner Mauer in der Welt kaum wahrgenommen, doch in El Salvador zeigte sie Wirkung: Mehrere Tage lang gelang es der FMLN, rund die Hälfte der Hauptstadt besetzt zu halten, darunter etliche Viertel der Reichen. Doch der erhoffte Volksaufstand blieb aus. Die Bevölkerung war zu ausgelaugt nach langen Jahren der Kämpfe. Anders als in den dünn besiedelten Flächenstaaten Nicaragua und Guatemala hat es im übervölkerten El Salvador nie relativ ruhige Rückzugsgebiete gegeben – weder für die Guerilla noch für die Armee. Jederzeit und überall konnte es zu Gefechten oder Anschlägen kommen.
Als die Luftwaffe begann, die Armenviertel San Salvadors zu bombardieren, zog sich die FMLN zurück. Es war klar geworden: Weder die Guerilla noch die Armee konnten diesen Krieg militärisch für sich entscheiden. Und die regionalen wie geopolitischen Rahmenbedingungen änderten sich in den folgenden Monaten dramatisch. Medardo González, heute Generalsekretär der FMLN und damals unter dem Pseudonym Milton Méndez Comandante der Guerilla, fasst zusammen: „Die UdSSR gab es nicht mehr, der Ostblock war verschwunden, und in Nicaragua hatten die Sandinisten die Wahl verloren.3 All diese Veränderungen waren nicht zu unseren Gunsten. Der Kampf im Sinn von revolutionärer Gewalt hatte keine Zukunft mehr. Wir mussten uns aufs politische Feld begeben.“
Nie waren die Bedingungen für Verhandlungen besser. Die FMLN hatte mit ihrer Offensive die Regierung zwar nicht gestürzt, aber doch eine militärische Stärke bewiesen, die ihr vorher kaum zugetraut worden war. Die USA hatten nach dem Niedergang der UdSSR und der Wahlniederlage der Sandinisten die Furcht vor einer kommunistischen Kettenreaktion in Zentralamerika verloren, und die offene Unterstützung der salvadorianischen Militärs war nicht nur teuer, sondern auch politisch unhaltbar geworden: Eine in den USA ausgebildete Spezialeinheit hatte während der FMLN-Offensive die Führungsriege der regierungskritischen Jesuiten-Universität von San Salvador ermordet. So wie der Mord an Erzbischof Romero als Ausgangspunkt des offenen Bürgerkriegs gilt, leitete dieses Massaker an Geistlichen das Ende des Konflikts ein. Washington drängte die Regierung El Salvadors an den Verhandlungstisch.
Frieden an Silvester um fünf vor zwölf
28 Monate wurde unter der Aufsicht eines UNO-Vermittlers zäh verhandelt, bis es am Ende hektisch wurde, aus einem ganz banalen Grund: Die Amtszeit des damaligen UNO-Generalsekretärs Javier Pérez de Cuéllar endete am 31. 12. 1991. Niemand wusste, ob sich der Nachfolger, der Ägypter Butros Butros Ghali, ebenso sehr für die Lösung des salvadorianischen Konflikts interessieren würde wie der Peruaner. In der Silvesternacht 1991 rangen die Verhandlungsdelegationen in New York unter der Leitung des scheidenden Generalsekretärs um eine Lösung. Auf Druck der USA waren zudem Präsident Cristiani und sein Verteidigungsminister General Ponce kurzfristig eingeflogen. Salinas de Gortari, damals Präsident von Mexiko, und Pérez, sein Amtskollege aus Venezuela, waren gekommen, um den Druck auf die Delegationen zu erhöhen.
„Es war kurz vor Mitternacht und wir hatten noch immer keine Übereinkunft“, erinnert sich General Mauricio Vargas, Leiter der Verhandlungsdelegation der Armee. Dreimal habe man die Uhr im Verhandlungsraum ein paar Minuten zurückgestellt, „und nach dieser Uhr haben wir fünf Minuten vor zwölf unterschrieben“. Später wäre die Unterschrift von Pérez de Cuéllar nicht mehr rechtsgültig gewesen.
Was vereinbart wurde, passte mitsamt den 17 Unterschriften auf ein einziges Blatt.4 Der entscheidende Satz: „Die Regierung von El Salvador und die Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional erklären, dass sie abschließende Übereinkünfte erreicht haben, die dem bewaffneten Konflikt in El Salvador ein definitives Ende setzen werden.“ Bis zum 16. Januar sollte ein umfassender Friedensvertrag unterschrieben werden. Wegen der einstündigen Zeitverschiebung zu New York erreichte die Nachricht El Salvador gerade noch rechtzeitig zum Jahreswechsel.
In Guazapa, einem Bergmassiv knapp zwanzig Kilometer nördlich von San Salvador, wo sich Guerilla und Armee seit Jahren gegenüberlagen, wurde geschossen. Zum ersten Mal nicht auf den Feind: Die Kämpfer begrüßten das Jahr, in dem es Frieden geben sollte, mit knatternden Salven in den Himmel. „Wir hätten noch ein paar Jahre Krieg führen können“, sagt FMLN-Chef González heute. „Aber uns war klar: Wir befanden uns auf einer schiefen Ebene, auf der wir langsam nach unten glitten.“ In den zwölf Jahren Krieg waren fast so viele Guerilleros gefallen, wie beim Friedensschluss unter Waffen standen.5 Die FMLN hatte ihre Truppe also einmal ganz ersetzen müssen. Gut die Hälfte ihrer Kämpfer waren am Ende Halbwüchsige im Alter zwischen zwölf und zwanzig Jahren. „Wir mussten uns von einer Guerilla in eine politische Kraft verwandeln“, sagt González. „Es verschafft mir noch heute Genugtuung, dass wir das rechtzeitig erkannt und aus einer Position der Stärke heraus geschafft haben.“
Die Akte von New York war nicht viel mehr als eine verbindliche Absichtserklärung. Es fehlten noch viele Details, vor allem, was die zukünftige Rolle der Armee und der anderen staatlichen Sicherheitskräfte anging. Aber gerade das, worum am längsten und heftigsten gerungen wurde, war am Ende das stärkste Stück des Vertragswerks. Das gemeinsame Ziel der fünf in der FMLN zusammengeschlossenen Guerillaorganisationen – der Militärherrschaft in El Salvador ein Ende zu setzen – war nicht im Krieg, aber am Verhandlungstisch erreicht worden. Schafik Handal, damals Vorsitzender der Kommunistischen Partei und eines der fünf Mitglieder der Generalkommandantur der FMLN, sprach von einer „Revolution am Verhandlungstisch“.
Was die beiden Verhandlungsdelegationen schließlich am 16. Januar 1992 in Mexiko-Stadt unterzeichneten, ging weit über das hinaus, was es vorher in Lateinamerika an Friedensverträgen zwischen Regierungen und Aufständischen gegeben hatte. In Bolivien, Kolumbien und Venezuela war es lediglich darum gegangen, einer in die Enge getriebenen Guerilla einen einigermaßen würdigen Abgang zu gewähren: Die bewaffneten Organisationen wurden demobilisiert, die Revolutionäre durften sich in die politischen Strukturen ihres Landes integrieren – und verschwanden dort schnell in der Bedeutungslosigkeit. Der Friedensvertrag von El Salvador aber hat das Gesicht des Landes tatsächlich verändert.
Nach über sechzig Jahren Militärherrschaft setzte der mehr als achtzig Seiten lange Vertragstext dieser ein Ende: „Die Aufrechterhaltung des inneren Friedens, der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit gehört nicht zum Auftrag der Streitkräfte.“ Die der Armee unterstellte Nationalpolizei, die besonders repressive Finanzpolizei, die Nationalgarde, die für Massaker berüchtigten Eliteeinheiten der Armee und die paramilitärischen Todesschwadronen der sogenannten Defensa Civil (Zivile Verteidigung) wurden aufgelöst, die Restarmee innerhalb von zwei Jahren auf 35 000 Mann halbiert. Ihre einzige Aufgabe: die Verteidigung der Landesgrenzen und der nationalen Souveränität. Eine vom Generalsekretär der UNO eingesetzte Ad-hoc-Kommission sollte zudem die notorischen Menschenrechtsverletzer unter den Offizieren identifizieren und bis zum 15. September 1992 entlassen. Verteidigungsminister sollte in Zukunft ein Zivilist sein.
Natürlich hatte die FMLN mehr verlangt. Sie wollte zunächst, dass ihre eigenen kämpfenden Einheiten in eine neue, deutlich kleinere Armee von nicht mehr als 12 000 Mann integriert werden. Immerhin hat sie erreicht, dass die neu zu schaffende Zivile Nationalpolizei (PNC) zunächst zu einem Drittel aus demobilisierten Guerilleros bestand. Ehemaligen Militärs dagegen wurde nicht erlaubt, in die PNC zu wechseln. Für die innere Sicherheit sollte allein diese neue Polizei zuständig sein. Um zu verhindern, dass sie sich zu einem neuen Repressionsapparat entwickelt, sollten ihre Beamten lediglich Handfeuerwaffen tragen dürfen.
Der Beginn des Waffenstillstands wurde für den 1. Februar vereinbart. Die FMLN stellte ihre Angriffe aber schon am Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrags ein. Die Waffen jedoch durfte sie noch behalten. Dem Ende des Kriegs folgte zunächst eine Periode des „bewaffneten Friedens“. Erst am 31. Oktober 1992 übergab die Guerilla ihr Kriegsgerät zur öffentlichen Vernichtung an die UNO. In den neun Monaten davor behielt sie sich die Option vor, im Falle eines gravierenden Vertragsbruchs durch Regierung oder Armee den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.
Diese Klausel zeigt, wie tief das Misstrauen trotz der Vertragsunterzeichnung war – nicht nur aufseiten der FMLN. „Natürlich hatten wir große Zweifel und keinerlei Vertrauen in die Guerilla“, sagt der militärische Verhandlungsführer General Vargas im Rückblick. „Beide Seiten sind mit dem Vertrag an ein Ziel gelangt, an das sie niemals kommen wollten.“ Auch er behauptet, die Armee hätte den Krieg noch viele Jahre fortführen können. Eben deshalb „war es schwerer, meine Kameraden zu überzeugen als die FMLN“.
Der aus der Sicht der Guerilla schwächste Teil des Friedensvertrags ist der Bereich der Wirtschaft. Es wurde ein Gremium der konzertierten Aktion aus Vertretern der Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften vereinbart, das sich Gedanken zur Demokratisierung der Wirtschaft machen solle. Konkrete Ziele werden nicht genannt, eine Aufsicht oder wenigstens Begleitung durch die UNO war nicht vorgesehen. Zwar wurde ein solches Gremium geschaffen, Ergebnisse aber hat es nie vorgelegt. Hier hat sich die alte Oligarchie El Salvadors durchgesetzt. Medardo González war diese Schwäche schon damals klar.
Er war am 16. Januar 1992 nicht im Schloss Chapultepec, sondern auf der Plaza Cívica in San Salvador. Offiziell war er an diesem Tag noch immer einer der meistgesuchten „Terroristen“ des Landes. „Aber wir wussten längst, wie man das macht: in die Stadt kommen, kurz auftreten und dann wieder verschwinden.“
Im kleinen Saal im ersten Stock der Parteizentrale der FMLN hängt an der Stirnseite ein riesiges Schwarz-Weiß-Foto von den Menschenmassen an jenem Tag. Davor sitzt González und erinnert sich, was er damals in seiner kurzen Rede als Comandante Milton gesagt hat: „Dass es ein Sieg der FMLN und des Volkes war. Und dass wir mit dem Friedensvertrag die Militärdiktatur demontiert haben.“ Heute sagt er es differenzierter, weniger triumphalistisch: „Wir hatten erreicht, dass die militärische Macht der zivilen untergeordnet wird. Aber wir haben es nicht geschafft, das System zu verändern, das Marginalisierung und Armut hervorbringt.“
Bis heute nicht. Gleich bei der ersten Wahl nach dem Abschluss des Friedensvertrags im Frühjahr 1994 schaffte es die FMLN, sich als zweitstärkste Kraft im Parlament zu etablieren. Von Wahl zu Wahl rückte sie näher an die rechtsextreme Regierungspartei Arena und überholte sie schließlich. Nur den direkt gewählten Präsidenten konnte sie lange nicht stellen. Zum Teil lag dies an den internen Kämpfen zwischen dem sozialistischen und dem gemäßigt sozialdemokratischen Flügel der FMLN. Zum anderen auch daran, dass ehemalige Guerilla-Comandantes als Kandidaten antraten (wie 2004 der Kommunist Schafik Handal), die zwar das auf 35 bis 40 Prozent der Stimmen geschätzte Votum der direkten FMLN-Anhänger einfahren konnten, aber auf die politische Mitte eher abschreckend wirkten.
Exportiert werden vor allem Arbeitskräfte
So konnten vier Arena-Präsidenten in Folge El Salvador vom Agrar- in einen neoliberalen Dienstleistungs- und Konsumstaat ummodeln. Wichtigstes Exportgut ist schon lange nicht mehr der traditionelle Kaffee, einst Quelle des Reichtums der alten Oligarchie. Exportiert wird heute vor allem – illegale – Arbeitskraft. Jeder dritte Salvadorianer lebt im Ausland, die allermeisten in den USA. Ihre Überweisungen nach Hause sind insgesamt höher als alle Exporterlöse zusammen.
Damit sorgen sie für eine nahezu ausgeglichene Zahlungsbilanz und volle Kassen beim örtlichen Finanz- und Handelskapital. Gerechnet wird längst in Dollar. Präsident Francisco Flores (1999 bis 2004) hat 2001 den nationalen Colón abgeschafft und durch die US-Währung ersetzt. El Salvador ist seither ein wirtschaftliches Anhängsel der Vereinigten Staaten. Auch das Preisniveau ist vergleichbar, nur die Löhne sind deutlich niedriger.
Die FMLN hat lange versprochen, sie werde, wenn sie an die Macht komme, den Colón wieder in Umlauf bringen. Seit dem 1. Juni 2009 ist sie an der Regierung und von der Abkehr vom Dollar ist nicht mehr die Rede. Die ehemalige Guerilla gewann die Präsidentschaftswahl mit einem adoptierten Kandidaten: Der Journalist Mauricio Funes, in der Nachkriegszeit so etwas wie das kritische Gewissen El Salvadors, ist ein Jahr vor der Wahl in die FMLN eingetreten, um auf ihrem Ticket Präsident zu werden. Der Schachzug schien genial: Funes, ein Mann mit der Aura eines Fernsehstars, konnte genau die Stimmen der Mitte holen, die der FMLN bislang gefehlt hatten. In der Nacht des 15. März 2009, als der Wahlsieg bekannt gegeben wurde, herrschte auf den Straßen von San Salvador noch einmal solcher Jubel wie am 16. Januar 1992. Siebzehn Jahre nach dem Ende des Krieges schien die FMLN endlich am Ziel.
Zweieinhalb Jahre später aber herrscht Ernüchterung. „Diese Regierung repräsentiert nicht die historischen Ziele der FMLN“, sagt Generalsekretär González ohne Umschweife. Funes hat nicht nur seinen eigenen Kopf, sondern auch seine eigenen Leute im Kabinett. „Wir haben Verbesserungen im Sozialbereich6 erreicht“, sagt González. „Aber es ist nichts geschehen, um mit dem neoliberalen System zu brechen.“ Und unter Funes wird wohl auch nichts mehr geschehen. „Mit Wirtschaft haben wir nichts zu tun, dafür hat der Präsident seine eigenen Leute“, sagt González – gerade so, als habe der Präsident mit seiner Partei nichts zu tun. „Überall, wo Geld im Spiel ist, wurde die FMLN ausgeschlossen.“
Wer Funes kennt, hatte ohnehin nicht erwartet, dass er die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen angehen würde, die die FMLN vor zwanzig Jahren am Verhandlungstisch nicht durchsetzen konnte. Er kommt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ist durchs Fernsehen zu Ruhm gelangt und hat sich schon vor seiner Wahl gern in Unternehmerkreisen bewegt. Die haben ihm auch seinen Wahlkampf finanziert. Ein Linker ist er ganz gewiss nicht. Andere Entwicklungen haben selbst seine Kritiker überrascht. Zum Beispiel, dass er ausgerechnet einen General zum Justiz- und Sicherheitsminister und damit obersten Dienstherrn der Polizei gemacht hat – gegen den ausdrücklichen Willen der FMLN und im Widerspruch zu dem, was im Friedensvertrag steht.
Überhaupt kamen die Militärs ziemlich ungeschoren davon. Sicher: Sie verschwanden mit dem Friedensschluss von der politischen Bühne und gut fünfzig von ihnen wurden von der Ad-hoc-Kommission entlassen. Aber kein Verantwortlicher für ein Massaker oder ein anderes Kriegsverbrechen stand je vor Gericht. Zwar hat eine von der UNO eingesetzte Wahrheitskommission in ihrem im März 1993 vorgelegten Bericht über 90 Prozent aller Kriegsverbrechen den staatlichen Sicherheitskräften angelastet und dabei auch Namen genannt. Das damals rechts dominierte Parlament aber sorgte für eine Generalamnestie. General Vargas verteidigt dies noch heute. „Auch ich war kein Engel“, sagt er. „Ich war zehn Jahre lang im Kampf, mit Eliteeinheiten in den härtesten Konfliktzonen. Der Krieg macht dich unmenschlich und brutal.“ Auch er war ein Schlächter. Aber dafür büßen? „Wir haben doch keinen Frieden geschlossen, um danach ins Gefängnis zu gehen.“ Vargas ist heute ein gemachter Mann. Er empfängt in seiner Firma in San Marcos, einem Industrievorort im Süden von San Salvador. Ein funktionales Betongebäude mit Kühlkammern im Erdgeschoss, in denen Rinder- und Schweinehälften hängen. Der Boden ist gekachelt und hat große Abflüsse für das Blut. Vargas ist im Importgeschäft.
Der General importiert jetzt bestes Fleisch
Er bringt das beste Fleisch Zentralamerikas ins Land und verkauft es an Nobelrestaurants und Feinkostläden. Obwohl er längst im Ruhestand ist, nennen ihn seine Angestellten „General“. Er lebt noch immer im Kalten Krieg, sieht sich vom Kommunismus umzingelt: In Venezuela, Bolivien oder Ecuador und auch in El Salvador „sind die Kommunisten nun an der Regierung“. Die Gefahr sei keineswegs gebannt. „Der Kommunismus kann jederzeit wieder auferstehen, hier genauso wie in Russland.“
Als Anfang vergangenen Jahres ein spanischer Untersuchungsrichter die Auslieferung der Verantwortlichen für das Massaker vom November 1989 an der Jesuitenuniversität von San Salvador verlangte,7 und diese sich in einer Kaserne verschanzten, trat Vargas als ihr Fürsprecher in allen nationalen Medien auf. „Amnestie heißt Vergebung und fertig“, sagt er. „Nicht Wahrheit, Gerechtigkeit und Vergebung, wie uns das manche Priester weismachen wollen.“ Und: „Ohne Amnestie hätte es keinen Friedensvertrag gegeben. Wer sie infrage stellt, gefährdet den Frieden.“
Mit Straffreiheit für Kriegsverbrecher hat es angefangen. Heute kann so gut wie jeder Delinquent darauf bauen. Keine drei Prozent der jährlich über 4.000 Morde führen zu einer rechtskräftigen Verurteilung des Täters. Weder die zehntausenden von Mitgliedern der Jugendbanden noch die lokalen Ableger der mexikanischen Drogenkartelle oder auch gewöhnliche Kriminelle fürchten die Justiz.
Man hat in El Salvador so getan, als sei mit dem Friedensvertrag alles wieder gut. Als könne man einfach eine Seite umblättern und ein neues Kapitel beginnen. Man hat ignoriert, dass zwölf Jahre Bürgerkrieg die sozialen Strukturen des Landes zerstört hatten. Dass es in den Städten keine funktionierenden Nachbarschaften mehr gab und auf dem Land keine Dorfgemeinschaften. Jeder misstraut heute dem anderen und schließt sich ein. Die hohen mit Stacheldraht bewehrten Mauern um die Häuser und die vielen privaten Wachmänner zeugen davon. Das gnadenlose neoliberale Wirtschaftssystem, in dem nur das Recht des Stärkeren zählt, hat sein Pendant in der Kriminalität. El Salvador ist zwanzig Jahre nach dem Friedensschluss noch immer eines der gefährlichsten Länder der Welt.
Im Zuge der überbordenden Kriminalität sind die Militärs wieder aus den Kasernen gekommen. Schon die rechten Regierungen ließen Soldaten zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit wieder auf den Straßen patrouillieren. Aber sie wahrten zumindest die Form: Die Armee war immer nur gemeinsam mit der Polizei unterwegs und unter deren Befehl. Bestimmungen im Friedensvertrag wie die, dass Polizisten höchstens Handfeuerwaffen tragen dürfen, wirken heute nur noch wie ein schlechter Witz. Längst gehen die Beamten der PNC mit Sturmgewehren und Maschinenpistolen auf die Straße.
Noch absurder wirkt es, dass es ausgerechnet der im Namen der FMLN gewählte Präsident ist, der das aus Sicht der Guerilla wichtigste und für das Land revolutionäre Kapitel des Vertragswerks von damals nun endgültig auf den Kopf stellt. Funes hat die Armee wieder ganz offiziell mit Aufgaben der inneren Sicherheit betraut. Soldaten bewachen heute die Gefängnisse, patrouillieren durch ländliche Gegenden und jagen im Grenzgebiet zu Honduras und Guatemala Delinquenten. Messbare Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung hat das nicht gebracht – im Gegenteil. Die Zahl der Morde steigt weiter. Aber zwanzig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs sind die Militärs wieder da.
Die salvadorianische Journalistin Cecibel Romero und der deutsche Journalist Toni Keppeler betreiben gemeinsam das Büro latinomedia.de.
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