13.01.2012

Religion und Arbeitskampf

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Religion und Arbeitskampf

In der Industriestadt Suez geht die Revolution weiter. Aber wohin? von François Pradal

Religion und Arbeitskampf
Eine Kultur des Widerstands

Wir sitzen in einem Café direkt neben der Einmündung des Suezkanals ins Rote Meer. Nicht weit entfernt, auf einer Landspitze, sieht man die Lichter der Raffinerien funkeln. „Ich bin zwar gegen einen islamischen Staat“, sagt Ghehareb Saqr. „Aber mir sind die demokratisch gewählten Muslimbrüder lieber als die Fortdauer des Militärregimes.“ Saqr ist beim Textilunternehmen Misr Iran für die Klimatisierung der Fabrikationsanlagen zuständig. Und er ist Kommunist. Gerade haben die Arbeiter bei Misr Iran nach drei Wochen Streik eine zehnprozentige Lohnerhöhung erstritten.

Ahmed Mahmud wurde erst vor Kurzem nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Bei den Parlamentswahlen ist er der Spitzenkandidat der Muslimbrüder in Suez. Er trägt einen modischen italienischen Anzug, als er zu seinen jugendlichen Anhängern spricht. Was er sagt, klingt wie ein Echo des Kommunisten Saqr: „Ich ziehe demokratisch gewählte Kommunisten der Aufrechterhaltung des Militärregimes vor. Die Armee muss der Regierung unterstehen.“

Auf die Frage nach dem Wiederaufleben der Proteste seit dem 19. November bekräftigt der Sechzigjährige die Position, die seine Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ vertritt: „Ich unterstütze die Forderungen der Demonstranten und verurteile die Menschenrechtsverletzungen, auch wenn ich nicht zur erneuten Besetzung des Platzes aufrufe. Man muss den Druck auf das Militärregime aufrechterhalten.“ Zu den Streiks hat der „Bruder“ eine eindeutigere Meinung: „Jetzt ist nicht der beste Moment, weil die Wirtschaft 6,6 Milliarden Dollar verloren hat. Aber die Forderungen der Arbeiter sind legitim.“ Das wollen die umstehenden Aktivisten nicht gelten lassen: „Wer für einen Hungerlohn arbeitet, kann nicht warten.“ Und was sagt Mahmud zur künftigen Verfassung? „Sie muss alle Ägypter einbeziehen. Wir wollen die breitestmögliche Koalition bilden, einschließlich der Christen.“ Man fragt sich, ob es echter Wille zum Kompromiss oder reiner Opportunismus ist. In jedem Fall ist sich Mahmud in zwei Punkten mit den Kommunisten einig: Er befürwortet den Bruch mit dem Obersten Militärrat und die Anerkennung der demokratischen Spielregeln.

Die Hauptverkehrsstraße in Suez ist die „Straße der Armee“. Sie verbindet das alte Kolonialviertel in Port Taufiq1 mit dem Arbain-Platz, der sozusagen der Tahrirplatz von Port Said ist. Der Wahlkampf ist in vollem Gang; zwischen den Laternen, Palmen und Strommasten hängen Spruchbänder. Unter den Vordächern halten die Kandidaten ihre Versammlungen ab. Die Salafisten und die felul2 plakatieren Farbfotos ihrer Kandidaten: Mit einer Ausnahme: Das Porträt der einzigen Frau, die auf der Salafisten-Liste steht – das Gesetz schreibt mindestens eine Kandidatin vor – ist durch eine Blume ersetzt.

In Suez bemühten sich 109 Kandidaten um zwei Direktmandate, und 12 Parteien um vier weitere Sitze. Den Wahlkampf bestritten alle Parteien mit ihren Listensymbolen: die Muslimbrüder mit der Waage, die salafistische An-Nour-Partei („das Licht“) mit der fanus (eine Art Ramadan-Laterne); andere mit einem Mobiltelefon, einem Haus oder einer Wasserflasche. Die drei islamistischen Parteien erhielten am Ende 78 Prozent der Stimmen, die vier liberalen Parteien 14 Prozent, die vier Felul-Kandidaten 7 Prozent und die Nasseristen weniger als 0,1 Prozent. Die Islamisten konnten in Suez insgesamt also mit vier oder fünf Sitzen rechnen. Von den aus der Revolution hervorgegangenen Parteien haben es damit nur die Islamisten geschafft, sich gesellschaftlich zu verankern. Und die älteren Organisationen sind in den Augen vieler Ägypter ohnehin diskreditiert. Die politische Linke hat es schwer, sich in der Konkurrenz mit den anderen politischen Lagern zu behaupten. Sie konnte sich gegen die Rechte kaum profilieren, weil sich die Programme zu sehr ähneln.

„Die Leute stimmen für Personen, nicht für Parteien“, erklärt Nahed Marzuq, eine von lediglich vier weiblichen Kandidaten, die in Suez antraten. Marzuq steht der Sozialistischen Volksallianz nahe, die im politischen Spektrum weit links angesiedelt ist, sie selbst sieht sich aber als Unabhängige. Der Schlüssel zum Wahlerfolg liegt in einem „ehrwürdigen“ Namen: Um die Menschen zu überzeugen, die gleichzeitig revolutionär und konservativ sind, der Arbeitertradition wie dem Islam verhaftet sind, sollte man am besten aus einer geachteten Familie aus dem Viertel kommen. Von den Frauen und jungen Leuten, die sich in der Revolution profiliert haben, sind nur wenige zur Wahl angetreten. Ein alter Taxifahrer meint trotzdem: „Ich wähle die Jungen, weil nur sie uns vor der Rückkehr des alten Systems bewahren können!“

Es gibt zwei entscheidende Trennlinien. Die erste verläuft zwischen den Felul und den Anhängern der Revolution, zu denen auch die gehören, die nicht selbst auf die Straße gegangen sind. Ein junger Kandidat der Nasseristen meint: „Die Felul und die Muslimbrüder verfolgen dieselbe Politik. Sie sind konservativ und kapitalistisch.“ Die zweite Linie trennt die Islamisten von allen anderen Gruppierungen. Zwar stellt niemand den 2. Verfassungsartikel infrage, der die Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung bestimmt, aber die Salafisten gehen einen Schritt weiter. „Sie sind die Einzigen, die zwischen Islam und Staatsbürgerschaft und einem islamischen und zivilen Staat einen Gegensatz sehen“, erklärt Clément Steuer, Wissenschaftler am Centre d’études et de documentation économiques, juridiques et sociales (Cedej) in Kairo. „Es geht bei dieser Debatte also um die Frage, auf welchem Prinzip das Gesellschaftsleben basieren soll: auf dem Islam oder der Staatsbürgerschaft.“

Die größte Überraschung in Suez war der Wahlerfolg der Salafisten: Mit 51 Prozent der Stimmen – so viel wie nirgends sonst im Land – haben sie auch die Muslimbrüder weit hinter sich gelassen. In Suez sind die Salafisten seit Langem gut verankert, wobei sie vom Ansehen des berühmten Predigers Scheich Hafez Salama profitieren. Der Achtzigjährige war eine führende Kraft im Widerstand gegen die Israelis 1967 und predigte in den 1980er Jahren den Dschihad gegen den zionistischen Staat.4 In Suez sind die jungen Salafisten auf den Zug der Revolution aufgesprungen, beteiligten sich zahlreich an den letzten Demonstrationen und übernahmen sogar Ordnerfunktionen.

Der Lagerarbeiter Reda streikt und wählt die Salafisten

Reda ist Lagerarbeiter im Hafen von Sokhna, 45 Kilometer südlich von Suez. Trotz seines gepflegten Äußeren und des glatt rasierten Gesichts macht er einen stark mitgenommenen Eindruck. Vor einem Jahr war er an vorderster Front dabei, ein Geschosssplitter verfehlte nur knapp sein rechtes Auge. Der Streik der Hafenarbeiter hat sein Ziel nicht erreicht, meint Reda: „Man hat uns gerade mal zwei leere Container überlassen: einen für Sport und einen zum Beten.“ Er selbst wurde von einem vorgesetzten Ingenieur gedemütigt, der ihm Knochenarbeiten zuteilte, die nicht zu seinem Aufgabenbereich gehören. Im Hafen gilt das alte hierarchische Herrschaftssystem – trotz Revolution.

Ein salafistischer Kollege hat Reda zu seinem Schwiegersohn gemacht, bietet ihm Unterkunft und knöpft ihm sein Gehalt ab. Trotz seiner revolutionären Ansichten hat Reda bei den Wahlen für Mohammed Abdel Khaled, einen anderen Scheich der Salafisten gestimmt. „Der gefällt allen in meinem Viertel“, rechtfertigt er sich. Es ist fast paradox: In Suez, der revolutionärsten Stadt des Landes, triumphieren die Salafisten, obwohl sie sich anfangs an der sozialen und antiautoritären Revolte gar nicht beteiligt haben. Mohammed Abdel Khaled, der Listenführer der An-Nour-Partei, ausgebildeter Chemiker und Manager einer Ölfirma, ist auch Prediger und trägt einen streng ausrasierten Bart. Abdel Khaled sitzt im Fonds einer teuren Limousine und klopft konservative Sprüche: „Ich will die Scharia uneingeschränkt anwenden und nach allen Regeln des Islam unterrichten. Politik und Religion sind ein und dieselbe Sache.“ Und der Tourismus? „Wir befürworten eher religiösen, wissenschaftlichen oder Wellnesstourismus.“

Und wie soll die darniederliegende Wirtschaft wieder in Gang kommen, wie die massive Arbeitslosigkeit abgebaut werden? „Wir sollten die Arbeitsemigration und am besten kleine Investitionsprojekte im Dienstleistungs- statt im Konsumgüterbereich fördern, aber auch größere Infrastrukturprojekte sind wichtig: Zum Beispiel eine U-Bahn von Sokhna nach Arbain.“ Der Frage nach der Finanzierung weicht Khaled aus. Und wie denkt er über die Streiks? „Die sind vor allem das Resultat eines mangelnden Dialogs zwischen den Beteiligten, da kann das Gebet weiterhelfen. Die Meinungsfreiheit muss respektiert werden, aber die Produktion darf nicht darunter leiden. Auch die Freiheit hat ihre Grenzen.“ Was die christlichen Kopten betrifft, so sollen sie „gemäß ihrer Religion beurteilt werden“. Es soll also offenbar gesonderte koptische Gerichte geben.

Tatsächlich leben die etwa 6 000 Kopten von Suez sehr zurückgezogen, und sie fühlen sich auch im Stich gelassen. „Wir werden zwar täglich von Salafisten beleidigt“, erzählt Pater Serafin von der Kirche der Jungfrau Maria, „aber unsere Kirchen werden nicht angegriffen, es gibt keine Gewalt. Wir haben keine Angst, und wir werden bleiben.“

Der Wahlkampf der Salafisten ging von den Moscheen aus. Dort haben sie das Sagen, weil sie stärker präsent sind als die Muslimbrüder. Nach dem Freitagsgebet hört man Ansichten wie diese: „Seit Jahrzehnten wurden wir unterdrückt. Deshalb müssen wir für die Kandidaten stimmen, die unsere Religion, unsere Arbeit, unsere Familien und unseren Lebensstandard schützen.“ Geld kommt aus Saudi-Arabien, und zwar nicht zu knapp. Am 14. Dezember 2011, dem ersten Wahltag, betrieben die Salafisten verbotenerweise noch weiter Werbung vor den Wahllokalen, indem sie allerlei versprachen, zum Beispiel Nahrungsmittel.

Dass die Salafisten insbesondere die arme Bevölkerung in den vernachlässigten Stadtvierteln und auf dem flachen Land begeistern können, liegt vor allem daran, dass sie sich häufiger als die Muslimbrüder auf die islamische Identität berufen. „Auch wenn sie politisch nicht auf die gleiche Weise agieren, gibt es zwischen beiden Gruppierungen dennoch gewisse Schnittmengen. Viele führende Muslimbrüder wurden in einer salafistischen Schule ausgebildet und haben in den 1980er Jahren dieselben Predigten in denselben Moscheen gehört. Die Folge war eine gewisse ‚Salafisierung‘ “, erklärt Alaa al-Din Arafat, ein Forscherkollege von Clément Steuer am Cedej.

Das neue ägyptische Parlament wird – wenn der Militärrat es nicht verhindert – eine Kommission ernennen, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll, über die dann in einem Referendum entschieden werden muss. Wie weit die legislativen Kompetenzen dieser Kommission reichen, ist genauso offen wie das Verfahren, nach dem die Regierung bestellt werden soll. All diese Fragen hängen stets vom Obersten Militärrat ab, den immer mehr Ägypter mit dem alten Regime gleichsetzen. Sie sehen die früheren Kräfte an der Macht, nur eben hinter einer anderen Maske. Bestätigt werden sie durch die Tatsache, dass viele Kandidaten erklären, die Revolution sei beendet. Sollte der lange Wahlprozess, deren letzter Akt die Senatswahl vom 11. März 2012 sein wird, am Ende nur dazu dienen, das revolutionäre Kapitel endgültig abzuschließen?

Mehr als die Hälfte der 600 000 Einwohner von Suez leben im ärmsten Viertel der Stadt: Arbain. Hier nahm die Revolution ihren Ausgang, hier liegen ihre Wurzeln, und hier hat sie ihr größtes Reservoir an Mitstreitern. In Arbain ist das Leben hart. Die Sandstraßen sind gesäumt von heruntergekommenen Marktständen und halb fertigen oder verfallenen Häusern. Überall türmt sich der Müll. Selten gibt es Wasser, das ohnehin kaum genießbar ist. Wegen der hohen Nachfrage sind die Mieten in Arbain teuer. Dabei gibt es praktisch keine öffentlichen Dienstleistungen. Fast ein Drittel der Bewohner dieses vernachlässigten Viertels ist arbeitslos. Bei den am Suezkanal tätigen Unternehmen gelten die Bewohner von Arbain als zu aufsässig. Sie stellen lieber Leute ein, die aus dem Süden, aus der Nildelta-Region oder dem Ausland stammen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung von Suez sind zugezogene Arbeitskräfte.

Für Emad Ernest, der einige Dokumentarfilme über die Städte am Kanal gedreht hat5 , ist die Wasserfrage die Ursache allen Übels: „Die Freunde des Mubarak-Sohns Gamal haben die Menschen vertrieben, um neue Industrien aufzubauen: Die Randbezirke versinken in den Abwassern der riesigen Hotelanlage von Ain Sokhna, die Fischer leiden unter dem Hafenverkehr und der zunehmenden Verschmutzung des Roten Meers, die umliegenden Dörfer unter der Austrocknung ihrer Bewässerungskanäle.“ Auf diese Weise bestrafte die einstige Einheitspartei das rebellische Suez.

Wie überall in Ägypten ist auch in Suez alles käuflich, vom Führerschein oder Diplom bis zum Job. Doch die Revolte richtete sich vor allem gegen die polizeiliche Willkür. Der Mechanikstudent Ali, heute 20 Jahre alt, war in sechs Jahren viermal im Gefängnis: „Nie habe ich gewusst, warum. Um mich politisch zu engagieren, hatte ich viel zu viel Angst. Ich wurde andauernd grundlos verhaftet, überall, am Strand, im Café, egal wo, dabei hatte ich immer meinen Ausweis dabei. Meiner Meinung nach haben die mehr Geld bekommen, wenn sie mehr Leute ins Kittchen gebracht haben.“

Der Golf von Suez ist eines der wichtigsten Industriezentren Ägyptens. 79 Prozent der Raffinerieproduktion, der Petrochemie und andere Schwerindustrien sind am Kanal angesiedelt, begünstigt durch die vielen Häfen und den Schiffsverkehr. Die Zement- und Textilfabriken konzentrieren sich in einem 15 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Rotem Meer und Wüste. Der Suezkanal ist Ägyptens drittgrößte Devisenquelle, nach dem Tourismus und den Auslandsüberweisungen der Migranten. Die Kanaleinnahmen steigen stetig an, 2011 auf einen Rekordwert von 4,5 Milliarden US-Dollar.

Das ganze letzte Jahr über erlebte Ägypten die größte Streikwelle seit 1946. Doch das Ganze hat bereits vor sieben Jahren in den Textilfabriken von Mahalla al-Kubra begonnen.6 Neu angefacht wurde die Streikbewegung durch die Proteste vom 6. April 2008.7 Das war keine Überraschung angesichts der Privatisierungen, der Liberalisierung des Arbeitsmarkts, der Prekarisierung, der steigenden Inflationsrate – alles Entwicklungen, die auf Kosten der Arbeiterschaft gingen.8

Als der Stahlmagnat Ahmed Ezz Ende 2010 4 000 Leute entlassen und durch billigere Arbeitskräfte aus Asien ersetzen wollte, brach in Suez die Revolte aus. Ahmed Ezz, Abgeordneter der Partei von Expräsident Husni Mubarak und enger Freund der Präsidentenfamilie, gehörte zu den ersten Verhafteten nach dem Sturz Mubaraks. Der Streik im Hafen von Suez begann am 8. Februar und richtete sich vor allem gegen die Kanalgesellschaft. Am 19. Februar unterzeichneten die neuen unabhängigen Gewerkschaften eine gemeinsame Erklärung.9

Saud Omar koordiniert diese beispiellose Bewegung mit der in Kairo entstandenen Gewerkschaftsorganisation. Der leitende Angestellte der Kanalgesellschaft hat auch als unabhängiger Kandidat bei den Wahlen kandidiert. „Die Löhne schwankten bisher zwischen 100 und 4 000 Euro im Monat“, erklärt Omar, „und die Prämien zwischen 0,13 und 10 000 Euro.“ Das Durchschnittseinkommen in Suez liegt unter 100 Euro, aber die Forderungen der Gewerkschaften betreffen auch das Streikrecht, einen besseren Schutz vor Arbeitsunfällen, die Wiederverstaatlichung von Betrieben und die Einführung eines Mindest- und Maximallohns, erzählt Omar weiter: „Zuerst im Februar, dann im April und zuletzt im Juli hat die Verwaltung höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen versprochen. Aber passiert ist nie etwas. Und jetzt mobilisieren die Arbeiter wieder. Es ist wie damals bei der Rede von Mubarak: ,Ich habe euch verstanden, aber ich bleibe!‘ “

Die Protestbewegung agiert mit wechselnden Methoden: Arbeitsniederlegungen, Sit-ins, turnusmäßige Streikposten. Die Repression hingegen ist immer gleich. Die Übergangsregierung hat im März und Juni 2011 zwei wichtige Gesetze erlassen: Das erste drohte jedem streikenden Arbeiter Gefängnisstrafen an, das zweite erlaubt Streiks, allerdings nur „ohne eine Aussetzung der Arbeit“. In Suez ist die Streikbewegung jedoch stark genug, um Verhaftungen und Entlassungen zu verhindern. Ende Juli setzte sie mit Unterstützung der Revolutionäre eine Anhebung der Löhne um 40 Prozent und bessere Prämien durch.10

Der Student Mohammed will heiraten

Die Bewegung griff auch auf andere Sektoren über. Ihre Erfolge verdankt sie entweder der lokalen und nationalen Verankerung einer unabhängigen Gewerkschaftsorganisation oder aber der Tatsache, dass die bestreikten Unternehmen für die Sicherung der strategisch wichtigen Passage durch den Kanal unentbehrlich sind. Die Arbeiter haben jedoch nie versucht den Kanal selbst zu blockieren. Aus Angst vor der Armee, die den Kanal bewacht? Weil er „unser Augapfel“ ist, sagt Wahid al-Sirgani, Lotse zwischen Port Said und Suez. Die Arbeiter bestehen zwar auf ihren Rechten, betrachten sich aber auch als Bürgen der Nation.

Andere Errungenschaften der Revolution sind naturgemäß schwerer zu quantifizieren. Das gilt etwa für die neu gewonnene Meinungs-, Organisations-, und Bewegungsfreiheit, aber auch für das Recht der Straßenhändler, ihre Tätigkeit ohne eine hinderliche „Gebühr“ ausüben zu dürfen. Die Polizei wurde in Suez am 28. Januar von den Straßen vertrieben und ist seitdem verschwunden. Niemand scheint mehr Angst vor einer Verhaftung zu haben, auch wenn die Organe der Staatssicherheit wachsam bleiben.

Viele Probleme bleiben ungelöst: die hohen Preise, die steigende Arbeitslosigkeit und die mangelnden Jobaussichten für junge Leute, selbst wenn sie ein Diplom besitzen. Mohammed, ein zwanzigjähriger Student der Betriebswirtschaftslehre, hat es satt: „Die Revolution ist vorbei. Jetzt würde ich gern eine richtige Arbeit haben, eine eigene Wohnung und heiraten. Ich will, dass man mich anständig behandelt. Und ich will mir meinen Lebensunterhalt nicht mehr mit Putzen verdienen müssen.“

Der Journalist Medhat ist wütend

Am 28. November 2011 legte der Fernsehmoderator Medhat Eissa unter großem Mediengetöse an der Landzunge von Suez auf einem Schiff an. Eissa kandidierte für die zentristische Partei „Gerechtigkeit“ und ist ein enger Vertrauter von Mohammed al-Baradei, dem Exgeneraldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO). Eissa war wütend und empört, weil Mitarbeiter der Kanalgesellschaft gerade eine Ladung US-amerikanisches Tränengas abgefangen hatten – derselbe chemische Stoff, der im November auf dem Tahrirplatz den Tod mehrerer Demonstranten verursacht haben soll. Die Frachterbesatzung wurde festgenommen. Nachdem sich das Ereignis herumgesprochen hatte, kam es zu Demonstrationen am Hafen.

Das Ereignis wurde von Eissa sarkastisch kommentiert: „Im Februar hat uns die Armee gesagt: ‚Erhebe dein Haupt, du bist Ägypter!‘ Heute heißt es: ‚Erhebe dein Haupt, damit ich auf dich schießen kann!‘ Nur 10 Prozent unserer Forderungen sind erfüllt worden. Diese Revolution ist ein Prozess, für den wir noch fünf oder sogar zehn Jahre brauchen werden. Klein beigeben ist ausgeschlossen, solange dieses Regime noch an der Macht ist.“

Im Zentrum der Proteste steht die Forderung, diejenigen Offiziere zu verurteilen, die für den Tod so vieler junger Ägypter verantwortlich sind. „Kein einziger der wegen Mordes angeklagten Offiziere wurde verurteilt“, erzählt Amin Dashur, der die Angehörigen als Sprecher vertritt, „schlimmer noch: Viele sollen sogar auf ihre früheren Posten zurückgekehrt sein. Nach Ansicht der Gerichte hätten sie sich lediglich selbst verteidigt: Die Revolution erstrecke sich nicht auf das Gesetz, das auf keinen Fall rückwirkend gelten dürfe.“ Die betroffenen Familien haben alle angebotenen Entschädigungszahlungen zurückgewiesen. Sie sind wütend, und wenn es bei der Entscheidung bleibt, ist nicht ausgeschlossen, dass manche zur Selbstjustiz greifen könnten.

„Die Revolution zieht ihre Kraft aus den Märtyrern, die das Volk wieder auf die Straße treiben“, sagt ein Anwalt, der den Muslimbrüdern nahesteht. Und wurde die zweite Revolutionswelle nicht dadurch ausgelöst, dass am 20. Juni 2011 die Polizisten wieder freigelassen wurden, denen vorgeworfen wurde, in Suez Demonstranten getötet zu haben? Die Wiederbesetzung des Tahrirplatzes im Juli und der Aufschwung des Gewerkschaftskampfs wurden auch begleitet von der Forderung nach der Anerkennung der Märtyrer.

Die revolutionären Kräfte von Kairo, Suez und Alexandria sind zwar offenbar immer besser organisiert und koordiniert, aber sie bilden in Ägypten keineswegs die Mehrheit. „Revolutionen wurden immer von Minderheiten gemacht“, meint der 33-jährige Mohammed Mahmud, ein Mitglied der Bewegung des 6. April und der Gerechtigkeitspartei. „20 Millionen Ägypter sind auf die Straße gegangen, aber 60 Millionen sind zu Hause geblieben.“11 Und was wird aus dem Militärrat? „Wenn die Ruhe erst einmal wiederhergestellt ist, wird er in sich zusammenbrechen!“, meint Mahmud. „Wir sind gegen Mubarak aufgestanden und haben gesiegt. Wir sind gegen den Premierminister aufgestanden und haben gesiegt. Jedes Mal, wenn wir uns dem Militärrat entgegenstellen, weicht er zurück. Eines Tages werden wir ihn stürzen.“

Aber ist das Parlament mit seiner islamistischen Mehrheit nach der Wahl nicht eher legitimiert, im Namen des Volkes zu sprechen als die Straße? Die Antwort des Anwalts lautet: „Die ‚Brüder‘ hätten ohne die Ereignisse auf dem Tahrirplatz niemals antreten können. Ihre Legitimation ziehen sie aus der Revolution, außerdem sind sie gespalten zwischen den jungen Aktivisten und dem alten Apparat, der Bruderschaft und der Partei. Wenn sich das Volk betrogen fühlt, wird es wieder auf den Platz zurückkehren.“

Hier in Suez haben die Aktivisten vor gar nichts Angst. Ihr Optimismus und ihr taktisches Gespür sind bemerkenswert. In Suez geht die Revolution weiter.

Fußnoten: 1 Claudine Piaton (Hg.), „Suez, histoire et architecture“, Institut français d’archéologie orientale (IFAO), Kairo, 2011. 2 Name für die Konterrevolutionäre, die für ein Militärregime eintreten und oft aus der Partei des Expräsidenten Husni Mubarak kommen. 3 In anderen Landesteilen kamen sie höchstens auf 25 Prozent. 4 Siehe Gilles Kepel, „Les groupes islamistes en Egypte. Flux et reflux, 1981–1986“, Politique étrangère, Nr. 2, 1986, S. 429–446. 5 Zum Beispiel „Karassi Dschalid“ („Ledersessel“), Regie: Emad Ernest, Ägypten 2011. 6 Siehe Marie Dubosc, „La contestation sociale en Egypte depuis 2004. Précarisation et mobilisation locale des ouvriers de l’industrie textile“, Revue Tiers-Monde, April 2011. 7 Siehe Raphaël Kempf, „Vor der großen Revolte“, und Alain Gresh, „Jenseits von Tahrir“, Le Monde diplomatique, März und August 2011. 8 Siehe Françoise Clément, „Le nouveau marché du travail, les conflits sociaux et la pauvreté“, in: Vincent Battesti und François Ireton (Hg.), „L’Egypte au présent“, Arles (Sindbad – Actes Sud) 2011. 9 Siehe „Egyptian independent trade unionists’ declaration“: www.arabawy.org/2011/02/21/jan25-egyworkers-egyptian-independent-trade-unionists%E2%80%99-declaration/. 10 Joël Beinin, „What have workers gained from Egypt’s revolution?“, Foreign Policy, Washington, 20. Juli 2011. 11 Siehe dazu Adam Shatz, „Mubarak am Ende“, Le Monde diplomatique, Juli 2010. Aus dem Französischen von Jakob Horst

François Pradal ist Journalist und leitete von 2001 bis 2005 das Centre Culturel Français in Heliopolis, Kairo.

Eine Kultur des Widerstands

„Die Häuser von Suez sind die Häuser meiner Stadt, ich bin bereit, als Märtyrer zu sterben, damit sie bleiben …“ Diese Liedzeilen, die 1973 kurz nach der Rückeroberung des Kanals von dem Poeten Abdel Rahman el-Abnudi im zerstörten Suez geschrieben wurden, sind zur Hymne der Stadt geworden. „Am 3. Februar 2011“, erzählt der Gewerkschaftsaktivist Mohammed Nefiaoui, waren heftige Auseinandersetzungen zwischen baltaguis (vom Regime bezahlte Schergen) und Revolutionären ausgebrochen, aber „als einige begannen, diese Zeilen zu singen, endeten die Kämpfe“. Schon einige Tage zuvor hatte die Menge auf dem Tahrirplatz in Kairo diesen Refrain gesungen und damit die Befreiung von Suez gefeiert.

Das zweite Symbol für den Zusammenschluss der Bevölkerung von Suez ist seine Flagge: Sie zeigt ein Steuerrad auf marineblauem Grund mit einer Flamme in der Mitte. Die Flagge wurde zum Beispiel 2001 bei den Solidaritätsmärschen von Suez nach Gaza mitgeführt, tauchte aber auch 2011 auf dem Tahrirplatz in Kairo auf.

Die für Suez und die anderen Kanalstädte typische Musik ist die simsimiyya, begleitet von Leier, Zither, Trommel und Zimbel. Ihre Ursprünge reichen bis ins Ägypten der Pharaonen zurück, im Kairoer Nationalmuseum ist der ganze Saal Nr. 34 der Darstellung der simsimiyya gewidmet. In dieser Musik fließen Einflüsse aus dem Jemen, Indien und Dschibuti zusammen, die mit den Fischerbarken über das Rote Meer nach Ägypten gelangt sind. Laut Zakaria Ibrahim, Bandleader der Combo Tanboura, wurde die simsimiyya in den Cafés der Kanalstädte durch die Ankunft der sudanesischen Einwanderer zu neuem Leben erweckt und ist seit 1956 wieder sehr populär. Damals lautete ein Refrain: „Wir sind tapfer und mannhaft und kämpfen gegen die Armee der Besatzer. Frankreich hat uns beklaut, die Engländer haben unser Blut gesaugt.“ Es war die Exilmusik der Kanalbevölkerung, die zwischen 1967 und 1973 ihre Städte verlassen musste. Es war die Musik der Befreiungskämpfer und des Widerstands. Die Waffe, die den Leuten von Suez ein treuer Begleiter war; früher im Kampf gegen die Franzosen, die Briten und die Israelis, heute gegen die ägyptische Polizei.

Was wann geschah

17. November 1869: Nach zehn Jahren Bauzeit wird der Suezkanal eröffnet, der das Rote mit dem Mittelmeer verbindet. Unter der Leitung des französischen Unternehmers und Gründers der Suezkanal-Gesellschaft, Ferdinand de Lesseps, hatten insgesamt 1,5 Millionen Arbeiter die Wasserstraße durch die Wüste ausgehoben.

1928: Hassan al-Banna gründet in Ismailia am Suezkanal die Muslimbruderschaft.

18. Dezember 1951: Im Gefolge von antibritischen Demonstrationen brennen britische Truppen den Vorort Kafr Abdu nieder. Als in Ismailia, dem ehemaligen Hauptquartier der Briten, am 25. Januar 1952 ein Aufstand ägyptischer Polizisten niedergeschlagen wird, kommt es landesweit zu Protesten, die sechs Monate später zum Sturz von König Faruk führen.

26. Juli 1956: Präsident Gamal Abdel Nasser verstaatlicht den Suezkanal, eine Schlagader der globalen Ölversorgung. Drei Monate später rückt die israelische Armee durch den Sinai bis zum Kanal vor, britische und französische Truppen besetzen die Kanalzone. Die Angreifer ziehen sich schließlich unter dem Druck der USA zurück. Die Suezkrise beendet die britische Präsenz im Nahen Osten.

Juni 1967: Im Sechstagekrieg zwischen Israel und den Truppen Ägyptens, Jordaniens und Syriens wird Suez bombardiert und zu 80 Prozent zerstört. Israel besetzt die syrischen Golanhöhen und die ägyptische Halbinsel Sinai. Die gesamte Bevölkerung der Kanalstädte wird evakuiert und in der Nildeltaregion und in Kairo angesiedelt. Nur 100 Familien bleiben zurück.

24. Oktober 1973: Nachdem am 6. Oktober 20 000 ägyptische Soldaten zunächst die israelische Besatzungsmacht auf dem Sinai in einem Überraschungsangriff überrannt hatten, kommt es nach dem Gegenangriff israelischer Truppen, die das Westufer des Suezkanals erreichen, zu einem von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand. Am Ende steht der teilweise Rückzug der Israelis vom Sinai. Suez wird wiederaufgebaut, die Umgesiedelten kehren zurück, und 1975 wird der Kanal wiedereröffnet.

2001: Solidaritätsmarsch nach Gaza zur Unterstützung der zweiten Intifada.

2007: Beginn der Streikbewegung.

Januar 2009: Solidaritätskundgebungen für die Palästinenser in Gaza, das zwischen dem 27. Dezember 2008 und 18. Januar 2009 von den israelischen Luftstreitkräften (Operation „Gegossenes Blei“) bombardiert wird. Weitere Proteste richteten sich gegen die ägyptischen Billigausfuhren (Gas und Düngemittel) nach Israel.

28. Januar 2011: In Suez stürmen Anti-Mubarak-Demonstranten das Hauptquartier der Polizei und befreien Gefangene.

11. Februar 2011: Präsident Husni Mubarak erklärt seinen Rücktritt.

28. November und 14. Dezember 2011: In den ersten beiden Runden der Wahlen zum neuen Parlament gewinnen die fundamentalistischen Salafisten ein Viertel der Stimmen.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2012, von François Pradal