15.04.2005

Das Evangelium im Parlament

zurück

Das Evangelium im Parlament

Von REGINA NOVAES *

HALTET Religion und Politik bloß auseinander! Wie oft war das in Brasilien während der Dauer des Kommunalwahlkampfs im Oktober und November 2004 zu hören gewesen,1 von kirchlichen Autoritäten ebenso wie von Kandidaten jeglicher Konfession. Wer sich jedoch die Überschriften der Zeitungen und Illustrierten der beiden brasilianischen Megastädte São Paulo und Rio de Janeiro anschaut, mag das kaum glauben: „Das Politiker-Evangelium“ (Veja, Juni 2004), „Die Politik und der Pastor gemeinsam auf der Bühne“ (O Dia, 27. August 2004), „César, Conde und Crivella buhlen mit dem Namen Gottes um die Wählergunst“ (IG, 26. August 2004), „Widerliche Vermischungen in evangelikalen Predigten“, (O Globo, 18. August 2004), „Krieg um die evangelikalen Wählerstimmen“ (O Dia, 11. Oktober 2004), „Bittar gegen die Verquickung von Religion und Politik“ (O Dia, 11. Oktober 2004), „Heiliger Krieg in der Baixada“ (O Globo, 11. Oktober 2004).

Die Trennung von Kirche und Staat gehört seit Ende des 19. Jahrhunderts zu den republikanischen Idealen Brasiliens. Doch tatsächlich haben die Gremien der katholischen Kirche, evangelikale Sekten und die Oberhäupter spiritistischer Kulte – sowohl der europäischen nach Kardec2 wie der afrobrasilianischen – immer ihren Einfluss genutzt, um an ihren jeweiligen Wirkungsstätten in die Politik einzugreifen und bei Wahlkoalitionen mitzumischen. Daran änderten auch die oft erstaunlichen ideologischen Unterschiede zwischen den Parteien und Kandidaten nichts.

Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichneten sich nahezu alle Brasilianer als Anhänger des Vatikans, die Hegemonie der katholischen Kirche wurde unwidersprochen als naturgegeben hingenommen. Hundert Jahre später ist das große Land nicht mehr ganz so katholisch. Wie die offiziellen Statistiken beweisen, hat die katholische Kirche Jahrzehnt für Jahrzehnt deutlich an Glanz verloren: 1980 bezeichneten sich noch 88 Prozent als katholisch, im Jahr 2000 waren es nur noch 73,9 Prozent. Viele Gläubige sind inzwischen zu evangelikalen Gemeinden abgewandert, vor allem zu den Pfingstkirchen3 . Waren vor zehn Jahren noch 13,5 Millionen (9,1 Prozent) der Brasilianer protestantisch, sind es heute fast doppelt so viele – 26,2 Millionen (15,5 Prozent). Von 1990 bis 1993 wurden im Großraum Rio de Janeiro wöchentlich fünf neue evangelikale Tempel gegründet.

Die Pfingstbewegung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Land gekommen, hatte ihren ersten großen Auftrieb aber erst mit Beginn der Industrialisierung in den 1950er-Jahren, als das Radio noch das wichtigste Nachrichtenmedium war. In den 1960er- und 1970er-Jahren profitierten die Kirchen von den Sendelizenzen, die die damalige Militärdiktatur verteilte. Diese Lizenzen bestehen weiter und sind heute fester Bestandteil der Medienlandschaft. Gottesdienste und Predigten können live am Radio verfolgt werden. Im Fernsehen man kann zusehen, wie der Heilige Geist über die Gläubigen kommt, wie sie außer sich geraten, während aus der Bibel gelesen und über die Probleme des „wirklichen Lebens“ gepredigt wird: Arbeitslosigkeit, Geldmangel, Liebeskummer, Alkoholismus, Drogen, Gewalt.

Auch die Katholiken haben solche Kommunikationskanäle, doch die evangelikalen Sekten, traditioneller wie pfingstkirchlicher Ausrichtung, haben den Vorteil, dass sie so viele und dass sie autonom sind. Auch ohne untereinander einen ökumenischen Dialog oder irgendeine Kooperation zu pflegen, profitieren sie allein durch ihre massenhafte mediale Präsenz voneinander. Da die Botschaft überall ähnlich ist, wird sie insgesamt mehr wahrgenommen.

Die verschiedenen evangelikalen Gemeinschaften konzentrieren sich auf die Peripherie der großen Städte und auf ländliche Randgebiete, wo heimatlose und kulturell entwurzelte Migranten von einem besseren Leben träumen. Zwar schließen sich zunehmend auch Angehörige der Mittelschicht den Pfingstkirchen an, doch das niedrige Durchschnittseinkommen und die geringe Schulbildung ihrer Anhänger weisen sie deutlich als Armenreligion aus. Wer zu ihnen konvertiert, verspricht sich materiell ein neues soziales Netz und auf symbolischer Ebene neuen Lebenssinn.

Die politische Präsenz der evangelikalen Sekten setzte nach dem Ende der Militärdiktatur ein, als die brasilianische Verfassung reformiert wurde (1988). Die verschiedenen religiösen Organisationen kämpften mit vereinten Kräften für ein Grundgesetz, das die Katholiken nicht privilegierte, weder beim Kalender noch in der Nutzung öffentlichen Raums, noch beim Umgang mit Spenden und Kirchensteuern. Und sie wählten 32 Bundesabgeordnete, die über ein breites Parteienspektrum hinweg im Parlament auf der so genannten evangelischen Bank zusammenfanden.

Bei den Parlamentswahlen von 1990 wurden sie etwas weniger, doch 1998 wurden schon 43 evangelikale Abgeordnete gewählt. Allein die Igreja Universal do Reino de Deus (IURD, Universale Kirche des Reiches Gottes) stellte im Bundesparlament 15 Abgeordnete, weitere 26 schickte sie in die Parlamente der Bundesstaaten und des Bundesdistrikts. Zurzeit sind 62 Bundesabgeordnete Evangelikale, 18 von ihnen gehören der IURD an.

Die „evangelische Bank“ bildet keine politische oder ideologische Einheit, sie tut sich nur für Abstimmungen zusammen, die die Interessen oder die Moral der Evangelikalen berühren (insbesondere wenn es um Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe geht), und bildet Ad-hoc-Bündnisse mit Katholiken und Kardec-Spiritisten im Parlament. Freilich, wenn es darum geht, Abgeordnete in Parlamente des Bundes oder der Einzelstaaten zu schicken, mögen biblisch hergeleitete Anliegen den evangelikalen Sekten eine argumentative Waffe sein, doch bei der Wahl von Mitgliedern der Exekutive wird diese Waffe stumpf. Die Gouverneure und Präsidenten haben schließlich das ganze Volk zu regieren. Auf dieser Ebene ist das Attribut „evangelikal“ nur eine von vielen Variablen des politischen Spiels.

Religion ist Politik

ZUR Frage des politischen Einflusses der religiösen Fundamentalisten wird gern der Fall des evangelikalen Exgouverneurs und einstigen Präsidentschaftskandidaten Anthony Garotinho zitiert. Dieser wurde 1998, noch als Mitglied der Demokratischen Arbeiterpartei (PDT), zum Gouverneur des Staates Rio de Janeiro gewählt, Vizegouverneurin wurde die ebenfalls evangelikale Benedita da Silva von der Arbeiterpartei (PT). Damals haben – so jedenfalls die Spekulationen – die fundamentalistischen Wählerstimmen den Ausschlag gegeben, dass Garotinho trotz seiner Parteizugehörigkeit und trotz seiner damaligen profilierten Konkurrenten den Sieg davontrug.

Bei der Präsidentschaftswahl von 2002 errang Garotinho wiederum einen beachtlichen Erfolg, obwohl er inzwischen zur Sozialistischen Partei (PSB) gewechselt war. Gewählt wurde er vor allem in Gegenden, wo der von dem IURD-Bischof Edir Macedo kontrollierte Sender TV Record den größten Teil der Radio- und Fernsehsendungen liefert, und in Gebieten mit der höchsten Dichte an Pfingstgemeinden. In den vorwiegend katholisch geprägten Gegenden war sein Stimmenanteil dagegen am geringsten.

Bei den Bürgermeisterwahlen von 2004 landete Luiz Paulo Conde in Rio de Janeiro abgeschlagen auf dem dritten Platz, obwohl ihn Garotinho – inzwischen zur Demokratischen Brasilianischen Bewegung (PMDB) übergetreten – unterstützt hatte und er einen evangelikalen, der Assembléia de Deus (Versammlung Gottes) angehörenden Berater hatte. Der IURD-Bischof Marcelo Crivela wurde lediglich Zweiter, obwohl er auf Legionen von gläubigen Freiwilligen zählen konnte, die auf den Straßen der Stadt für ihn warben. Wiedergewählt wurde César Maia, der seine katholische Orientierung herausgekehrt hatte.

Garotinhos politische Karriere und das Beispiel von Rio de Janeiro zeigen, dass religiöse Aspekte bei den Wahlen zwar tatsächlich eine große Rolle spielen, aber auch, dass das Gewicht der evangelikalen Wählerstimmen differenziert zu sehen ist.

Die Igreja Universal do Reino de Deus hatte damit angefangen, sich völlig offen als evangelikale Sekte in politische Auseinandersetzungen einzumischen. Bei den Kommunalwahlen musste sie jetzt gewaltige Einbußen hinnehmen: Vor vier Jahren hatte sie noch 350 Vertreter in die Gemeindeparlamente gebracht, 2004 nur noch 70. Bei derselben Wahl erzielte auch Francisco Rossi, der demonstrativ als Evangelikaler angetreten war, in São Paulo nur ein mageres Ergebnis. Bei der Stichwahl um das Bürgermeisteramt zwischen der bisherigen Amtsinhaberin Marta Suplicy (PT) und dem schließlich siegreichen José Serra (PSB, Brasilianische Sozialistische Partei des Expräsidenten Fernando Henrique Cardoso) überboten sich die beiden Kontrahenten beim Buhlen um die Gunst der fundamentalistischen Christen. Deren gut besuchte Gotteshäuser galten als Wählerreservoir, die Kandidaten besuchten die Tempel und profitierten von den Wahlaufrufen der Pastoren. Insgesamt hat die Offensive der Evangelikalen vor allem eines bewirkt: Das ungeschriebene Gesetz, dass die Kirchen nur verhüllt Politik machen dürfen, ist heute nicht mehr in Kraft.

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die evangelikalen Gläubigen immer brav dem Votum ihrer Pastoren folgen oder nur Kandidaten ihrer eigenen Glaubensrichtung wählen. Auch stehen sie gesamtgesellschaftlich nicht durchweg positiv da. Ihr Image ist zwiespältig, man bringt ihnen einerseits Respekt, andererseits aber auch Misstrauen entgegen, denn immer wieder ist die Rede von Manipulation, Scharlatanerie und erpresserischer Geldeintreiberei.

Wie ist also die Stimmabgabe nach Glaubensbekenntnis in der politischen Kultur Brasiliens zu werten? Unbestreitbar gibt es einen religiösen Klientelismus, der mit dem in der Idee einer laizistischen Republik verankerten Bürgerideal kaum zu vereinbaren ist. Andererseits darf man nicht übersehen, dass das substanzarme und instabile Parteiensystem auch unabhängig von religiösen Einflüssen opportunistische Wechsel aus schlichtem Eigennutz begünstigt.

Den Evangelikalen ist auch nicht anzulasten, dass sie durch ihr Anwachsen ein intaktes System der demokratischen Teilhabe zerstört hätten. Ihr religiöser Klientelismus ist nicht prinzipiell schlimmer als der alte politische Klientelismus: ein Stimmviehsystem4 der Großgrundbesitzer, die ihre Landarbeiter gegen Geld und/oder persönlichen Schutz einen bestimmten Kandidaten wählen ließen, wobei Druck bis hin zu physischer Gewalt ausgeübt wurde.

Der evangelikale Glaube beruht auf fundamentalistischen Überzeugungen (etwa dass die Bibel wörtlich auszulegen ist) und religiösen Lehrmeinungen. Doch die Motive, sich einer bestimmten Sekte anzuschließen, sind vielfältig. Unzufriedene Gläubige sind schnell bereit, den Pastor, den Tempel oder sogar die Sekte zu wechseln. Die Aufforderung, einen bestimmten Kandidaten zu wählen, kann die Zugehörigkeit schon gefährden. Die heftige Konkurrenz der Sekten untereinander und ein Parteiensystem, das (leider auch) zum Parteibuchwechsel und zu Ad-hoc-Bündnissen verleitet, ist jedoch auch ein Gegengift gegen religiöse Intoleranz und Fundamentalismus. Die evangelikalen Sekten mögen bei manchen Wahlen das Zünglein an der Waage spielen, weil sie in den Tempeln mobilisieren, zum Engagement auffordern und ein großes Wählerreservoir darstellen. Das heißt noch lange nicht, dass sie die Entscheidungen im politischen Alltagsgeschäft an sich reißen können.

deutsch von Josef Winiger

* Professorin am religionswissenschaftlichen Institut der Universität von Rio de Janeiro.

Fußnoten: 1 Siehe Emir Sader, „Die Liebe der Linken zu Lula erkaltet“, Le Monde diplomatique, Januar 2005. 2 Allan Kardec, mit bürgerlichem Namen Léon Hippolyte Rivail (1804–1869), gilt als Begründer des modernen Spiritismus. In Brasilien ist sein Einfluss beträchtlich. 3 Die Pfingstkirchen gehören zu den evangelikal-pietistischen protestantischen Kirchen. Sie zeichnen sich durch fundamentalistischen Bibelglauben aus und lehren die Wiedergeburt durch die Erwachsenentaufe sowie die so genannte Taufe im Heiligen Geist, die die Gläubigen befähigt, in Zungen zu sprechen oder gar Wunderheilungen zu vollbringen. 4 Der portugiesische Ausdruck lautet curral eleitoral, wörtlich: Wählerstall.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von REGINA NOVAES