15.04.2005

Mit Gott für den Fortschritt

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Mit Gott für den Fortschritt

IN Lateinamerika gewinnen evangelikale Religionsgemeinschaften zusehends an Boden. Ihre missionarische Präsenz in den Massenmedien wirkt vor allem auf die Unterprivilegierten – und das sind in Ecuador vor allem die indigenen Nachfahren der präkolumbianischen Völker. Schwerer als Fernsehpredigten wiegt aber, dass die christlichen Fundamentalisten ein funktionierendes soziales Netz zu bieten haben – und immer mehr politischen Einfluss.

Von LAURENT TRANIER *

„Das Überleben der Konföderation der Indigenen Nationen Ecuadors (Conaie) ist in Gefahr. Das Ziel meiner Präsidentschaft ist es, einen Rückzug zu organisieren, um die Basis der Bewegung zu konsolidieren.“ Luis Macas, ein Mann mit bedächtigen Gesten, gibt sich keinen Illusionen hin. Er gilt als historische Figur der Organisation, die 1986 gegründet wurde, um die Ausbeutung und Gewalt, unter der die indigenen Ecuadorianer zu leiden haben, zu bekämpfen. Von 1990 bis 1996 war er Vorsitzender von Conaie, im Dezember 2004 wurde er noch einmal gewählt, mit der Aufgabe, die Organisation zu retten.1

Die ganzen 1990er-Jahre hindurch errang die Indigenen-Bewegung, die zum größten Teil durch die Conaie repräsentiert wird, allem Anschein nach einen Sieg nach dem andern. Nach den Aufständen in den Jahren 1990, 1992, 1994, 1997 und 1998 erhielt sie Land und Gelder für Entwicklungsprojekte und schaffte es, die Energiepreiserhöhungen und diverse IWF-Strukturanpassungsmaßnahmen abzuwehren.

Sehr bald jedoch stellten sich diese „Siege“ als äußerst begrenzt heraus. Gewiss, die fünf Millionen Nachfahren der präkolumbianischen Völker errangen in dem dreizehn Millionen Einwohner zählenden Land mehr Aufmerksamkeit und politischen Einfluss. Die am 5. Juni 1998 verabschiedete Verfassung, im Hinblick auf kollektive Minderheitenrechte2 eine der modernsten der Welt, gewährt ihnen eine ganze Reihe neuer Rechte, die für ihr kulturelles Überleben entscheidend sind. Nach einhelliger Auffassung hat der Rassismus abgenommen, und die Indigenen haben ihren Stolz zurückgewonnen. Ihre wirtschaftliche und soziale Lage ist aber weiterhin katastrophal. Der Anteil der Armen mit einem Einkommen von weniger als 2 Euro am Tag lag laut Nationaler Statistikbehörde letztes Jahr bei landesweit 44 Prozent; unter der indigenen Bevölkerung beträgt er 80 bis 90 Prozent.

Im Januar 2000 marschierten die Indios wieder durch die Straßen der Hauptstadt Quito. Zu hunderttausenden demonstrierten sie gegen das Vorhaben von Staatspräsident Jamil Mahuad, die Landeswährung Sucre durch den Dollar zu ersetzen. Die Armee griff ein – auf Seiten des Volks. Am 21. Januar besetzen die Demonstranten den Kongress, Mahuad dankte ab. Seinen Posten übernahm Vizepräsident Gustavo Noboa, der die Dollarisierung allem Widerstand zum Trotz durchzog.

In dieser Situation betrat ein bislang unbekannter Mischling die politische Bühne, Oberst Lucio Gutiérrez. Mit seiner Kritik an der Oligarchie präsentierte er sich als Wortführer der kleinen Leute und Indigenen. Bald galt er als der Hugo Chávez Ecuadors, zwei Jahre später wurde er zum Staatspräsidenten gewählt. Hatte er bereits im ersten Wahlgang die Unterstützung der Conaie und der Links- und Mitte-links-Parteien erhalten, schlug er im zweiten Wahlgang den reichsten Mann im Land, Expräsident Alvaro Noboa.

Die Conaie und ihr parlamentarischer Arm – die Pachakutik (PK)3 – waren in der neuen Regierung vertreten, doch Staatspräsident Gutiérrez brauchte ein breiteres Bündnis, um das Land regieren zu können. Eine Zeit lang fand er in den Christdemokraten, die die Geschäftswelt von Guayaquil vertreten, den gewünschten Bündnispartner – ein Verstoß gegen das programmatische Abkommen mit der PK. Dann begann er sich in Richtung der USA und des IWF zu orientieren. Die Minister aus der Indigenen-Bewegung riefen Verrat. Im Kongress zählte man damals zwölf Abgeordnete der PK. Im Januar 2005 waren es nach einer Reihe von Parteiausschlüssen und -austritten nur noch sechs; und die hatten keinerlei Einfluss mehr.

Als die Stunde der Selbstkritik schlug, räumte Luis Macas – der kurzzeitig Landwirtschaftsminister gewesen war – ohne Umschweife ein: „Unser größter Fehler war das Bündnis mit Gutiérrez.“ Heute, in der Opposition, haben PK und Conaie sowohl bei ihrer Anhängerschaft als auch in der Öffentlichkeit viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Als man dem frisch gewählten Vorsitzenden der Conaie ein 50-seitiges Dokument mit dem Titel „Politisches Projekt der Nationen und Völker Ecuadors“ vorlegte, lächelte er verlegen. Das Papier ist ihm wohl bekannt, wurde es 1994 doch unter seiner Leitung ausgearbeitet. In über zehn Jahren ist das Projekt kein Jota vorangekommen.

Die Vorschläge der Conaie kreisen nach wie vor um Identitätsforderungen, die mit der Verabschiedung der Verfassung von 1998 theoretisch erfüllt sind: zweisprachiger Schulunterricht (Spanisch und die jeweilige indigene Sprache), den niemand mehr in Frage stellt; eigenes Land und – so energisch wie unspezifisch – „Entwicklung“. Und, nicht zu vergessen, die inzwischen zum Gemeinplatz gewordene „Reform des Staats“. Immerhin engagiert sich die Conaie – wie die sozialen Bewegungen Lateinamerikas überhaupt – stark gegen die von Washington für dieses Jahr vorgesehene Schaffung einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA).

Während des Aufstands von 2000 machte eine Organisation von sich reden, die bislang nur als religiöse Interessengruppe in Erscheinung getreten war: der Rat der evangelikalen Gemeinschaften der Urvölker und ihrer Organisationen in Ecuador (Feine)4. Seit den 1960er-Jahren nimmt die Zahl der Indigenen, die sich zu evangelikalen Richtungen bekennen, beständig zu; derzeit sind es rund zwei Millionen.5 Lange Zeit hielten sie sich dogmatisch von jedem politischen Engagement fern. Nach der protestantischen Ethik nämlich gründet politische Macht im Willen Gottes. Deshalb gab es schlicht und einfach keinen Anlass, gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Diese passive Haltung war schuld daran, dass die evangelikalen Institutionen bei den Indigenen-Organisationen lange Zeit auf Ablehnung stießen.

Erst unter der Leitung von Marco Murillo, der 1998 mit 28 Jahren an die Spitze der auf Landesebene einflusslosen Dachorganisation gewählt wurde, entwickelte sich der Rat zur wichtigsten Stimme der Indigenen Ecuadors. Im Unterschied zu Conaie ist Feine nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten präsent und steht geschlossen hinter ihrem Vorsitzenden. So pragmatisch er auftritt, so wenig Illusionen macht er sich über eine Regierung, deren Indigenen-Politik sich darauf beschränkt, Nahrungsmittel an die Bevölkerung und Verwaltungsposten an die Kader zu verteilen – ein fast schon offizieller Klientelismus unter Federführung des Wohlfahrtsministeriums.6 „Wir unterstützen die Regierung nicht“, versichert Marco Murillo. „Wir begrüßen die positiven Aspekte ihres Handelns und werden uns weiterhin für unsere noch nicht erfüllten Forderungen einsetzen. Aber wir werden uns nicht am Sturz der Regierung beteiligen. Das haben wir schon gehabt, und nichts hat sich dadurch verändert.“

Die direkte Mitwirkung der Feine an sozialen und politischen Aktionen ging nicht ohne interne Auseinandersetzungen ab. Murillo weiter: „Wir mussten dem schizophrenen Verhalten der Pastoren ein Ende setzen, die morgens Gesetz und Ordnung und die Unterwerfung unter die gottgewollten Autoritäten predigten und abends als Vertreter einer Gemeinschaft beschlossen, dass man gegen Elend, Analphabetentum und Perspektivlosigkeit mobilisieren müsse.“ Anknüpfungspunkt war hier die Theorie der „integralen Entwicklung“, ein Paradebeispiel für die Flexibilität der evangelikalen Kirchen im Umgang mit Dogmen. Ihre Lehre ging aus dem indigenen Universalismus hervor, der das Heilige nicht vom Zeitlichen trennt und der körperliche und spirituelle Bedürfnisse des Menschen als Einheit betrachtet. Das Ziel ist dabei, was die Ethnologin Susana Andrade als das Projekt einer „neuen protestantischen indigenen Identität“7 bezeichnet, das sowohl moralische Besserung als auch wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt impliziert.

Auf die Frage, ob die „neue Identität“ mit dem „Programm“ der Conaie vereinbar sei, gibt sich der Vorsitzende der Feine eher skeptisch und wirft der Conaie vor, einer „ethnozentristischen“ und „der Vergangenheit verhafteten“ Vorstellung von Entwicklung anzuhängen. Zwar spricht sich auch die Feine für zweisprachigen interkulturellen Schulunterricht aus – „die Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität“ –, fordert aber darüber hinaus Englischunterricht und die Öffnung für allgemeine Lehrinhalte. Und obgleich sich auch die Feine für die Stärkung der kommunitären Wirtschaft engagiert, befürwortet sie daneben die Entwicklung marktwirtschaftlicher Verhältnisse und die Schaffung von Mikrounternehmen, die von einer noch zu gründenden Entwicklungsbank finanziert werden sollen.

Wie aus Conaie ging auch aus Feine auf fast natürliche Weise eine politische Partei hervor. Die 1998 gegründete Amauta Jatari („Der Weise richtet sich wieder auf“ auf Quechua) präsentierte mit Antonio Vargas im Jahr 2002 den ersten indigenen Präsidentschaftskandidaten Ecuadors. Der Conaie-Dissident erzielte im ersten Wahlgang mit 0,8 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen (knapp 40 000) das schlechteste Ergebnis der elf Kandidaten.

Aus dieser schmählichen Niederlage zogen Feine und Amauta Jatari den Schluss, dass die Bewegung für landesweite Ambitionen zu schwach sei. Ungeachtet ihrer starken Präsenz in manchen Regionen haben die Evangelikalen landesweit nicht genügend Gewicht, um allein Wahlen gewinnen zu können. Ihre politische Existenz hängt daher nach Ansicht Marco Murillos von Bündnissen „mit laizistisch-fortschrittlichen Mitte- und Mitte-links-Bewegungen“ ab. Bei den Kommunalwahlen im Herbst vorigen Jahres setzten die Evangelikalen diese Einsicht in die Praxis um, errangen die Mehrheit in drei Kommunen und schickten in der Sierra zahlreiche Vertreter in die Kommunalräte und Provinzparlamente, zumeist mit Unterstützung des Partido Sociedad Patriótica (PSP) von Lucio Gutiérrez und der Sozialistischen Partei. Die Amauta Jatari hofft, bei den nächsten Parlamentswahlen im Herbst 2006 mit einem Großbündnis aus Mitte- und Mitte-links-Parteien einige Abgeordnete in den Nationalkongress entsenden zu können.

In der Überzeugung, dass die Indigenen-Bewegung durch Vielfalt nur gewinnen könne, zeigt man sich bei der Feine wie bei der Conaie durchaus dialogbereit. Gleichzeitig geht man davon aus, dass eine Konfrontation im Wahlkampf unausweichlich sei, für die Feine aus ideologischen Gründen, nach Ansicht der Conaie deshalb, weil die Regierung alles daransetze, die Bewegung zu spalten.

Am 16. Februar schob sich eine Großdemonstration – mit, je nach Quelle, 70 000 bis 200 000 Teilnehmern – durch die Straßen von Quito, die unter dem Motto „Lucio fuera“ (Lucio raus) von einem Bündnis aus Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Stadtteilinitiativen, Christdemokraten und der Pachakutik-Bewegung organisiert worden war. Auslöser war die von der Parlamentsmehrheit beschlossene Reform des Obersten Gerichtshofs, des Obersten Wahlgerichts und des Verfassungsgerichts.

Die Conaie unterstützte die Bewegung, nahm an der Demonstration jedoch nicht teil. Sie fasst eine langfristige außerparlamentarische Opposition ins Auge und mobilisiert mit Alternativvorschlägen gegen die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit den USA, gegen den Kolumbienplan (der Ecuador aufgrund einer Militarisierung der Grenze und der US-Militärbasis in Manta betrifft) sowie die Privatisierung staatlichen Vermögens.

Die Feine, die den Demonstrationen vom 16. Februar fernblieb, mobilisierte weder für die Regierung noch gegen sie. Denn das Wohlfahrtsministerium hatte am selben Tag, mit Hilfe von Geldzahlungen und/oder Bußgelddrohungen, einige evangelikale Gemeinden in Busse verfrachtet und eine eigene Demonstration auf die Beine gestellt – zur Unterstützung des Staatspräsidenten Lucio Gutiérrez.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalist in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito.

Fußnoten: 1 Die Conaie besteht aus drei regionalen Konföderationen: der Ecuarunari in der Sierra, der Confeniae im Amazonasgebiet und der Conaice an der Küste. 2 Siehe die am 5. Juni 1998 verabschiedete Verfassung der Republik Ecuador. Dort heißt es in Abschnitt 1 Artikel 1: „Ecuador ist ein sozialer Rechtsstaat, […] plurikulturell und multiethnisch.“ Und Abschnitt III Kapitel 5 Absatz 1, erwähnt die „indigenen und schwarzen oder afroecuadorianischen Völker“. 3 Die Pachakutik – auf Quechua: „Ära der Erneuerung“ – wurde 1996 als Zusammenschluss diverser sozialer Organisationen gegründet, deren größte die Conaie ist. 4 Die 1980 gegründete Feine, die anfangs nur religiöse Anliegen vertrat, verfolgt heute auch soziale und politische Ziele. Sie umfasst 18 Organisationen mit insgesamt 2 500 Gemeinden aus allen Landesteilen. 5 Der protestantische Intellektuelle Iván Balarezo Pérez bezifferte die Zahl der fast ausschließlich indigenen Evangelikalen 2002 auf über 1,5 Millionen Personen oder 12 Prozent der Bevölkerung. Feine und Canaie sprechen übereinstimmend von je einer Million in beiden Organisationen. 6 „El Gobierno sabe manejar a la fe indígena“, El Comercio, Quito, 6. Dezember 2004. 7 Susana Andrade, „Protestantismo indígena: procesos de conversion en la provincia de Chimborazo, Ecuador“, Flacso Ecuador, 2004.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von LAURENT TRANIER