„Neige nicht länger dein Haupt, mein Bruder“
DIE erste gemeinsame Tagung afrikanischer und asiatischer Länder in der indonesischen Stadt Bandung kommt in den Geschichtsbüchern nur am Rande vor. Dagegen haben Zeitzeugen diese Konferenz mit ihren über tausend Repräsentanten von 29 Ländern und 30 Befreiungsbewegungen, in denen zwei Drittel der Menschheit lebten, als ein revolutionäres Ereignis erlebt. Thema waren das friedliche Streben nach nationaler Unabhängigkeit und der Kampf gegen die Ausbeutung. Aber für die Mehrheit der Teilnehmer drückte sich darin mehr Wunschdenken als reale Perspektive aus; von einheitlichen Interessen konnte keine Rede sein. Dennoch: Bis heute markiert das einwöchige Treffen im April 1955 das Ende der Kolonialzeit.
Von JEAN LACOUTURE *
Gut möglich, dass der Name Bandung heute den meisten Menschen, die in der Epoche des Kalten Krieges und der Herausbildung des amerikanischen Imperiums zwischen 1949 und 1989 geboren sind, nicht mehr viel sagt. War das nicht irgendeine dieser Konferenzen oder Schlachten in dem Jahrzehnt zwischen Jalta (1945) und Dien Bien Phu (1954)? Für die Reporter meiner Generation jedoch, die mit einem gefälschten oder abgelaufenen Visum in der Tasche durch die Welt reisten, hatte der Name des idyllischen Luftkurorts auf der indonesischen Insel Java zwanzig bis dreißig Jahre lang einen hohen Klang: Bandung war das Symbol für eine neue Epoche, für das Zeitalter der Entkolonialisierung, für das Zurückdrängen der Großmächte durch andere Methoden als den totalen Krieg, für die Möglichkeit einer Neugestaltung der Welt.
Beim Nachdenken darüber, was man als historische Wendepunkte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen könnte, kommt man auf ein Dutzend Ereignisse und Daten: den Tod Stalins im März 1953, mit dem die militante Phase des Kommunismus endete; den Fall der Berliner Mauer im November 1989, der das Ende des Kalten Krieges markierte; den Abzug Frankreichs aus Indochina nach dem Genfer Friedensabkommen von 1954; die Kubakrise von 1963, die plötzlich einen Atomkrieg möglich erscheinen ließ; die Zündung der ersten chinesischen Wasserstoffbombe 1967; das US-amerikanische Desaster von Saigon 1975 und das plötzliche Aufkommen eines militanten Islam in Gestalt des Ajatollah Chomeini im Jahr 1979. In einer solchen Aufzählung müsste aber auch das Ereignis von Bandung im April 1955 auftauchen, als eine knappe Flugstunde von der indonesischen Hauptstadt Djakarta entfernt die Repräsentanten von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung das Ende der Kolonialzeit und die Emanzipation der farbigen Völker Asiens und Afrikas verkündeten.
Die weltweite Wirkung dieser „Konferenz am Ende der Welt“ ist heute kaum noch nachzuvollziehen. In Bandung waren Vertreter von mehr Staaten – nämlich von 23 asiatischen und 6 afrikanischen – versammelt als etwa in Versailles 1919 oder in Jalta 1945. Die Resolutionen von Bandung haben die Welt nicht verändert und den Völkern Afrikas nicht zur Unabhängigkeit verholfen, aber die Delegierten traten auf wie die Generalstände der Welt – Bandung war eine Art globales 1789.
Der Senegalese Léopold Sédar Senghor1 sprach in seiner Rede damals von einer gewaltigen „Befreiung aus dem Kolonialgefängnis“, für den Geografen Yves Lacoste war die Konferenz von Bandung so etwas wie eine „Morgenröte“. Und der Wirtschaftswissenschaftler Alfred Sauvy soll im Hinblick auf dieses Ereignis den Begriff der „Dritten Welt“ geprägt haben, der auch dem Ethnologen Georges Balandier zugeschrieben wird. Tatsächlich hat Balandier den Ausdruck in die wissenschaftliche Literatur eingeführt, und wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihn auch schon zuvor von ihm gehört.
Mit dem Begriff „Dritte Welt“ knüpfte Alfred Sauvy an die berühmte Flugschrift an, die Emmanuel Joseph Sieyès 1789 verfasst hatte: „Was ist der Dritte Stand? Alles. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? Nichts. Was verlangt er? Etwas zu sein.“2 Für Sauvy repräsentierte die „Dritte Welt“ alle Völker Asiens und Afrikas, die weder zum europäischen „Adel“ noch zum amerikanischen „Klerus“ gehörten, jedoch über einen Riesenanteil an den materiellen und menschlichen Ressourcen der Welt verfügten. Und die nun sowohl vom kapitalistischen als auch vom kommunistischen Lager verlangten, diesen Sachverhalt endlich anzuerkennen.
Doch dieser Vorstellung, die in liberalen und aufgeklärten Kreisen, vor allem aber bei den diversen Strömungen des demokratischen Sozialismus viel Zustimmung fand, traten alsbald die Anhänger einer revolutionären „afroasiatischen“ Bewegung entgegen. Sie wollten sich nicht irgendwo zwischen Kapitalismus und Marxismus-Leninismus einrichten, für sie war der allzu dehnbare Begriff „Dritte Welt“ nur Augenwischerei. Für sie waren das „Proletariat“ der Industrieländer und die proletarisierten Kolonialvölker durchaus zweierlei.
Des Weiteren muss man klar unterscheiden zwischen der „Dritte-Welt-Bewegung“, die in Bandung entstand – einer Erhebung der unterdrückten Kolonialvölker, die sich dennoch zum Beispiel für Tschou En-lai, den ersten Ministerpräsidenten und Außenminister des kommunistischen China, begeistern konnte –, und jener „Bewegung der Blockfreien“, die sich sechs Jahre später, im September 1961, in Belgrad konstituierte. Auf dieser Konferenz einigten sich die durchaus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten3 , unter dem Patronat von Marschall Tito, unabhängig von der Kolonialfrage auf den Grundsatz, sich weder durch Allianzen des atlantischen noch des sowjetischen Typs vereinnahmen zu lassen.
Die Konferenz von Bandung – bei der bewährte Verbündete des Westens, wie Ceylon (das heutige Sri Lanka), Pakistan, die Türkei und Irak mit von der Partie waren – markierte das Ende der Kolonialzeit. Die Konferenz von Belgrad beschwor die Neutralität oder eben die „Blockfreiheit“ der teilnehmenden Staaten.
Im Frühjahr 1954 trafen sich Vertreter der „Colombo-Gruppe“ (Indien, Pakistan, Ceylon, Birma und Indonesien), um eine „Afro-Asiatische“ Konferenz (wie sie damals genannt wurde) vorzubereiten. Indonesiens Präsident Ahmed Sukarno4 bot das Städtchen Bandung auf Java als Tagungsort an. Der Erfolg dieser Initiative übertraf alle Erwartungen. Nach Bandung kamen mehr als tausend Delegierte aus 29 Staaten und Repräsentanten von 30 antikolonialen Befreiungsbewegungen, darunter die Nationale Befreiungsfront Algeriens (FLN), die Neo-Destour-Partei Tunesiens und al-Istiqlal aus Marokko (die beiden letzteren Länder erlangten erst 1956 ihre Unabhängigkeit).
Während sich manche Beobachter im Vorfeld noch über das groß angelegte afroasiatische „Pfadfindertreffen“ mokiert hatten, konnte man nach Konferenzbeginn weit positivere Berichte lesen. So schrieb etwa Robert Guillain, der scharfsichtige – und politisch eher gemäßigte – Korrespondent von Le Monde: „In Europa und Amerika wurde diese Konferenz bereits als Zusammenkunft von Aufständischen beschrieben, als Ausdruck einer Revolte der Afrikaner und Asiaten gegen die Weißen. Doch ich kann mit Überzeugung behaupten, dass dies nicht der Fall ist. Aus der Nähe betrachtet, erscheint diese Revolte durchaus nicht so wild, und die Aufständischen wirken recht umgänglich. Muss man dieses Treffen also gar nicht ernst nehmen? Doch, man sollte es ernst nehmen, aber nicht dramatisieren. Es ist ein bedeutendes Ereignis in unserer Epoche, ein großes Fest, auf dem man eben keine weißen Gesichter sieht, sondern nur braune, gelbe und schwarze … Aber doch eher ein Fest als eine Verschwörung. Und den indonesischen Veranstaltern muss man zugute halten, dass sie dies Treffen auch genau so begriffen haben. So viel lässt sich bereits zum Auftakt sagen: Diese Afro-Asiatische Konferenz ist nach Auskunft der Organisatoren keineswegs als Zusammenschluss von Rassen, als Angriffsformation gegen den Westen oder als Blockbildung gegen die Weißen gedacht.“5
In Bandung ging es aber auch um einen starken gemeinsamen Wunsch, ging es mehr um „Einheit“ als um Ausgleich – und letzten Endes um das Ziel, eine Art „Vereinte Nationen Asiens und Afrikas“ zu schaffen. Ob die „Verdammten dieser Erde“ wirklich nicht mehr auf Rache sannen, sondern nur von einer neuen, schönen Welt träumten? Das war die Frage, die wir Korrespondenten uns während der sieben Tage von Bandung stellten.
Nicht alle Gäste Sukarnos fühlten sich dem Geist gelassener Neutralität verpflichtet. Neben dem hoch geachteten indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru dominierte der Ministerpräsident des revolutionären China, das damals noch nicht die Kulturrevolution ausgerufen und (zumindest offiziell) noch nicht den Bruch mit der poststalinistischen Sowjetunion vollzogen hatte. Aber das chinesische Eingreifen in den Koreakrieg lag erst zwei Jahre zurück, und Peking unterstützte die Nordvietnamesen, die Pham Van Dong entsandt hatten, ganz offen in ihrem Kampf gegen die USA. Überdies ließ Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser in Bandung einen Kurswechsel nach links erkennen, sekundiert von Hocine Aït Ahmed, einem der legendären Führer des algerischen Befreiungskampfs, der am 1. November 1954 begonnen hatte.
Auf den ersten Blick schien aber die „proamerikanische“ Fraktion sehr stark vertreten: Die Türkei und der Irak – die Staaten des Bagdadpakts6 –, Pakistan und Ceylon versuchten zu Beginn der Konferenz, jede Form marxistischer Einflussnahme anzuprangern. Zu den wenigen Konflikten auf der insgesamt harmonischen Konferenz gehörte eine Kontroverse über die Rolle der Sowjetunion als Kolonialmacht. Insgesamt war die Stimmung eher heiter und gelassen. Zur großen Enttäuschung der Delegierten aus dem Maghreb weigerten sich die Sprecher der wichtigsten Staaten, die Konferenz zu einem Tribunal über die Rolle der Franzosen in Afrika zu machen, die antikolonialen Kampagnen deutlich mehr Angriffsfläche boten als ihr britischer Rivale.
Zu Beginn der Konferenz war Nehru als einer der Initiatoren des Treffens die große Lichtgestalt. Er galt vor allem Großbritannien, aber auch den USA und Frankreich als Garant einer moderaten Haltung, der verhindern konnte, dass die Kolonialmächte allzu heftig attackiert wurden. Doch schon bald übernahm der chinesische Ministerpräsident Tschou En-lai die Führungsrolle: Er erwies sich, wie auch zehn Monate später bei der Indochinakonferenz in Genf, als äußerst geschickter Diplomat – stets lächelnd und verbindlich.
Alle Beobachter in Bandung waren sich einig: Tschou En-lai, der engste Gefährte von Mao Tse-tung, präsentierte sich vom ersten Tag an als der Mann, der die Fäden zog. Er dominierte die Debatten, er lieferte die Ideen, die, bis auf ein oder zwei Ausnahmen, einem simplen Grundsatz folgten: Dieser multiethnische und disparate Kongress sollte ideologische Auseinandersetzungen vermeiden und sich dem Ziel verpflichten, dem Kolonialismus mit friedlichen Mitteln ein Ende zu machen.
Vor 50 Jahren traf sich die „Dritte Welt“
GEGEN dieses Konzept der allgemeinen Harmonie vermochten die antikolonialen Forderungen der Delegierten aus dem Maghreb so wenig auszurichten wie die eher rhetorischen Attacken, die Oberst Nasser und seine Gesinnungsgenossen aus Syrien und Libyen gegen Israel richteten. Es gab allerdings eine bemerkenswerte Störung der versöhnlichen Grundstimmung, als die „amerikanische Fraktion“ – vertreten durch Sir John Kowetawala, den Ministerpräsidenten von Ceylon – den Konferenzteilnehmern dringend empfahl, nicht nur den französischen und britischen Kolonialismus „alten Typs“ ins Visier zu nehmen, sondern auch die aktuelle Unterwerfung Osteuropas durch die Sowjetunion zu kritisieren.
Das löste unter den Delegierten heftige Debatten aus. Einige Vertreter, unter ihnen auch drei aus der arabischen Welt, sahen in dem Vorschlag eine Provokation: Die Konferenz sei schließlich nicht einberufen worden, um sich „die Propaganda von John Foster Dulles“ (dem damaligen US-Außenminister, der schon zu jener Zeit den „Kampf des Guten gegen das Böse“ beschwor) anhören zu müssen. Außerdem habe dieser Vorwurf auf einer Konferenz afrikanischer und asiatischer Staaten thematisch nichts zu suchen. Sir John Kowetawala nahm es gelassen zur Kenntnis. Er konnte sicher davon ausgehen, dass ihm sein Vorstoß das Wohlwollen seiner Gönner einbringen und sich irgendwann auszahlen würde.
Tschou En-lai schloss sich natürlich der Kritik an diesem Fauxpas der singalesischen Vertretung an, aber er nutzte die Unterbrechung der Sitzungen zu einem persönlichen Gespräch mit Sir John Kowetawala. Der berichtete später nicht ohne Stolz, der Chinese habe ihm erklärt, es gebe „durchaus interessante Aspekte in diesen Vorwürfen“. Der gewiefte chinesische Diplomat hatte damit das Terrain für den künftigen antisowjetischen Kurs seines Landes sondiert, der erst zehn Jahre später zur offiziellen Politik Pekings wurde. Zugleich unternahm er einen eigenen Vorstoß in der Formosafrage (Taiwan), der quasi die Taktik vorwegnahm, die Peking in seiner Vietnampolitik Anfang der 1970er-Jahre gegenüber Henry Kissinger einschlagen sollte. Besonders geschickt war es, dieses Manöver am vierten Tag der Konferenz zu starten, als sich bereits eine gewisse Langeweile breit machte.
Die Teilnehmer wurden noch einmal wach, als Tschou En-lai erklärte, die Formosafrage könne friedlich gelöst werden, wenn das Gebiet um die kleinen Inseln Quemoy und Matsu – von denen sich die US-Streitkräfte ohnehin zurückziehen wollten – zur neutralen Zone erklärt werde. Washington solle nicht länger an der Person Tschiang Kai-scheks7 festhalten, dann könne sich eine Lösung auch für die Hauptinsel finden.
Der Vorschlag brachte noch einmal Schwung in die Debatten und stieß auf freundliches Interesse in London und Paris – von den eigentlichen Adressaten allerdings wurde er völlig ignoriert. Zwar witterten die Mitarbeiter im US-Auslandsgeheimdienst – vielleicht nicht einmal zu Unrecht – in dem Vorstoß des Chinesen eine Falle. Doch indem die außenpolitischen Strategen der Vereinigten Staaten die ausgestreckte Hand sofort zurückwiesen, handelten sie sich große Probleme für die Zukunft ein.
Ob er in Washington Gehör fand, war für Tschou En-lai relativ unerheblich. In jedem Fall spielte er auf der Bandungkonferenz, vor Repräsentanten von fast zwei Dritteln der Menschheit, eindeutig die Hauptrolle. Mit Charme und taktischem Geschick, mit gemäßigtem Auftreten und Friedensappellen war dem alten Kampfgefährten Mao Tse-tungs ein entscheidender diplomatischer Schachzug gelungen. Und er hatte es dabei auch noch geschafft, die Vietnamfrage weitgehend unberührt zu lassen. Ein Jahr nach dem Teilungsplan von Genf hatte Nordvietnam seine groß angelegten Militäroperationen zur Rückeroberung des Südens noch nicht begonnen, und China war an Erfolgen auf diesem Terrain auch nicht übermäßig interessiert. Was François Mauriac einmal über Deutschland gesagt hat, galt offenbar auch für das Verhältnis von Tschou En-lai zu Vietnam: Er liebte das Land so sehr, dass ihm zwei Vietnam lieber waren als eines.
Liest man die Protokolle der Bandungkonferenz, so fällt vor allem eines auf: wie unverbindlich und nichts sagend die Debatten geführt wurden und wie vorsichtig sich alle Redner äußerten. Schon die Berichte von der Trikontinentalkonferenz in Havanna (1966) zeigen ein ganz anderes Bild.8 Elf Jahre später bezogen die entkolonialisierten Völker und andere ehemals „Unterdrückte“ deutlich militantere Positionen. Historiker mögen in dieser Entwicklung Parallelen zur Geschichte der Französischen Revolution ausmachen: Auch im Konvent von 1794 herrschte ein ganz anderer Ton als noch in der Constituante von 1791.
Zur Zeit der Bandungkonferenz arbeite ich als Korrespondent in Kairo und konnte darum nicht Zeuge dieses gewaltigen „Konvents“ der kolonisierten Völker werden. Man darf nicht vergessen, dass zehn Jahre zuvor Indien noch eine britische Kolonie war und der Sieg der chinesischen Revolution kaum sechs Jahre zurücklag. 1955 war Vietnam noch geteilt, in Korea rauchten noch die Kriegstrümmer, Indonesien war eine Militärdiktatur, und Birma versank in Armut.
Doch die Fernwirkung dieser Konferenz habe ich sehr intensiv mitbekommen. Ich sah Gamal Abdel Nasser in das Flugzeug steigen, das ihn nach Indonesien brachte. Es gab keine große Abschiedszeremonie, der Präsident wirkte angespannt. Es war gerade die Zeit der Grenzkonflikte mit Israel, und Nasser bemühte sich, im Osten neue Waffenlieferanten für seine (damals eher bescheidenen) Rüstungspläne zu suchen, womit er den Bruch mit Washington riskierte. Die ägyptische Linke, die großenteils noch in Distanz zu Nasser verharrte, begann vor allem an den Universitäten, so genannte Bandungkomitees zu gründen. Das bekam ihr zunächst sehr schlecht: Vor der Abreise des Präsidenten wurden eine Reihe marxistischer Führungsfiguren verhaftet – offenbar wollte man dem Westen signalisieren, dass der Besuch im Fernen Osten keine ideologische Neuorientierung bedeutete.
Vorsichtige Debatten und heftige Kritik
ZEHN Tage später war in der ägyptischen und erst recht in der internationalen Presse zu lesen, welch glänzende Rolle Nasser auf der Bandungkonferenz gespielt hatte. Das lag aber weniger an seinen kurzen Auftritten als vielmehr an der Tatsache, dass er als dritte „große Persönlichkeit“ neben Tschou En-lai und Nehru wahrgenommen wurde. Jedenfalls erlebte der ägyptische Führer nach seiner eher unauffälligen Abreise bei seiner Rückkehr einen triumphalen Empfang. Ich habe oft genug erlebt, wie in den Straßen Kairos begeisterte Menschenmassen auf riesigen Transparenten die Spruchbänder mit Parolen des Nasser-Regimes vor sich hertrugen: „Neige nicht länger dein Haupt, mein Bruder – die Zeiten der Erniedrigung sind vorbei!“ Doch in den Tagen nach Bandung, Ende April 1955, verfiel ganz Kairo in einen Begeisterungstaumel, der im Grunde erst fünfzehn Jahre später endete, als der „Rais“, der Führer der Nation, beerdigt wurde.
Was diese Entwicklung bedeutete, die eher ein Stimmungsumschwung als eine ideologische Wende darstellte, konnte man erst richtig verstehen, als die inhaftierten Führer der militanten Linken eine Glückwunschadresse an Nasser richteten (der doch ihre Verhaftung angeordnet hatte). Und ganz gegen ihre Gewohnheit veröffentlichte die regierungstreue Presse diesen Text auch noch, der im Grunde ein einzigartiger Jubelchor der Gefangenen für ihren Kerkermeister war.
Anlässlich ihres Engagements in den Bandungkomitees lernten sich damals zwei junge militante Marxisten kennen, Baghat El-Nadi und Adel Rifat. Einige Jahre später veröffentlichten sie, unter dem gemeinsamen Pseudonym Mahmoud Hussein, ein Buch („Der Klassenkampf in Ägypten“), das für alle, die sich für die Kultur- und Sozialgeschichte der arabischen Welt interessieren, zu den Klassikern zählt.9
Wenn man sich allerdings ideologisch gehaltvolle Debatten oder gar politische Strategien versprochen hatte, so hatte die Konferenz von Bandung wenig zu bieten. Und dennoch bedeutete sie eine „Morgenröte“ für die unterdrückten Völker. Was also war dieses Ereignis: ein großer Aufbruch oder lediglich ein folgenloses Datum? Obwohl es in den siebentägigen Verhandlungen mehr leidenschaftliche Debatten als konkrete Vorschläge gab, hat sich die Konferenz dennoch deutlich auf die internationalen Kräfteverhältnisse ausgewirkt. Es gab heftige Kritik an den USA wie an der UdSSR, schwere Vorwürfe gegen die französische Kolonialpolitik; ein selbstbewusster Auftritt Chinas auf dem internationalen Parkett. Die Erwartungen der Revolutionäre in der Dritten Welt konnte Bandung zwar nicht erfüllen – doch erst seit dieser Konferenz gab es so etwas wie eine „Dritte Welt“, die mehr war als Lieferant von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften.
In den fünfzig Jahren seit der großen Inszenierung von Bandung hat der Begriff der Dritten Welt zweifellos an Glanz verloren. Der jüngst verstorbene Paul Marie de la Gorce, einer der klügsten Kommentatoren jener Generation, die an der ersten Begeisterung teilhaben durfte, hat schon vor zwanzig Jahren eine traurige Bilanz gezogen: „Viele Hoffnungen wurden enttäuscht, viele Illusionen haben sich verflüchtigt, viele Prognosen sind von der Geschichte widerlegt worden. Heute neigt man – wie immer allzu heftig – zu Ernüchterung und Skeptizismus. Die Dritte Welt habe keines ihrer Probleme gelöst, heißt es: Weder der Hunger noch die Unterentwicklung noch die Uneinigkeit sei verschwunden. Die sozialistischen Experimente seien zu Operettendiktaturen verkommen, der kapitalistische Weg habe in die weltweite Korruption geführt. Aus dieser Bewegung sei kein neues ‚Machtzentrum‘ entstanden, nicht einmal eine internationale Orientierung. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, welchen Erfolg in Frankreich das Buch ‚Das Schluchzen des weißen Mannes‘ von Pascal Bruckner10 hatte, das von Verbitterung, Groll und Missgunst geprägt ist und in dem jeder antikoloniale Impuls, jeder Versuch, die Dritte Welt zu begreifen oder gegen die Unterentwicklung anzugehen, als Schuldbekenntnis und Ausdruck von Selbsthass und Masochismus denunziert wird.“11
Doch unabhängig von der Befindlichkeit gewisser Pariser Intellektueller ist nicht zu leugnen, dass die „Dritte Welt“ in den Jahrzehnten zwischen Bandung und dem jüngsten Irakkrieg viel von ihrem Einfluss auf strategische Konzepte und moralische Orientierungen verloren hat. In diese Zeit fallen die Ermordung von Che Guevara und Mehdi Ben Barka, das Scheitern des Nasserismus, die sterile Entwicklung nach dem Sieg über die USA in Vietnam und das Schreckensregime der Roten Khmer.
Zu dieser negativen Entwicklung gehören auch die Auflösung des sozialistischen Lagers, zuvor die Entfremdung zwischen China und der Sowjetunion, aber auch die schmutzigen Tricks des französischen Neokolonialismus in Afrika. Und des Weiteren der Aufstieg islamischer Fundamentalisten, etwa im Iran, und die Erfolge ihrer terroristischen Wiedergänger, die zum Beispiel das Scheitern der algerischen Revolution mit verschuldet haben. Und ebenso muss man die Günstlingswirtschaft der nationaler Führungsschichten verurteilen, die bürokratische Erstarrung und den Polizeiterror.
Wird man sich an Bandung nur als an eine gescheiterte Hoffnung der Menschheit erinnern? Auf den Sturm auf die Bastille folgten unter anderem das Empire, die Restauration und der Krieg. Aber am Ende stand dann doch die Republik. Angesichts der Versuche, die Welt nach den Methoden von George W. Bush zu kontrollieren, dürfte die nächste Bandungkonferenz nur eine Frage der Zeit sein.
deutsch von Edgar Peinelt
* Journalist, Historiker, Autor und Filmemacher, geb. 1921. Er begann seine Laufbahn 1946 als Presseoffizier in Indochina, später begleitete er journalistisch den Entkolonisierungsprozess im Maghreb, in Südostasien und Zentralafrika. Autor einer großen Biografie Charles de Gaulles. Im Mai erscheint bei Bayard/BNF (Paris) seine Biografie „Gamal Abdel Nasser“.