Von den Anfängen des Algerienkrieges
DER 8. Mai 1945 ist in die algerische Geschichte nicht als Tag der Befreiung, sondern als Tag des Massakers eingegangen. In der französischen Kolonie war es eher die französische Niederlage 1940, die als Wendepunkt der Entwicklung anzusehen ist. Denn die Erfahrung, dass die eigene Kolonialmacht zu schlagen war, aber auch die Atlantikcharta, die das Selbstbestimmungsrecht in Aussicht stellte, eröffneten der algerischen Befreiungsbewegung neue Perspektiven.
Von MOHAMMED HARBI *
Im Rückblick betrachtet erscheinen die Massaker von Sétif und de Guelma vom 8. Mai 1945 als endgültiger Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieges. Und man kann sagen: Der Riss, der damals in der Gesellschaft entstand, beherrscht noch heute das politische Leben in Algerien, wo die Distanz zum politischen Leben in Frankreich mit dem Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung immer größer wurde. Jedes Mal, wenn Paris in einen Krieg verwickelt war, also 1871, 1914 und 1940, hatten die Nationalisten in Algerien versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen, das Kolonialsystem zu reformieren oder der Unabhängigkeit des Landes einen Schritt näher zu kommen. Doch anders als 1871 in der Kabylei und im Osten Algeriens oder 1916 im Aurès-Gebirge kam es im Mai 1945 zu keinen vergleichbaren Aktionen. Der Gedanke daran existierte zwar in vielen Köpfen, und manche redeten auch davon, doch konkrete Pläne lassen sich nicht belegen. In Wirklichkeit war es die Niederlage und Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 gewesen, die den Konflikt zwischen Kolonialmacht und Unabhängigkeitskämpfern grundlegend veränderte.
Obwohl die Volksfront-Regierung, als sie 1936 zustande kam, ihre Algerienpläne unter dem Druck der Kolonisten aufgegeben hatte, fühlten sich diese von den neuen Entwicklungen in Paris bedroht. Deshalb begrüßten sie begeistert das Pétain-Regime, das sich nach der Niederlage Frankreichs etablierte. Und dass Juden, Freimaurer und Kommunisten verfolgt wurden, kam ihnen gerade recht.
Mit der Landung der Amerikaner veränderte sich das Klima. Die algerischen Nationalisten nahmen die demokratische und antikolonialistische Haltung der Atlantikcharta vom 12. August 1941 (die u. a. das Selbstbestimmungsrecht proklamierte) beim Wort und beschlossen, ihre Meinungsunterschiede zu überwinden und sich zusammenzuschließen. Die Strömungen, die auf Assimilation setzten, verloren an Boden. Jetzt gab es auf der einen Seite die Befürworter einer bedingungslosen Unterstützung der Alliierten (um die Kommunistische Partei und die „Freunde der Demokratie“) und auf der anderen Seite eine Strömung, die sich streng dagegen verwahrte, die Interessen des eigenen Landes hintanzustellen oder, wie sie es formulierte, „auf dem Altar des antifaschistischen Kampfes zu opfern“.
Angeführt wurde diese antikoloniale Strömung von Messali Hadj, dem charismatischen Führer der Partei des algerischen Volkes (PPA, Parti du Peuple algérien). Zu ihr stieß alsbald auch eine der bekanntesten Figuren auf der politischen Szene: Ferhat Abbas1 . Dieser Mann, der die Idee eines algerischen Vaterlandes noch 1936 utopisch gefunden hatte, forderte jetzt die Errichtung einer „autonomen Republik“ – in Föderation mit einer erneuerten, antikolonialistischen und antiimperialistischen französischen Republik“. Wobei er sich ausdrücklich zur französischen und westlichen Kultur bekannte.
Abbas’ Gesinnungswandel hatte eine Vorgeschichte: Seit in Vichy 1940 Pétain an die Macht gekommen war, hatte Abbas Memoranden an die französische Kollaborationsregierung gesandt, die jedoch nicht beantwortet wurden. Deshalb hatte er sich in seiner Verzweiflung an die Amerikaner gewandt und mit 28 Abgeordneten und Finanzräten ein „Manifest des algerischen Volkes“ unterzeichnet, das am 10. Februar 1943 mit Unterstützung der PPA und der Ulema veröffentlicht wurde.
Das beschleunigte den Gang der Dinge. Die französischen Politiker glaubten zwar nach wie vor, die Entwicklung aufhalten zu können. Auch de Gaulle verkannte die Authentizität der Unabhängigkeitsbewegungen in den alten Kolonien, als er in seiner Rede in Brazzaville am 30. Januar 1944 den Algeriern keine Emanzipation oder Autonomie versprach und auch keine interne Autonomie, wie so oft behauptet wird. Überdeutlich wurde dieses Unverständnis mit der Verordnung vom 7. März 1944, „die im Rückgriff auf den ‚Blum-Violette-Plan‘ von 1936 insgesamt 65 000 Personen die französische Staatsbürgerschaft verleiht und den Anteil der Algerier in den regionalen Parlamenten auf zwei Fünftel erhöht“, kommentierte später der französischen Gaullist Pierre Mendès-France2 . Solche minimalen Reformen waren zu wenig und kamen zu spät. Sie ließen die französische Fremdherrschaft ebenso unangetastet wie die Privilegien der französischen Kolonisten; und natürlich handelte es sich wieder nur um Beschlüsse von oben.
Ein ernsthafte politische Strategie hätte echte Verhandlungen mit den algerischen Unabhängigkeitskämpfern erfordert. Doch diese galten in Paris nicht als Gesprächspartner. Dafür ging es in Algerien voran. Nach gemeinsamen Gesprächen, an denen Messali für die Unabhängigkeitspartei PPA, Scheich Bachir El Ibrahimi für die Ulema und Ferhat Abbas für die Autonomiepartei teilgenommen hatte, schlossen sich die Unabhängigkeitskämpfer am 14. März 1944 zu einer neuen Gruppierung zusammen – mit dem Namen „Freunde des Manifests und der Freiheit“ (AML, Amis du Manifeste et de la liberté).
Die Autonomiepartei PPA war zwar auch beteiligt, blieb aber weiterhin autonom. Sie war damals schon versierter in den Methoden moderner Politik und verstand es insbesondere, die islamische Bilderwelt und Denkweise zu instrumentalisieren; im Mittelpunkt ihrer Agitation stand die wachsende Delegitimierung der Kolonialherrschaft. Die städtische Jugend, die „aktiver und politisierter“ war, schwenkte auf diese Linie ein. Im ganzen Land kam es immer häufiger zu Akten zivilen Ungehorsams. Die Konfrontation wurde härter. Die europäischen Siedler und die algerischstämmigen Juden bekamen Angst, Nervosität machte sich breit.
Auf dem AML-Kongress im Mai 1945 behaupteten die populistischen Eliten der PPA ihre Dominanz. Das von den Wortführern der Nationalisten ursprünglich ausgehandelte Programm, das auf einen autonomen, mit Frankreich föderierten Staat hinauslief, wanderte in die Rumpelkammer der Geschichte. Die Mehrheit der Kongressteilnehmer votierte für einen von Frankreich losgelösten Staat in einer Union mit anderen Maghrebländern; Messali wurde zum „unumstrittenen Führer des algerischen Volkes“ ernannt. Die Kolonialverwaltung war entsetzt und setzte Ferhat Abbas unter Druck, um ihn zu zwingen, sich von seinen Verbündeten loszusagen.
Diese Konfrontation hatte sich bereits im April angebahnt. Im nationalistischen Lager liebäugelten die Führer der PPA – namentlich die Fraktion um den Arzt Mohamed Lamine Debaghine – mit der Perspektive eines Aufstands. Sie hofften, ein erwachender Millenarismus und der Aufruf zum Dschihad würden ihrem Unternehmen zum Erfolg verhelfen. Doch der wirklichkeitsferne Plan lief ins Leere. Im Lager der Kolonisten unterstellte man den Algeriern, die Europäer ins Meer werfen zu wollen. Ein von einem hohen Beamten, Pierre René Gazague, angestiftetes und auf oberster Verwaltungsebene ausgearbeitetes Komplott zur Enthauptung des AML und der PPA nahm immer konkretere Gestalt an.
Einige Leute, darunter der Islamwissenschaftler Augustin Berque3 , befürchteten, die Amerikaner könnten zugunsten der Unabhängigkeitskämpfer intervenieren. Messali wurde am 25. April nach Brazzaville deportiert, nachdem es an seinem Wohnort Reibell zu zahlreichen Demonstrationen gekommen war. Die über die Verschleppung ihres Führers empörte PPA machte Messalis Freilassung zu ihrem wichtigsten Ziel und beschloss, am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, eine eigene Kundgebung – mit eigenen Parolen – durchzuführen. Denn die nationale Frage kam bei den Forderungen der kommunistischen Gewerkschaft CGT ebenso wenig vor wie in denen der algerischen und der französischen KP.
In Oran und Algier schossen Polizisten und europäische Zivilisten auf den nationalistischen Demonstrationszug, dessen Forderungen störten. Es gab Tote und Verletzte, viele Menschen wurden festgenommen. Doch die Mobilisierung war damit nicht gestoppt.
Am Jahrestag des Waffenstillstandsabkommens von 1918 sollte im Norden der Provinz Constantine, in dem von der Armee streng kontrollierten Städteviereck Bougie, Sétif, Bône und Souk-Ahras, der Sieg der Alliierten öffentlich gefeiert werden. Die Vorgaben waren eindeutig: Man wollte mit friedlichen Demonstrationen Frankreich und seine Alliierten an die Forderungen der algerischen Nationalisten erinnern. Befehle, die auf einen Aufstand zielten, gab es keine. Das macht schon die Tatsache deutlich, dass die ganze Aktion auf die Gegenden um Sétif und Guelma begrenzt war. Aber wie konnte es dann zu den Ausschreitungen und dem Massaker kommen?
Der Krieg hatte Hoffnungen auf eine tief greifende Veränderung des kolonialen Status geweckt, und die internationale Entwicklung hatte diese Hoffnungen bestärkt. Die Nationalisten, und insbesondere die PPA, versuchten nun, die Entwicklung zu forcieren. Alle verfügbaren politischen Mittel wurden aufgeboten, um die Bevölkerung zu mobilisieren: Man prangerte Armut und Korruption an. Und man rief zur Verteidigung des Islam auf: „Die einzige Mole, die allen gesellschaftlichen Schichten offen steht, ist der Hafen der Religion mit dem Dschihad, der mehr als Waffe des Bürgerkriegs denn als Waffe des Religionskampfes anzusehen ist. Der durch diesen Schrei ausgelöste heilige Schrecken ist ganz leicht in kriegerische Energie umzuwandeln“, schreibt treffend Annie Rey-Goldzeiguer.4 Bei der Landbevölkerung, die eher intuitiv reagierte, konnte von politischer Reife keine Rede sein.
Unter den Europäern schlug die diffuse Furcht in ganz reale Ängste um. Obwohl sich vieles verändert hatte, war ihnen der Gedanke an eine Gleichstellung mit den Algeriern unerträglich. Mit allen erdenklichen Mitteln wollten sie einer solchen möglichen Entwicklung vorbeugen. Selbst eine so zahme Verordnung wie die vom 7. März 1944 musste sie zutiefst erschrecken. Ihre einzige Antwort auf die algerischen Forderungen war der Aufruf zur Bildung von Milizen und zur Repression. Bei Pierre René Gazague, aber auch beim Präfekten von Constantine, Lestrade Carbonnel, und beim Unterpräfekten von Guelma, André Achiary, fanden sie ein offenes Ohr: Diese Beamten waren bereit, „das Übel an der Wurzel zu packen“.
In Sétif beginnt die Gewalt, als die Polizisten in die Demonstration eingreifen, um die Fahne der PPA – die heutige Fahne Algeriens – sowie Transparente zu beschlagnahmen, auf denen Messalis Freilassung und die algerische Unabhängigkeit gefordert werden. Die Unruhen griffen schnell auf das flache Land über, wo die Stämme rebellierten und in Reaktion auf Verhaftungen und das Vorgehen der Milizen Racheaktionen gegen Kolonisten unternahmen. Europäische Zivilisten und die Polizei reagierten mit kollektiven Vergeltungsmaßnahmen und Massenerschießungen. Um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen und eine Untersuchung zu verhindern, gruben sie die in Massengräbern verscharrten Leichen später wieder aus und verbrannten sie in den Kalköfen von Héliopolis. Nach den Aussagen eines Militärhistorikers ähnelte das Vorgehen der Armee insgesamt „eher der Kriegführung in Europa als einem herkömmlichen Kolonialkrieg“. In der Gegend von Bougie wurden 1 500 Frauen und Kinder gezwungen, auf den Knien einer Militärparade beizuwohnen.
Die Bilanz der „Ereignisse“ ist auch deshalb so strittig, weil die französische Regierung die von General Tubert geleitete Untersuchungskommission auflöste und die Mörder unbehelligt ließ. Man kennt zwar heutzutage exakt das Ausmaß der strafrechtlichen Verfolgungen und die Zahl der europäischen Opfer, doch die Zahl der algerischen Opfer bleibt unklar. Unter algerischen Historikern5 werden diese Zahlen kontrovers diskutiert. Die von den französischen Behörden gemachten Angaben überzeugen nicht. Solange es keine unparteiische Untersuchungen gibt,6 ist mit Annie Rey-Goldzeiguer festzuhalten, dass den 102 Toten unter den Europäern tausende tote Algerier gegenüberstehen. Die Folgen des politischen Bebens waren vielfältig. Der so lange gesuchte Ausgleich zwischen dem algerischen Volk und der europäischen Kolonie erschien fortan wie ein frommer Wunsch.
In Frankreich haben die aus der Résistance hervorgegangen politischen Kräfte in der Entkolonialisierungsfrage nichts gelernt und sich von der Kolonistenpartei vereinnahmen lassen. „Ich habe euch für zehn Jahre Frieden beschert; wenn Frankreich nichts tut, fängt alles wieder an, schlimmer als je zuvor und wahrscheinlich unumkehrbar“, hatte der für die Repression zuständige General Duval gewarnt. Die französische KP – sie hatte die Nationalistenführer als „Provokateure in Hitlers Diensten“ bezeichnet und die Erschießung der „Rädelsführer“ verlangt – galt damals als kolonialistenfreundlich, auch wenn sie sich später eines anderen besann und für eine Amnestie eintrat.
In Algerien wurde am 14. Mai 1944 der AML verboten. Autonomiebefürworter und Ulema warfen der PPA vor, mit dem Feuer gespielt zu haben, und kündigten die Einheit des nationalistischen Lagers auf. Die Anhänger der PPA vertagten ihre Aktion „im Hinblick auf eine neue Form der Infragestellung“ und beauftragten ihre Führer mit der Schaffung einer paramilitärischen Organisation auf nationaler Ebene. Am 1. November 1954 fand man sie wieder an der Spitze eines „Front National de Libération“ (FNL – Nationale Befreiungsfront). Der Algerienkrieg hat also tatsächlich am 8. Mai 1945 in Sétif begonnen.
deutsch von Josef Winiger
* Historiker, Autor, zusammen mit Benjamin Stora, von: „La Guerre d’Algérie, 1954–2004. La fin de l’amnesie“, Paris (Laffont) 2004.