15.04.2005

Der Hitler-Stalin-Pakt aus Moskauer Sicht

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Der Hitler-Stalin-Pakt aus Moskauer Sicht

DER 8. Mai 1945 besiegelte für die Sowjetunion die Isolation innerhalb des Kriegsbündnisses. Ihre Rolle in der Zeit der Appeasement-Politik und im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ist nach wie vor Gegenstand historischer Debatten. Welche Motive leiteten Stalin, als er den Hitler-Stalin-Pakt schloss? Welche Erwartungen hatten die Russen an die Verbündeten? Welche offenen oder verdeckten Kalküle hatten die großen, welche Folgen hatten diese für die kleinen Länder?

Von ANNIE LACROIX-RIZ *

Bereits 1947, kaum zwei Jahre nachdem die deutsche Wehrmacht und der Nationalsozialismus besiegt waren, wurde die Rote Armee im Westen nicht mehr nur als Befreier, sondern als Bedrohung angesehen.1 Heute, 60 Jahre später, hat sich in der Geschichtsschreibung eine derartige proamerikanische Sichtweise längst konsolidiert. Die Kritik an der Sowjetunion betrifft dabei nicht nur den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, sondern auch den „Großen Vaterländischen Krieg“. In den Geschichtsbüchern stellen Historiker westlicher wie östlicher Provenienz Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus an.2 Doch wer sich daranmacht, den geschichtlichen Ereignissen selbst auf den Grund zu gehen, erhält ein weitaus differenzierteres Bild.

Zunächst geht es bei der Kritik an Moskau immer um den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939, vor allem um das geheime Zusatzprotokoll, denn nach den raschen Siegen der Wehrmacht über Polen besetzten die Russen im September das polnische Ostgalizien und im Juni darauf auch die baltischen Staaten.3 Expansion, Realpolitik oder Selbstverteidigung?

Auf der Grundlage der Thesen von Lewis B. Namier und A. J. P. Taylor sowie des Journalisten Alexander Werth4 haben englischsprachige Historiker in den Neunzigerjahren die damalige Lage der Sowjetunion neu untersucht.5 Sie haben herausgearbeitet, dass gerade die Sturheit, mit der Frankreich und England (mit Unterstützung der Vereinigten Staaten) an ihrer Appeasement-Politik festhielten, den sowjetischen Plan einer „kollektiven Sicherheit“ aller von Deutschland bedrohten Länder durchkreuzte. Höhepunkt der Appeasement-Strategie war bekanntlich das am 29. September 1938 geschlossene Münchner Abkommen, bei dem Paris, London und Rom den Nationalsozialisten das Sudentenland überließen. Nach der Zerschlagung der Rest-Tschechei Mitte März 1939 (Böhmen und Mähren wurden annektiert, die Slowakei wurde zum Satellitenstaat) sah sich Moskau zunehmend isoliert: Offensichtlich verfolgten die Westmächte die Linie, Hitler „im Osten freie Hand“ zu lassen. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 sollte der Sowjetunion Sicherheit bieten.

Zwölf Tage zuvor war eine britisch-französische Delegation zu Verhandlungen nach Moskau gereist, denn seit der Annexion von Böhmen und Mähren durch dasDeutsche Reich im Frühjahr 1939 hatte auch in Frankreich die Idee einer „gemeinsamen Front“ mit Russland immer mehr Anhänger gewonnen. Moskau wollte eine Wiederauflage der automatischen gegenseitigen Beistandsverpflichtung von 1914, dieses Mal unter Einbeziehung von Polen und Rumänien, die 1919 im antibolschewistischen Cordon sanitaire [dt. „Pufferzone“] eine wichtige Rolle gespielt hatten, sowie unter Einbeziehung der für „das europäische Russland“6 so lebenswichtigen baltischen Staaten. Der britische Admiral Drax und der französische General Doumenc waren allerdings „mit leeren Händen“ nach Moskau gereist und schlugen lediglich vor, den Deutschen mit einem britisch-französisch-sowjetischen Militärpakt zu drohen, um so den Krieg bis zum Herbst oder Winter hinauszuzögern. Als der Oberste Befehlshaber der Roten Armee, Woroschilow, am 12. August vorschlug, gemeinsam „konkrete“ Operationspläne gegen den Block der Aggressorstaaten auszuarbeiten, stellte sich heraus, dass die Delegierten über keinerlei schriftliche Ermächtigung verfügten. Paris und London überließen die Planung den Russen und boten ihren östlichen Verbündeten weder finanzielle noch militärische Unterstützung an. Warschau (und auch Bukarest) verweigerten der Roten Armee sogar weiterhin das Durchmarschrecht (geografisch eine Conditio sine qua non). Die europäischen Großmächte England und Frankreich fühlten sich aufgrund ihrer Garantieerklärungen an das Veto des deutschfreundlichen polnischen Außenministers Oberst Beck gebunden (das sie insgeheim begrüßten). Beck berief sich dabei auf das „Testament“ seines Vorgängers Piłsudski: „An die Deutschen verlieren wir unsere Freiheit, an die Russen verlieren wir unsere Seele.“

Die Sache war eigentlich deutlich einfacher. 1920/21 hatte sich Polen von den Sowjets mit französischer Militärhilfe Ostgalizien (Westukraine und Westbelorussland) einverleibt7 , und seit 1934 fürchtete man in Polen die Rückeroberung dieser Gebiete durch die Rote Armee. Für die deutschen Begehrlichkeiten war man blind. In Rumänien war die Lage ähnlich, denn man befürchtete den Verlust Bessarabiens, das Rumänien 1918 von den Russen bekommen hatte. Auch die baltischen Staaten boten der UdSSR keinerlei Garantie. Sie verdankten ihre Unabhängigkeit 1919/1920 ebenjenem Konzept der Pufferzone und hatten aufgrund ihres Antibolschewismus enge Bindungen zu Deutschland.

Um einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, hofierte Hitler von März beziehungsweise Mai 1939 die Sowjetunion. Berlin gab Moskau vor dem Überfall auf Polen die Zusage, die sowjetische Einflusssphäre in Ostgalizien, dem Baltikum und Bessarabien zu respektieren. So gab Moskau im letzten Moment nach, nicht etwa weil dort jemand von der Weltrevolution träumte oder irgendeinen „Drang nach Westen“ verspürte, wie der Historiker Ernst Nolte gern hervorhebt. Man wollte sich vielmehr schlicht und ergreifend nicht „als einziges Land in einem Konflikt mit Deutschland wiederfinden“, wie es Staatssekretär Charles Lindsley Halifax am 6. Mai 1939 ausgedrückt hatte. Aus diesem Grund schloss Stalin den Nichtangriffspakt; „die unheilvolle Nachricht“ schlug ein „wie eine Bombe“.8 Man sprach von Verrat, doch trotz aller Kassandrarufe, die seit 1933 von Seiten der beiden westeuropäischen Großmächte erklungen waren: Ohne Dreibund war die Sowjetunion in großen Kalamitäten. Sie brauchte Zeit, um sich wirtschaftlich und militärisch rüsten zu können.

Noch am 29. August 1939 bescheinigte Oberstleutnant Luguet, der französische Luftwaffenattaché in Moskau (und spätere gaullistische Held der an der Ostfront eingesetzten Jägerstaffel Normandie-Niemen), Woroschilow Vertrauenswürdigkeit und stellte Stalin als „glorreichen Nachfolger […] Alexander Newskis und Peters I.“ dar. In einem Brief an Luftfahrtminister Guy de la Chambre schreibt er, es gebe „neben dem bekannt gemachten Vertrag eine geheime Zusatzvereinbarung, in der eine Grenzlinie festgelegt“ sei, „die sich nicht mit der derzeitigen sowjetischen Grenze deckt; diese darf von den deutschen Truppen nicht überschritten werden und dient der UdSSR gewissermaßen als Puffer“.9

Der Zweite Weltkrieg

ALS Deutschland am 1. September 1939 mit dem Angriff auf Polen den Krieg eröffnete, gab es kein Bündnis nach dem Vorbild der Entente, die Frankreich im September 1914 vor der deutschen Invasion bewahrt hatte. Ursache, so der britische Historiker Michael Carley, sei die Appeasement-Politik gewesen, mit der Briten und Franzosen hatten verhindern wollen, dass nach einem Sieg der Roten Armee die Sowjets den Kriegsgegnern ihr Gesellschaftssystem aufnötigen könnten. Laut Carley war die „Angst vor einem Sieg der Kommunisten über den Faschismus“ zentraler Beweggrund in allen Entscheidungen seit 1934/1935.10

Am 17. September 1939 kündigte die Sowjetunion, beunruhigt durch den raschen Vormarsch der Deutschen, ihre Neutralität zu Polen auf – und besetzte Ostgalizien. Im September/Oktober verlangte sie „Beistandsgarantien“ von den baltischen Staaten: eine „verdeckte“ Besetzung, die London „resigniert“11 hinnahm, denn dort war man mittlerweile über den russischen „Drang nach Westen“ ebenso beunruhigt wie über den Vormarsch des Reichs. Nachdem die Sowjetunion von Finnland, das als Bündnispartner der Deutschen Leningrad bedrohte, vergeblich eine Grenzrevision auf der Karelischen Landenge gefordert hatte, begannen die Sowjets Ende November 1939 den sowjetisch-finnischen Winterkrieg. Lautstark wurden im Westen die Propagandatrommeln gerührt: In Frankreich rühmte man den tapferen Widerstand des kleinen Landes gegen die erstaunlich unfähige Rote Armee. General Weygand (von der kollaborierenden französischen Regierung in Vichy) und der französische Ministerpräsident Daladier planten einen Krieg gegen die Sowjetunion im hohen Norden, später dann im Kaukasus.12 London, das sich offiziell auf die französische Seite schlug, begrüßte dennoch den Kompromiss des Russisch-Finnischen Friedens vom 12. März 1940 und nach dem französischen Zusammenbruch auch den neuerlichen Vorstoß der Roten Armee, die Mitte bis Ende Juni 1940 die baltischen Staaten, Bessarabien und die Nordbukowina besetzte. Schließlich wurde mit Stafford Cripps der einzige sowjetfreundliche Politiker des britischen Establishments als Botschafter nach Moskau entsandt,13 denn in der Folgezeit favorisierten die Briten einen russischen Vormarsch im Baltikum.

Umstritten ist auch, wie Stalin in dieser Phase zwischen dem 23. August 1939 und dem 22. Juni 1941 den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im Einzelnen umsetzte. Einige Historiker zum Beispiel kritisieren Stalins Rohstofflieferungen an Nazi-Deutschland, andere kritisieren den Linienschwenk der Komintern vom Sommer 1940, der dazu geführt hatte, dass die Kommunisten aller Länder den Krieg gegen Deutschland als „imperialistischen Krieg“ verurteilen mussten. In den genannten Historikerkreisen wird diesen Fragen jedoch wenig Bedeutung beigemessen,14 zumal die Vereinigten Staaten selbst noch nach ihrem Kriegseintritt im Dezember 1941 dem Reich Industriegüter lieferten.15

Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen hat die Öffnung der sowjetischen Archive nach 1991 bestätigt, dass im April 1940 auf Anweisung Moskaus 5 000 polnische Offiziere umgebracht worden waren, deren Leichen die Deutschen 1943 in Katyn (nahe Smolensk) fanden. Während die Polen sie ablehnten, retteten die Sowjets mehr als einer Million Juden in den annektierten Gebieten das Leben – nicht zuletzt dadurch, dass sie 1941 deren Evakuierung vorrangig organisierten.16

Im November 1940 kam es beinahe zum Bruch der bereits seit Juni angeschlagenen deutsch-sowjetischen Beziehungen, nachdem Rumänien dem Dreimächtepakt beigetreten war und der deutschen Seite seine Bereitschaft zum Kampf gegen die Sowjetunion kundgetan hatte. „Zwischen 1939 und 1941“ hatte die Sowjetunion Zeit, ihre Land- und Luftstreitkräfte beträchtlich aufzurüsten und die „von 100 auf 300 Divisionen“ („von 2 auf 5 Millionen Mann“) erweiterte Rote Armee „entlang oder nahe ihrer Westgrenzen“ massiv zusammenzuziehen.17

Nach dem Aufmarsch der deutschen Wehrmacht im „verbündeten“ Rumänien erfolgte am 22. Juni 1941 der Angriff auf die Sowjetunion – dann kam es zum „militärischen Zusammenbruch im Jahr 1941“ (Nicolas Werth), dem 1942–1943 ein „Sprung nach vorn in Regierung und Gesellschaft“ folgte18 . In Vichy sprach General Doyen bereits am 16. Juli vom Ende des Blitzkriegs: „Obwohl das Dritte Reich in Russland gewisse strategische Erfolge erzielt, entspricht der Ablauf der Operationen doch keineswegs der Vorstellung, die seine Führer sich gemacht hatten. Sie hatten weder mit einem derart starken Widerstand gerechnet noch mit einer derart erbitterten Entschlossenheit der russischen Soldaten noch mit einem derart leidenschaftlichen Fanatismus der Bevölkerung […], auch nicht mit derart schweren Verlusten und nicht damit, dass die Eroberer ein derart verlassenes Land vorfinden würden und dass es derartige Versorgungs- und Kommunikationsprobleme geben würde. […] Obwohl die Russen nicht wussten, wovon sie morgen leben sollten, verbrannten sie heute ihre Ernten, sprengten ihre Häuser in die Luft und vernichteten alles bewegliche Gut, um es nichts in die Hände des Feindes fallen zu lassen.“19

Der Vatikan, der beste Geheimdienst der Welt, warnte Anfang September vor den Schwierigkeiten der Deutschen und davor, dass am Ende „Stalin aufgefordert werden könnte, gemeinsam mit Churchill und Roosevelt den Frieden zu organisieren“: In den Augen des Vatikans fand die Wende des Krieges also vor Stalingrad statt, sogar noch bevor die Wehrmacht Ende Oktober vor Moskau zum Stehen kam.

So bestätigte sich schon bei der Invasion die Einschätzung des französischen Militärattachés in Moskau, Auguste-Antoine Palasse aus dem Jahr 1938, dem zufolge die russische Armee auch nach den Säuberungen von 1937 nicht geschwächt dastünde. Im Juni 1937 war nach dem Prozess und der Exekution von Marschall Michail Tuschatschewski dem gesamten Obersten Generalstab der Roten Armee der Prozess gemacht worden.20 Trotzdem gab es einen politischen und miltärischen Patriotismus sondergleichen, der auch die Rote Armee trug. Ihr Ansehen war enorm, die Propaganda „setzte das Land unter Spannung, stärkte den Stolz auf die Heldentaten der Seinen und schuf ein unerschütterliches Vertrauen in die eigene Verteidigungskraft“.

Wie viele andere hatte Palasse seit August 1938 die japanischen Niederlagen an der sowjetisch-chinesisch-koreanischen Grenze hervorgehoben.21 Die so bezeugte Schlagkraft der Roten Armee war Japan eine Lehre: Zur Empörung Hitlers unterzeichnete Japan am 13. April 1941 in Moskau einen Neutralitätspakt und befreite die Sowjetunion vom Albtraum eines Zweifrontenkriegs, der sie seit dem japanischen Angriff auf die Mandschurei (1931) und dann auf ganz China (1937) verfolgte. Nun ging die Rote Armee, die so lange unter der Nazi-Kriegsmaschine gelitten hatte, in die Offensive.

Während das Deutsche Reich 1917 bis 1918 im Westen (und vor allem von französischen Truppen) geschlagen wurde, war es zwischen 1943 und 1945 vor allem im Osten die Rote Armee, die der deutschen Armee zusetzte. Seit August/September 1941 forderte Stalin zu seiner Entlastung von den Westmächten die Eröffnung einer „zweiten Front“. Doch die einzige unmittelbare Unterstützung, die Moskau gewährt wurde, waren internationale Lobeshymnen über den „heldenhaften Kampf der sowjetischen Streitkräfte“ und eine finanzielle Unterstützung, die erst nach Kriegsende zurückgezahlt werden musste. Sie belief sich nach Schätzungen eines sowjetischen Historikers auf 5 Milliarden Rubel, d. h. auf „4 Prozent des Nationaleinkommens“ von 1941 bis 1945.

Doch die Verweigerung der zweiten Front sowie das Abseits der UdSSR innerhalb der Allianz – auch wenn Russland im November 1943 beim Gipfel in Teheran dabei war – schürten auf sowjetischer Seite die Angst, die Westalliierten könnten zum Prinzip der „freien Hand im Osten“ zurückkehren.

Nachdem Generalfeldmarschall Paulus am 2. Februar 1943 in Stalingrad die Kapitulation erklärt hatte, stellte sich die Frage nach dem Kräfteverhältnis in Europa akut, und die Pläne für die Nachkriegsordnung rückten ins Zentrum. Da Washington bis 1941 darauf baute, sich aufgrund seiner finanziellen Vormachtstellung militärisch aus dem Konflikt heraushalten zu können, weigerte sich Roosevelt, über die Kriegsziele zu verhandeln, die Stalin Churchill bereits im Juli 1941 vorgetragen hatte (Rückkehr zu den alten Reichsgrenzen von 1939–1940): die Festlegung einer sowjetischen „Einflusssphäre“ in Abgrenzung gegen die amerikanische. Der Finanzmann Averell Harriman, Botschafter der Vereinigten Staaten in Moskau, glaubte noch 1944, mit dem Köder einer Wirtschaftshilfe die ruinierte Sowjetunion davon abhalten zu können, auf einer „sowjetischen Einflusssphäre […] in Osteuropa und auf dem Balkan“ zu bestehen.

In diesem Kalkül war jedoch Stalingrad nicht berücksichtigt. Dort standen sich seit Juli 1942 zwei Heere von mehr als einer Million Mann gegenüber. Unter den Augen des gesamten besetzten Europa schlugen die sowjetischen Soldaten eine „erbitterte Schlacht – grausamer als alle Schlachten des Ersten Weltkriegs […], in der um jedes Haus, um jeden Wasserturm, jeden Keller, jedes Trümmerstück“ gekämpft wurde. Dieser Sieg „brachte die UdSSR auf den Weg zur Weltmacht“, wie der Sieg „von Poltawa (gegen Schweden) Russland in eine europäische Macht verwandelt hatte“.

Tatsächlich zog sich die Eröffnung der „zweiten Front“ noch hin bis Juni 1944, als das Vordringen der Roten Armee über die früheren Grenzen (vom Juli 1940) hinaus die Aufteilung der „Einflusssphären“ notwendig machte. Die Beschlüsse auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 spiegelten die realen militärischen Kräfteverhältnisse, obwohl immer wieder behauptet wird, Stalin habe dem geschwächten Churchill und dem bereits vom Tode gezeichneten Roosevelt mit viel List und Verhandlungsgeschick Polen abgerungen. Die Kapitulation der Wehrmacht zog sich hin: Ende März befanden sich „26 deutsche Divisionen an der Westfront“ (um die Truppen über die Häfen im Norden auf das Gebiet der „guten“ Feinde zu evakuieren), „gegenüber 170 Divisionen an der Ostfront“, wo die Kämpfe bis zum Schluss tobten. Die „Operation Sunrise“ im März/April 1945 zermürbte Moskau: Allen W. Dulles, Chef des CIA-Vorläufers „Office of Strategic Services“ (OSS) verhandelte in Bern mit dem SS-General Karl Wolff (Chef des persönlichen Stabes von Heinrich Himmler und verantwortlich für „die Ermordung von 300 000 Juden“) über die Kapitulation der Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Kesselring in Italien. Damals war es politisch undenkbar, dass Berlin den Westmächten zufiele: Vom 25. April bis 3. Mai, in der vorletzten „blutigen Schlacht“ (Prag fiel am 9. Mai), starben noch einmal 300 000 sowjetische Soldaten. Das entspricht der Gesamtheit der „rein militärischen“ amerikanischen Verluste an den europäischen und japanischen Fronten von Dezember 1941 bis August 1945.22

Nach dem französischen Historiker Jean-Jacques Becker war der Zweite Weltkrieg, „abgesehen von seiner weit größeren räumlichen Ausdehnung, abgesehen auch von den außerordentlichen Verlusten durch die überholten Kampfmethoden der sowjetischen Armee, rein militärisch gesehen, weniger gewaltsam als der Erste“.23 Dabei vergisst man, dass die UdSSR mehr als die Hälfte der insgesamt 50 Millionen Toten von 1939 bis 1945 zu verzeichnen hatte, und der Vernichtungskrieg, den das Dritte Reich geplant hatte, nach den Juden auch die Slawen liquidieren wollte.24 Die für die Naziideologie überaus empfängliche Wehrmacht betrachtete „die Russen als absolut verachtungswürdige ‚Asiaten‘ “. In ihrem Antislawismus, Antisemitismus und Antibolschewismus erklärte sie die Vorschriften der Haager Landkriegsordnung von 1907, also das „humanitäre Kriegsrecht“ und die Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen, an der Ostfront ausdrücklich als für sie nicht bindend. Davon zeugen mehrere Erlasse, die erstmals bei den Nürnberger Prozessen (1945–1946) zur Sprache kamen: der von Hitler am 6. Juni 1941 erlassene „Kommissarbefehl“, der die Liquidierung aller kommunistischen Kommissare der Roten Armee verfügte; der Befehl, „keine Gefangenen zu machen“, der die Exekution von 600 000 Kriegsgefangenen unmittelbar auf dem Schlachtfeld zur Folge hatte und im Juli auf „feindliche Zivilpersonen“ ausgedehnt wurde; der „Reichenau-Befehl“ zur „völligen Zerschlagung des jüdisch-bolschewistischen Systems“ usw.25 3,3 Millionen Kriegsgefangene, das heißt mehr als zwei Drittel aller Kriegsgefangenen, erlitten 1941–1942 den „planmäßigen Tod“ durch Hunger und Durst (vier von fünf Toten), durch Typhus oder Zwangsarbeit. Gefangene wurden als „fanatische Kommunisten“ bezeichnet und der SS überstellt – als Versuchskaninchen für den Einsatz vonZyklon B in Auschwitz im Dezember 1941.

Gemeinsam mit der SS und der deutschen Polizei hat sich die Wehrmacht aktiv an der Vernichtung von Zivilisten – Juden wie Nichtjuden – beteiligt. Sie unterstützte die Einsatzgruppen der SS bei ihren „mobilen Mordkommandos“ (Raul Hilberg), so etwa der Gruppe C in der Schlucht von Babi Jar Ende September 1941, zehn Tage nach dem Einmarsch ihrer Truppen in Kiew: Dies ist nur eines der zahllosen, mit polnischen, baltischen (lettischen und litauischen) oder ukrainischen Helfershelfern verübten Massaker, die in dem ergreifenden Schwarzbuch von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman beschrieben werden.26

Allein die 900 Tage dauernde Belagerung von Leningrad (Juli 1941 bis Januar 1943) kostete eine Million der 2,5 Millionen Einwohner zählenden Stadt das Leben, „mehr als 600 000“ fielen im Winter 1941/42 dem Hunger zum Opfer. „1 700 Städte, 70 000 Dörfer und 32 000 Industriebetriebe“ wurden dem Erdboden gleichgemacht, eine Million sowjetische „Ostarbeiter“ nach Westen deportiert – Opfer der Zwangsarbeit in Minen und Fabriken deutscher oder ausländischer Konzerne wie beispielsweise Ford, die Lastwagen und Dreitonner für die Ostfront produzierten.

Am 8. Mai 1945 hatte die ausgeblutete Sowjetunion die Gunst der großen britisch-amerikanischen Allianz, die sie durch den gewaltigen Beitrag ihres Volkes – der Soldaten wie der Zivilbevölkerung – errungen hatte, bereits verloren. Die von Washington betriebene Containment-Politik des Kalten Krieges konnte an den Cordon sanitaire anknüpfen, den „ersten Kalten Krieg“, den London und Paris von 1919 bis 1939 geführt hatten.

deutsch von Grete Osterwald

* Professorin für Zeitgeschichte, Paris 7. In Vorbereitung: „Le Choix de la défaite: les élites françaises dans les années 1930“, Paris, Armand Colin.

Fußnoten: 1 Vgl. Annie Lacroix-Riz, „1947–1948. Du Kominform au ‚coup de Prague‘, l’Occident eut-il peur des Soviets et du communisme“, in: Historiens et géographes (HG), Nr. 324, August/September 1989, S. 219–243. 2 Vgl. Diana Pinto, „L’Amérique dans les livres d’histoire et de géographie des classes terminales françaises“, in: HG, Nr. 303, März 1985, S. 611–620; Geoffrey Roberts, „The Soviet Union and the Origins of the Second World War, 1933–1941“, New York 1995, Einleitung. 3 Siehe Geoffrey Roberts , a. a. O., S. 95–105. 4 Vgl. Lewis B. Namier, „Diplomatic Prelude 1938–1939“, London 1948; Alan John Percivale Taylor, „The origins of the Second World War“, London 1964; Alexander Werth, „Russia at war 1941–1945“, London 1964. 5 Vgl. G. Roberts, a.a.O., und „Stalin’s pact with Hitler“, London 1989; Gabriel Gorodetsky, „Soviet Foreign Policy 1917–1991“, London 1993; Michael J. Carley, „1939: The alliance that never was and the Coming of World War 2“, Chicago 1999; Hugh Ragsdale, „The Soviets, the Munich Crisis, and the Coming of World War II“, Cambridge 2004; Jonathan Haslam, „The Soviet Union and the struggle for collective security in Europe, 1933–1939“, London 1984. 6 Alle Zitate entstammen, soweit nicht anders vermerkt, den Archiven des französischen Außenministeriums oder der Landarmee (SHAT) sowie aus deutschen, britischen und amerikanischen öffentlichen Archiven. 7 Wie viele Marken hatte auch Galizien unter russischer, mongolischer, polnischder, litauischer, österreichischer und dann wieder unter russischer und polnischer Hoheit gestanden. 1919 bei den Verhandlungen von Lord Curzon war Ostgalizien den Russen zugefallen. (A.d.R.) 8 So Winston Churchill in „Der Zweite Weltkrieg“ („The gathering storm“, Boston 1948, S. 346). 9 Brief (D463) an Luftfahrtminister Guy de la Chambre, Moskau, 29. August 1939, SHAT 7N 3186. 10 Michael J. Carley, „1939: The alliance that never was and the Coming of World War 2“, Chicago 2000, S. 256 f. 11 Brief 771 von Charles Corbin, London, 28. Oktober 1939, UdSSR 1930–1940, v. 926, Archive Quai d’Orsay (MAE). 12 Vgl. Jean-Baptiste Duroselle, „L’Abîme 1939–1945“, Paris 1983, Kap. 4. 13 Vgl. Gabriel Gorodetsky, „Stafford Cripp’s mission to Moscow, 1940–42“, Cambridge 1984. 14 Siehe die Arbeiten von Geoffrey Roberts und Gabriel Gorodetsky; sowie Bernhard H. Bayerlein et al., „Moscou Paris Berlin, 1939–1941“, Paris 2001. 15 Charles Higham, „Trading with the enemy, 1933– 1949“, New York 1983. 16 Dov Levin, „The lesser of two evils: Eastern European Jewry under Soviet Rule 1939–1941“, Philadelphia-Jerusalem (The Jewish Publication Society) 1995. 17 Geoffrey Roberts, a. a. O., S. 122–134 und 139. 18 Vgl. Omer Bartov u. a., „Les sociétés en guerre 1911–1946“, Paris 2003, S. 134–144. 19 La délégation française auprès de la Commission Allemande d’Armistice à Wiesbaden, 1940–1941, Paris, Bd. 4, S. 648 f. 20 Allgemein geht man davon aus, dass diese Säuberungen die Rote Armee deutlich schwächten. (A.d.R.) 21 Vgl. Gabriel Kolko, „The Politics of War, 1943–1945“, New York 1969, Kap. 13–14; Raul Hilberg, „Die Vernichtung der europäischen Juden“, Berlin 1982; Tom Bower, „Blind eye to murder“, London 1981, S. 249. 22 Pieter Lagrou gibt die Gesamtzahl mit 292 000 an, in: Stéphane Audoin-Rouzeau u. a., La violence de la guerre 1914–1945, Brüssel 2002, S. 322. 23 Becker, a. a. O., S. 333 24 Vgl. Götz Aly und Susanne Heim, „Vordenker der Vernichtung – Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung“, Hamburg 1991. 25 Omer Bartov, German Troops, Oxford 1985; L’armée d’Hitler, Paris 1999, Tom Bower, a.a.O. 26 Vgl. Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg und Wassili Grossman, „Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden“, dt. Ausgabe, herausgegeben von Arno Lustiger, Reinbek 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von ANNIE LACROIX-RIZ