15.04.2005

Libanon – neues Spielfeld für Agitatoren

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Libanon – neues Spielfeld für Agitatoren

NACH dem Mord an Exregierungschef Hariri und den Bombenanschlägen der letzten Wochen sind sich viele Libanesen nicht mehr sicher, ob die Zivilgesellschaft des Landes stark genug ist, ihre Konflikte friedlich zu regeln. Der Abzug der syrischen Truppen, den Damaskus für Ende April zugesagt hat, dürfte zwar die Spannungen dämpfen. Doch so lange die Region insgesamt nicht befriedet ist, werden in diesem Land immer mächtige Interessen aufeinander prallen.

Von GEORGES CORM *

Der Libanon ist wieder in den Schlagzeilen, seit am 14. Februar der ehemalige Ministerpräsident Rafik Hariri einem Attentat zum Opfer fiel. Die Ermordung eines libanesischen Spitzenpolitikers mit angeblich „außergewöhnlichem“ regionalem und internationalem Renommee führte in den USA wie in Frankreich zu heftigen Reaktionen. Auch in Israel wurde der Vorgang ausgiebig kommentiert. Für den politisch instabilen Libanon verheißt die Entwicklung nicht viel Gutes.

Als der UN-Sicherheitsrat am 3. September 2004 die Resolution 1559 über den Libanon beschloss, wurde dies – außer im Lande selbst – kaum beachtet. Die UN-Resolution fordert die Aufhebung der wichtigsten Bestimmungen, die 1989 im prosyrischen Abkommen von Taif1 den Status des Libanon neu geregelt hatten. Nach 1991 hatten auch die Staaten der Golfkriegsallianz, die die Iraker aus Kuwait vertrieben hatte, Syrien eine Aufseherrolle im Libanon zugedacht und damit die kooperative Haltung belohnt, die Damaskus in diesem Konflikt gezeigt hatte.

In der Resolution 1559 hingegen wurde das libanesische Parlament indirekt aufgefordert, keine Verfassungsänderung zu beschließen, die dem Staatspräsidenten Émile Lahoud eine Verlängerung seiner Amtszeit von sechs auf neun Jahre gewährt hätte. Noch 1995 hatte dessen Amtsvorgänger Elias Hraoui, ein Verbündeter von Damaskus wie auch von Rafik Hariri, eine solche Verlängerung erhalten, ohne dass man sich in Paris oder Washington darüber aufgeregt hätte.

Diese Forderung in der Resolution 1559 kommt überraschend, weil die UN-Charta jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedsstaats verbietet. Die Resolution fordert des Weiteren den Rückzug der syrischen Armee aus dem Libanon, die Stationierung der libanesischen Armee entlang der Grenze zu Israel und die Entwaffnung der libanesischen Hisbollah-Miliz wie der palästinensischen Gruppen in den Flüchtlingslagern. Das alles liefe darauf hinaus, die Stabilität des Libanon in Frage zu stellen und das Land erneut zu einem Pufferstaat zu machen. Was bedeuten würde, dass der Libanon und seine politische Führungsschicht wie schon so oft in der Geschichte unter den Einfluss der Mächte kommen, die jeweils als mächtigste Anwärter auf die Herrschaft in der Region auftreten.2

Von 1975 bis 1990 war der Libanon Schauplatz blutiger Stellvertreterkriege. Hier wurden auf engstem Raum die großen Konflikte ausgetragen, die damals die Region erschütterten: Der Kalte Krieg, die israelisch-arabische Konfrontation, innerarabische Feindschaften, der Krieg zwischen Iran und Irak samt seiner regionalen und internationalen Weiterungen. Auf dem libanesischen Territorium konnte man Kämpfe führen, die nicht gleich im großen Maßstab eskalierten. Und es gab immer wieder politische Führer, die sich von regionalen und internationalen Kräften finanzieren, bewaffnen und lenken ließen. Die verschiedenen Religionsgemeinschaften, deren Interessen diese Führer angeblich vertraten, dienten letztlich als Kanonenfutter in den Schlachten auswärtiger Mächte. Zudem fanden die arabischen und internationalen Medien hier den dringend benötigten Stoff für ihre Geschichten von der „uralten Feindschaft“ zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

Als im Oktober 1990 mit offizieller Zustimmung der USA und stillschweigender Duldung durch Israel eine Pax Syriana für den Libanon beschlossen wurde, war man allgemein erleichtert. In den folgenden 14 Jahren erlebte das Land eine ungewohnte Periode der Stabilität. 1991 und 1992 vollbrachten die Regierungen von Salim al-Hoss und Omar Karame das Kunststück, die staatliche Verwaltung zu effektivieren, die Konflikte zwischen der Hauptstadt und den Provinzen zu reduzieren und sogar die verfeindeten Milizen zu entwaffnen und in die Armee einzugliedern.

Die nachfolgende Regierung unter Raschid al-Solh ließ die ersten Parlamentswahlen seit 1972 abhalten. Leider wurden sie weitgehend boykottiert, vor allem von den Christen, deren Milizen die Syrer in der Endphase des Bürgerkriegs niedergeschlagen und die seither deutlich an Macht verloren hatten. Im Kabinett aber waren fast alle Fraktionen vertreten. Es fehlten nur die Anhänger von General Aoun, dem antisyrischen letzten Generalstabschef der Bürgerkriegszeit, den man nach Paris ins Exil geschickt hatte. Damals wurde auch erwogen, Syrien zur Einhaltung der Abkommen von Taif aufzufordern, die den Rückzug der syrischen Truppen in die Bekaa-Ebene vorsahen.3

Pro- und antisyrische Strömungen blockieren sich

ZU diesem Zeitpunkt betrat Rafik Hariri die politische Bühne. Er galt als reicher Wohltäter, als der richtige Mann für den Wiederaufbau des Libanon, vor allem für die Restaurierung des von 15 Kriegsjahren schwer gezeichneten historischen Zentrums der Wirtschaftsmetropole Beirut. Seine Ernennung zum Ministerpräsidenten löste eine ungeheure Euphorie aus. Hariri wurde zum großen Zampano, um den sich ein ungeheurer Personenkult entwickelte, der durch seine legendäre Spendenfreudigkeit gefördert wurde. Hilfreich waren aber auch die ihm ergebenen oder von ihm kontrollierten Medien, die enge Freundschaft, die er mit dem französischen Staatspräsidenten entwickelte, und seine hervorragenden Beziehungen zu Saudi-Arabien. Über die Verlegung der syrischen Truppen – wie sie immerhin in einem Regierungsvertrag zwischen Syrien und Libanon vorgesehen war – sprach jetzt niemand mehr.

Ende 1998 verlor Rafik Hariri die Regierungsmehrheit. Aber im Oktober 2000 gelang ihm eine triumphale Rückkehr an die Macht, nachdem er aus den Parlamentswahlen im Sommer eindeutig als Sieger hervorgegangen war. Damals äußerte niemand den Verdacht, die Wahlen seien manipuliert worden oder Syrien habe seine Hand im Spiel gehabt. Der Wiederaufbau des Landes schien großartig voranzukommen – so der Eindruck, den ausländische Besucher ebenso wie die Mehrheit der Libanesen hatten. Auf die exorbitanten Kosten und die zweifelhaften Ergebnisse kam man erst später zu sprechen, als Bilanz gezogen wurde.

Noch vor zwei Jahren sah es so aus, als habe Beirut seine alte politische, kulturelle und touristische Bedeutung für die ganze Region zurückgewonnen. Dies lag vor allem an der Befreiung des Südlibanon von der israelischen Armee, die dem sehr erfolgreichen Druck der Hisbollah weichen musste. Dass der Libanon erneut Schauplatz dramatischer und bedrohlicher Entwicklungen werden würde, ahnte damals niemand. Im Juni 2000 trafen sich die Außenminister der Liga Arabischer Staaten in Beirut, ein Jahr darauf richtete man – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – das Gipfeltreffen der Liga aus. 2002 konferierten die Vertreter der frankophonen Länder in der libanesischen Hauptstadt.

Bei dieser Gelegenheit hielt der französische Staatspräsident eine Rede im libanesischen Parlament. Er machte deutlich, dass Frankreich bis zur endgültigen Regelung des Konflikts zwischen Israel und Palästina den Libanon als Protektorat Syriens betrachtete: „Der Frieden (im Nahen Osten) wird natürlich erst dann umfassend, gerecht und dauerhaft sein, wenn er auch den Libanon und Syrien einbezieht und eine angemessene Lösung des Problems der palästinensischen Flüchtlinge bietet, das ja auch den Libanon betrifft“, erklärte Jacques Chirac. „Diese Position hat Frankreich schon immer vertreten. In diesem Friedensprozess, den wir alle erhoffen, sollten auch Syrien und der Libanon die Gelegenheit erhalten, ihre Beziehungen zu verbessern. Vor allem muss dann der vollständige Rückzug der syrischen Truppen aus ihrem Land erfolgen, so wie es in den Verträgen von Taif festgelegt ist.“4 Rafik Hariri hatte allerdings bereits zu Beginn seiner zweiten Amtszeit als Ministerpräsident im Oktober 2000 in einer politischen Grundsatzerklärung deutlich gemacht, dass die Anwesenheit der syrischen Truppen im Libanon unverzichtbar sei.5

All diese Ereignisse fanden allerdings vor dem Einmarsch der USA in den Irak und ihren Plänen für einen „Greater Middle East“ statt, in dem Ordnung und Demokratie herrschen und der Terrorismus endgültig ausradiert sein soll. In Washington griff man, um dieses Programm zu vermitteln, auf die Vorstellungen und Schlagworte der amerikanischen Diplomatie der frühen 1990er-Jahre zurück, als George Bush senior nach dem ersten Golfkrieg eine neue internationale Ordnung propagiert hatte. Damals hatte auch Schimon Peres ein viel beachtetes Buch mit dem Titel „Der neue Nahe Osten“6 veröffentlicht, das eine Ära des Friedens, des Wohlstands und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aller Staaten in der Region beschwor. Deren Verwirklichung sei nur noch durch ein paar irrationale Kräfte gefährdet, womit natürlich die islamistischen Bewegungen gemeint waren. Solche Vorstellungen klangen damals glaubwürdig. Das lag an dem guten Ruf, den Peres als Unterzeichner der Oslo-Verträge von 1993 genoss, und daran, dass dieses Friedensabkommen mehrere regionale Wirtschaftskonferenzen ermöglicht hatte, an denen Wirtschafts- und Regierungsvertreter aus Israel, den USA, Europa und den arabischen Staaten beteiligt waren: in Casablanca, Amman, Kairo und Doha.

Doch die Fortsetzung der israelischen Siedlungspolitik machte den Oslo-Friedensprozess zu einer leeren Hülle. Nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels im Juli 2000 legte Ariel Scharon die Lunte ans Pulverfass: Sein provokanter „Besuch“ im heiligen Bezirk der Moscheen auf dem Tempelberg in Jerusalem löste die Zweite Intifada aus. Dass die brutale Unterdrückung durch die israelische Armee diese Erhebung immer mehr in eine militärische Auseinandersetzung verwandelte, schien den neuen US-Präsidenten George W. Bush nicht zu stören. Eine Lösung der Palästinafrage hatte für ihn offensichtlich keine Priorität, seine Hauptsorge galt dem Irak. Zu der Überzeugung, dass die Führung in Bagdad eine Gefahr für den Weltfrieden bedeute, war schon die Regierung Clinton gelangt, nachdem die UN-Waffeninspektionen 1998 gescheitert waren.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ging Präsident Bush von der völlig unbelegten Annahme aus, dass Saddam Hussein in die Vorbereitung dieser Attentate verwickelt sei und überdies die Produktion von Massenvernichtungswaffen wieder aufgenommen habe. Das war der Beginn einer Entwicklung, die zur US-Invasion im Irak und ihren weitreichenden Folgen für das politische Gleichgewicht im Nahen Osten geführt hat.7 Nachdem diese Begründungen des Irakkriegs unglaubwürdig geworden waren, verlegte sich die US-Regierung auf eine andere Argumentation: Ihr Bestreben sei es, den Völkern der Region Freiheit und Demokratie zu bringen. Die gewaltsame Befreiung des irakischen Volks von der Zwangsherrschaft Saddam Husseins sollte nur der erste Schritt auf dem Weg einer allgemeinen demokratischen Umgestaltung des Nahen Ostens sein.

Angesichts des bewaffneten Widerstands im Irak machten die USA daraufhin Syrien als Unterstützerland aus. In Damaskus herrscht schließlich noch immer ein baathistisches Regime, das seit der Epoche an der Macht ist, die man nach dem Sturz Saddams beendet glaubt. Als der junge Präsident Baschar al-Assad im Juni 2000, nach dem Tod seines Vater Hafis, dessen Titel und Funktionen übernahm, versprach er Reformen. Doch das syrische Regime tut sich bis heute schwer damit, den Übergang zu liberalen wirtschaftlichen und politischen Prinzipien zu vollziehen, wie es vor ihm die Länder Osteuropas getan haben. Neue politische Freiheiten sind in Damaskus bislang kaum zu erkennen, die wirtschaftliche Liberalisierung beschränkt sich auf die Zulassung privater Banken, die überwiegend in libanesischer Hand sind. Auch die Rolle des privaten Sektors wurde gestärkt, während die Staatsunternehmen und die staatliche Aufsicht über Devisengeschäfte bestehen blieben.

Zweifellos herrscht in Syrien am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr ein Terrorregime, das jede Abweichung blutig unterdrückt. Doch seit dem Einmarsch der USA in den Irak und den Vorwürfen aus Washington sieht sich die Führung in der Defensive – was den Fortgang der Liberalisierung nicht gerade begünstigt. Im Dezember 2003 verabschiedete der US-Kongress den so genannten Syria Accountability Act8 , ein Gesetz, das relativ milde Sanktionen gegen Syrien vorsieht. Immerhin ließ sich dieses Gesetz als Druckmittel benutzen, um Syrien in der Libanonfrage zum Einlenken zu bewegen: Teil der Bestimmungen ist auch die Forderung nach vollständiger Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Libanon.

Das nutzte Präsident Bush, als er am 11. Mai 2004 bei der Unterzeichnung des Gesetzes zugleich neue, deutlich schärfere Wirtschaftssanktionen verfügte. In Paris begrüßte General Aoun diese Maßnahmen, in Washington fanden sie den Beifall einer libanesischen Lobby, die für die Abspaltung der christlichen Landesteile oder die Umwandlung in einen Föderativstaat eintritt. Beide politischen Gruppierungen lobten auch die UN-Resolution 1559 und hoben hervor, dass sie sich bei der US-Regierung immer wieder für die Wiederherstellung der libanesische Souveränität eingesetzt haben.9

Im Libanon hatte sich Walid Dschumblat, lange Zeit ein ergebener Verbündeter Syriens, im Sommer 2000 gegen den syrischen Einfluss gewandt. Dies wurde weithin als taktisches Manöver angesehen, mit dem er im Wahlkampf auch Stimmen aus dem christlichen Lager gewinnen wollte. Tatsächlich schlug der Drusenführer nach den Wahlen deutlich gemäßigtere Töne an. Doch im September sorgte eine gemeinsame Erklärung der maronitischen (christlichen) Bischöfe und ihres Patriarchen für neue Aufregung. Darin machten sie Damaskus für alle Probleme verantwortlich, die den Libanon plagen: für die allgemeine Korruption, für die Verschuldung und die soziale Krise bis hin zur Marginalisierung einiger politischer Kräfte.

Noch erstaunlicher war es, dass erstmals in der Geschichte der christlichen Gemeinschaft im Libanon ein Bischof an einem Treffen der verschiedenen politischen Kräfte teilnahm. Bei dieser so genannten Zusammenkunft von Kornet Chahouan waren die aufgelöste Christenmiliz Forces Libanaises, Gefolgsleute von General Aoun, christliche Parlamentsabgeordnete und Amin Gemayel, der ehemalige Staatspräsident und Führer der rechtsgerichteten christlichen Falangistenmiliz vertreten. Diese Gruppierung verstand sich als harter Kern einer Opposition, die nicht gegen die Regierung unter Rafik Hariri, sondern gegen den prosyrischen Staatspräsidenten und die Regierung in Damaskus antreten wollte. Ihr politisches Programm forderte die Übernahme der Hisbollah-Stellungen im Südlibanon durch die Armee, den Rückzug der syrischen Truppen gemäß den Abkommen von Taif und die Haftentlassung von Samir Geagea, dem einstigen Führer der Forces Libanaises, der seit 1993 wegen einer Reihe von Attentaten einsaß.

Im Jahr 2000, nach dem israelischen Abzug aus dem Südlibanon, hatten die USA und die Mehrheit der europäischen Staaten nachdrücklich gefordert, dass sich auch die libanesische Armee von der Grenze zu Israel zurückzieht. Die Hisbollah müsse ins Zentrum des Landes verlegt und, wenn möglich, entwaffnet werden. Der Westen versprach im Gegenzug Hilfe beim Wiederaufbau der seit 22 Jahren besetzten Gebiete im Südlibanon. Dazu kam es nicht.

Spätestens nach dem Irakkrieg stand diese heikle Frage nicht mehr auf der Tagesordnung, zumal die Drohungen der USA gegen Syrien und die Hisbollah auch im Libanon zu Protesten geführt hatten, denen sich sogar der maronitische Patriarch anschloss. Die politischen Differenzen waren so etwas entschärft.

Der Tod von Rafik Hariri hat eine neue schwere Krise ausgelöst – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Führungen in Beirut und Damaskus gleichermaßen verhandlungsbereit schienen. Dass der Libanon erneut zum Spielball regionaler Machtinteressen geworden ist, hat die alten politischen Reflexe ausgelöst und die alten Dämonen wieder geweckt. Viele Libanesen haben das Gefühl, dass ihnen mit Hariri eine Symbolfigur der Stabilität und des Aufschwungs genommen wurde.

Damaskus hinterlässt ein Vakuum

DIE wiederholten Forderungen von George W. Bush und Jacques Chirac nach Abzug der syrischen Truppen und der sofortigen, vollständigen Umsetzung der UN-Resolution 1559 finden bei vielen im Libanon also durchaus ein offenes Ohr. Das gilt vor allem für die Anhänger von Walid Dschumblat, der inzwischen der unangefochtene Führer der Opposition ist, wie auch für die Familie des ermordeten Ministerpräsidenten und alle Abgeordneten, die seine Partei im Parlament repräsentieren. Angeschlossen haben sich ihnen eine Reihe anderer politischer Gruppierungen und einige Nichtregierungsorganisationen. Vor allem gilt es aber auch für einen Großteil der Studenten, die überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, aus der christlichen Mittelschicht stammen.

Für den US-Präsidenten und einige europäische Führer scheint es allerdings darum zu gehen, im Libanon eine Art „Versuchsfeld“ der Demokratisierung zu etablieren: Nach den Wahlen im Irak und in Palästina, die quasi unter Besatzungsbedingungen stattfanden, nach den Kommunalwahlen in Saudi-Arabien und vor der Präsidentschaftswahl in Ägypten, bei der erstmals mehrere Kandidaten antreten, dürfte es für den Westen interessant sein, bei einer Wahl im Libanon zu testen, wie der beschworene „Hauch von Freiheit“ im Nahen Osten ankommt.

Eine solche Strategie wird weder den komplexen Verhältnissen im Libanon gerecht noch der Rolle, die Syrien nach wie vor in der arabischen Welt spielt. Das Regime in Damaskus hat sich reichlich Feinde gemacht, doch vielen gilt es als das letzte Bollwerk gegen die Vorherrschaft der USA im Nahen Osten und gegen eine Lösung des Palästinakonflikts, die zu Lasten der Palästinenser geht – und übrigens auch zu Lasten Syriens, das seit 1967 die Besetzung der Golanhöhen und deren Annexion (1981) durch Israel hinnehmen muss.

In Zentrallibanon mag die Opposition gegen Syrien mehrheitsfähig sein, doch im Süden, im Norden und in der Bekaa-Ebene trifft sie auf eine Formation so genannter loyalistischer Parteien, die eine Fortsetzung der engen Allianz mit Syrien wünschen. Sie hat schnell in machtvollen Gegendemonstrationen ihren Einfluss gezeigt. Das Oppositionslager wiederum ist keineswegs geschlossen, sondern weist sehr unterschiedliche politische Orientierungen auf. Dabei stehen den gemäßigten Fraktionen einige maximalistische Gruppen gegenüber, die offensichtlich den Sturz des gegenwärtigen Regimes betreiben. Auch waren nicht wenige Mitglieder dieser Opposition bis vor kurzem glühende Verfechter der syrischen Hegemonie oder waren sogar mitverantwortlich für die Massaker und Zwangsumsiedlungen im Zeitraum von 1975 bis 1990.

Der wichtigste und organisierende Faktor im Lager der „Loyalisten“, das verschiedene regierungstreue und prosyrische Parteien umfasst, ist zweifellos die Hisbollah unter ihrem charismatischen Führer Sayyed Hassan Nasrallah. Die „Partei Gottes“ ist nach Ansicht der USA eine terroristische Organisation. Doch aktuell fällt ihr eine Schlüsselposition zu, weil sie die Kräfte bündelt, die eine antiimperialistische und arabisch-nationalistische Tradition repräsentieren.

Seit die Syrer zu Ende April ihren vollständigen Rückzug aus dem Libanon angekündigt haben und nachdem die UN eine Kommission eingesetzt hat, die den Mord an Hariri untersuchen soll, hat sich die Situation etwas beruhigt. Die Opposition schlägt sanftere Töne an, und eine Art „dritte Kraft“ um den allseits geachteten Exministerpräsidenten Selim Hoss versucht, die Wogen zu glätten.

Die Frage ist, ob damit eine tiefere und längere Krise abgewendet ist, unter der die ohnehin fragile Wirtschaft zusammenbrechen würde. Neue Ereignisse auf internationaler Ebene, die das Konfliktpotenzial aktivieren und die alten Agitatoren zu neuer Gewalt anstacheln könnten, sind keineswegs auszuschließen. Der Pufferstaat Libanon spiegelt nach wie vor die politischen Spannungen, die im gesamten arabischen Nahe Osten herrschen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Ehemaliger libanesischer Finanzminister und Autor des Buches: „Orient–Occident, la fracture imaginaire“, Paris (La Découverte) 2005.

Fußnoten: 1 Die USA, Saudi-Arabien und weitere arabische Staaten hatten sich 1989 für das Treffen von Vertretern aller libanesischen Parteien im saudischen Taif eingesetzt. Der dort ausgehandelte Vertrag sah zum einen die Neuverteilung der Macht unter den Führern der libanesischen Religionsgemeinschaften vor, zum anderen den Rückzug der syrischen Truppen aus Beirut in die Bekaa-Ebene innerhalb von zwei Jahren. 2 „Le Liban contemporain. Histoire et société“, Paris (La Découverte) 2003. 3 Weshalb die syrischen Truppen nicht abzogen und die Bestimmungen der Verträge von Taif über die Änderung der Verfassung nicht konsequent umgesetzt wurden, erfährt man aus einem Buch des früheren libanesischen Verteidigungsministers Mansour und aus den Verlautbarungen der beiden Regierungen, die zwischen 1989 und 1992 zur Zeit der Wiedervereinigung des Landes nach dem Ende des Bürgerkriegs amtierten. Albert Mansours Buch „Der Putsch gegen das Abkommen von Taif“, Beirut (Dar al-Jadid) 1993, ist nur auf Arabisch erschienen. Mansour kritisiert vor allem die Machenschaften des damaligen Staatspräsidenten Elias Hraoui, der unter anderem die Übernahme der Regierungsmacht durch Rafik Hariri im Herbst 1992 einfädelte – nach einer geschickt inszenierten Devisenspekulation gegen das libanesische Pfund, die zum Fall der Regierung von Omar Karame führte. Kritisch betrachtet wird auch die Rolle der anderen Mächte in der Region, die Syrien in keiner Weise Einhalt geboten. 4 Zitiert nach L’Orient Le Jour, Beirut, 18. 10. 2002. 5 Einen Abgeordneten der Opposition, der gegen diese Erklärung Einspruch erhob, wies Rafik Hariri heftig zurecht – mit dem Argument, es sei „unrealistisch, Syrien für die Probleme des Libanon verantwortlich zu machen“. Dies sei „nichts als die Wahrheit, denn ohne (Syrien) hätte der Libanon niemals politische Stabilität gewonnen“. Der vollständige Text dieser Debatte wurde am 3. 11. 2000 in der Beiruter Tageszeitung An-Nahar abgedruckt. Diese Grundhaltung hat Hariri bis zu seiner Ermordung nie aufgegeben. 6 Schimon Peres, „Der neue Nahe Osten“, München (Siedler) 1993. 7 Ignacio Ramonet, „Irak, Histoire d’un désastre“, Paris (Galilée) 2005. 8 Das vom US-Kongress am 12. Dezember 2003 verabschiedete Gesetz 108-175 trägt den vollständigen Titel „Syria Accountability and Lebanese Sovereignty Restoration Act of 2003“. 9 Siehe die etwas tendenziöse Berichterstattung der Beiruter Tageszeitung An-Nahar am 3. 2. 2005. 10 Teile der maronitischen Gemeinschaft im Norden des Landes distanzieren sich von der politischen Orientierung ihrer Kirche. Suleiman Frangié, Führer dieser Gruppierung und ein Vertrauter der syrischen Führung, hat kürzlich dem Patriarchen den Vorwurf gemacht, die Meinungsvielfalt innerhalb der Glaubensgemeinschaft nicht genügend zu achten. Eine Reihe renommierter Abgeordneter und bekannter maronitischer Persönlichkeiten weigern sich, die antisyrische Opposition zu unterstützen.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von GEORGES CORM