Ruhe ist verdächtiger als Sturm
Maßgeblich die Geheimdienste bestimmen heute, was als „Terrorismus“ gilt. Sie begründen ein politisches Ereignis mit Verschwörung und halten jede religiöse Aktivität schon für eine potenzielle Umsturzbestrebung. Der sozialen Realität wird eine solche Haltung nicht gerecht – und sie vermeidet auch eine Diskussion darüber, ob die soziale Realität zu Umsturzbestrebungen führen kann.
Von LAURENT BONELLI *
IN der Geschichte des Terrorismus hat eine neue Phase begonnen. Sie ist einerseits weniger regional und national .orientiert, andererseits gekennzeichnet durch einen selbstmörderischen Terrorismus, durch Attentate von Terroristen mit dem Ziel, Zivilisten massiven Schaden zuzufügen. Diese Terroristen gehören Gruppen an, die keinerlei Interesse an Verhandlungen haben.“1 So resümierte die Generaldirektorin des britischen Inlandsgeheimdiensts (MI5), Eliza Manningham-Buller, nach den Attentaten vom 11. September 2001 die politischen Schwierigkeiten, vor die Gruppen wie al-Qaida die westlichen Regierungen und Geheimdienste stellen.
Aber Terrorismusbekämpfung ist ein Resultat vielfältiger Wechselwirkungen zwischen Regierungen, Geheimdiensten und Untergrundgruppen, bei denen alle Beteiligten ihre jeweiligen politischen oder organisatorischen Interessen und ihre Version der „Wahrheit“ durchzusetzen suchen. Der Begriff „Terrorismus“ beschreibt keine allgemein anerkannte, objektive Realität. Die deutsche Wehrmacht bezeichnete damit die französischen Widerstandskämpfer, Russland bezeichnet damit die tschetschenischen Kombattanten. Dagegen nennt sich keine Untergrundgruppe selbst „terroristisch“. Sie versteht sich vielmehr – je nachdem – als „nationale Befreiungsbewegung“ oder als „Avantgarde des Proletariats“, als „Freiheitskämpfer“ oder als „Soldaten des Islam“. Die Etikettierung „Terrorgruppe“ soll also konkreten Bewegungen und ihren Forderungen in bestimmter Hinsicht die Legitimität absprechen.
Von zentraler Bedeutung für den dosierten Einsatz politischer Gewalt auf der Seite der Regierungen sind die Geheimdienste. Ihre Ermittlungs- und Überwachungsarbeit liefert die nötigen Informationen, die es den zuständigen Stellen erlauben, eine Krise und deren Verlauf vorherzusehen, Ansprechpartner auszuwählen und über die Strategien ihrer Gegner im Bilde zu sein. Doch die Geheimdienste beschränken sich keineswegs auf die Informationsbeschaffung für politische Entscheidungen. Sie setzen auch ein breit gefächertes Arsenal an Strategien an: öffentliche Disqualifizierung bestimmter Gruppen, Demoralisierung von Aktivisten, Anheizen gruppeninterner Spannungen bis hin zur moralischen – oder sogar physischen – Vernichtung ihrer Führer.2
Bestimmte Sektionen des französischen Staatsschutzes RG (Renseignements Generaux, etwa: „Allgemeine Aufklärung“), die wie die Abteilung „Manipulation“ mitunter auch außerhalb der Legalität agierten, waren ausschließlich mit solchen Aufgaben betraut. Der spanische Militärgeheimdienst Cesid unterstützte die Antiterroristischen Befreiungsgruppen (GAL), die in Frankreich Ende der 1980er-Jahre baskische Flüchtlinge ermordeten. In Großbritannien beteiligten sich die Geheimdienste an der Vorbereitung von Shoot-to-kill-Aktionen gegen mutmaßliche Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Als teilweise autonome Akteure beeinflussen die Geheimdienste sowohl die Strategien der Untergrundgruppen wie auch das Vorgehen der staatlichen Apparate. Und selbst mit ihrer Routinearbeit – Informationsaufbereitung, Gefahrenanalysen, Prognosen – beeinflussen sie entscheidend das politische Handeln. Sie bestimmen mit, wer als legitimer Gesprächspartner anerkannt wird und wer nicht.
„Risikoprofile“ ignorieren die Ursache des Risikos
BEI aller Vielfalt haben die Geheimdienstmitarbeiter gemeinsam, dass für sie die politischen Kräfteverhältnisse eine zentrale Rolle spielen. Wie alle Vertreter der bestehenden Ordnung neigen auch Geheimdienstler dazu, politische Ereignisse maßgeblich mit „Verschwörungen“ und „Manipulationen“ zu erklären. Das zeigt sich auch in ihrer Wahrnehmung des Gegners. Hinter der kleinsten örtlichen Initiative vermuten sie eine globale politische Strategie; autonom handelnde Gruppen und Einzelpersonen werden für Agenten geheimer Organisationen gehalten. Yves Bertrand, 1992 bis 2004 Leiter der RG, konnte sich das ruhige Verhalten der islamischen Gemeinden in Frankreich nach den Attentaten vom 11. September 2001 nur so erklären: „Merkwürdigerweise hatten die Verantwortlichen der Moscheen und Vereinigungen ihre Truppen fest im Griff; was für uns übrigens kein Grund ist, uns in Sicherheit zu wiegen. Denn das heißt nur […], dass diese Vereine die Gemeinschaft fest im Griff haben.“3 Ruhe ist also schlimmer als der Sturm, weil sie etwas noch Schlimmeres verbirgt. Wo das Verborgene bedeutsamer ist als das Sichtbare, kann die fast einstimmige Verurteilung der Bluttat nur die Besorgnis verstärken, die verstärkte Überwachungsmaßnahmen rechtfertigt.
Die Überwachung der muslimischen Gemeinschaften begann jedoch nicht erst nach den Anschlägen vom 11. September. Die Geheimdienste vieler Auswanderungsländer – insbesondere des Maghreb – nutzten die religiöse Infrastruktur schon immer, um ihre Emigranten zu kontrollieren. Anders lag das Interesse der westlichen Nachrichtendienste an den muslimischen Gemeinschaften nach einer Reihe von internationalen Ereignissen wie der iranischen Revolution von 1979, der Entwicklung im Nahen Osten und vor allem dem Bürgerkrieg in Algerien, der 1991 begann und 1995 in eine weitere Serie von Attentaten mündete. In der Folge konzentrierten sich die RG auf die Aktivitäten bewaffneter islamischer Gruppen vor allem aus Algerien, um sie von Gewalttaten auf französischem Territorium abzuhalten und ihre Logistik zu behindern.
In Großbritannien erklärt sich die Aufmerksamkeit für muslimische Gruppen aus dem Zustrom von pakistanischen Flüchtlingen und Mitgliedern der Muslimbrüder, die aus den britischen Exkolonien vertrieben wurden. Lange Zeit hatten sich die britischen Geheimdienste jedoch auf den Nordirlandkonflikt konzentriert. Noch jüngeren Datums ist der Wandel in Spanien, weil dort bis vor kurzem die Baskenfrage alle geheimdienstlichen Aktionen absorbierte.
Die Anschläge vom 11. September 2001 in Washington und New York und vom 11. März 2004 in Madrid brachten in dieser Hinsicht nachhaltige Änderungen. Massenmassaker an Zivilisten in einem westlichen Land – und das in Friedenszeiten – stellten eine völlig neue Qualität dar. Die für die Attentate verantwortlichen Gruppen stützen sich weder auf eine ethnonationalistische oder klassenbezogene Basis, noch erheben sie politische Forderungen wie frühere Gewalttäter. Dieses Novum lässt sich gegenwärtig an vielen Konflikten beobachten, auch wenn, wie in Palästina oder in Tschetschenien, radikalmuslimische Bewegungen beteiligt sind. Und Organisationen oder Gruppen, die sich auf al-Qaida berufen, suchen gar keine politischen Ansprechpartner wie andere Untergrundgruppen, mit denen die Nachrichtendienste verhandeln konnten; sie präsentieren sich vielmehr als „anonymer und gesichtsloser Feind“4 .
Deshalb versuchen die Geheimdienste, in den muslimischen Gemeinschaften zu ermitteln, wer sich künftig in radikalen Gruppen engagieren könnte. Obgleich sie die Moscheen, Kulturvereine und Predigten weiterhin überwachen, verlegen sie sich vermehrt auf die Erstellung von „Risikoprofilen“. Personen mit Merkmalen wie ausländische Herkunft – insbesondere aus einem muslimischen Land –, relativ hohes Bildungsniveau, Verbindungen mit bestimmten Vereinigungen oder Moscheen, häufige Auslandsaufenthalte, abgebrochene Berufsausbildung und ähnliche Abweichungen erregen fast automatisch die Aufmerksamkeit der Geheimdienste. Gleiches gilt für „Konvertiten“, die ein unauffälliges Leben führen und alle Vorteile eines westlichen Staatsangehörigen genießen, also Bewegungsfreiheit und leichten Zugang zu Behörden.
Die legitime Besorgnis der Regierungen angesichts einer anonymen Gefahr und die Schwierigkeit dieser Geheimdienstaufgaben erklären und legitimieren zugleich die Forderung nach Einschränkung der Grundrechte und nach polizeilichen und justiziellen Sonderbefugnissen.5 In vieler Hinsicht erleben wir damit eine Verschiebung der Balance zwischen der Verdachtslogik der Nachrichtendienste und der Beweislogik der Justiz. Der Tatverdächtige wird wichtiger als der Schuldige. Das frappierendste Beispiel nachrichtendienstlicher Logik ist die Inhaftierung von Personen zur Informationsgewinnung, denen elementare Rechtsgarantien vorenthalten werden, etwa den Gefangenen von Guantánamo Bay.
Doch dieses extreme Beispiel ist kein Einzelfall: In Großbritannien erlaubte der im Dezember 2001 novellierte „Anti-terrorism, Crime and Security Act“ die unbefristete Inhaftierung von mutmaßlichen internationalen Terroristen ohne rechtskräftiges Gerichtsurteil, bis das Gesetz vom Obersten Gericht aufgehoben wurde. In Frankreich ermöglicht die extensive Anwendung der Antiterrorgesetze von 1986, die sich auf „kriminelle Vereinigungen in Verbindung mit einem terroristischen Vorhaben“ beziehen, Festnahmen von verdächtigen Personen, mit dem Ziel, „die Netze zu desorganisieren“. Dass die allermeisten Angeklagten nach bis zu 24-monatiger Präventivhaft vor Gericht freigesprochen werden, fällt dabei nicht ins Gewicht.
Diese Logik des Verdachts erstreckt sich insbesondere in Frankreich auf die muslimischen Gemeinschaften insgesamt. Die Geheimdienstler sehen alles kulturelle Handeln und jede religiöse Aktivität immer schon im Prisma potenzieller Umsturzbestrebungen und verdeckt agierender Organisationen. Aus diesem Grund richten die französischen Dienste ihr besonderes Augenmerk auf muslimische Gruppen, die in dicht bewohnten Vierteln wirken. Der französische Staatsschutz hat sogar ein Schema entwickelt, um die Bildung von Immigrantenghettos zu bewerten, das auf acht Indikatoren beruht: „hohe Anzahl (polygamer) Familien mit Einwanderungshintergrund“, „Netz an Immigrantenvereinen“, „ethnische Geschäfte“, „wachsende Anzahl muslimischer Gotteshäuser“, „Tragen orientalischer und religiöser Kleidung“, „antisemitische und antiwestliche Graffiti“, „Schulklassen für nicht Französisch sprechende Neuankömmlinge“ sowie „tendenzieller Wegzug einheimischer Franzosen“. Daraus spricht eine Vorstellung von republikanischer Integration, die als Auflösung regionaler und kultureller Unterschiede verstanden wird. Was sich diesem Modell zu widersetzen scheint, wird zur Räson gebracht.
Genau hier ist aber äußerte Vorsicht geboten. Religionszugehörigkeit kann sich in unterschiedlichsten Formen darstellen: von einem strikt spirituellen bis zu einem vorwiegend kulturellen Verständnis, mit allen möglichen Zwischenpositionen. Welche Gemeinsamkeiten gibt es schon zwischen einem begeisterten Theologiestudenten und einem sozial benachteiligten Jugendlichen, der sich mit islamischen Versatzstücken eine Identität „zurechtbastelt“, um seine persönliche Würde zurückzuerlangen?6 Worin bestehen die Gemeinsamkeiten zwischen der von manchen religiösen Führern gepredigten Verteufelung des Westens, der Kritik von Ausländervereinen an der israelischen Politik und den radikalen Äußerungen mancher Ghettokids, die „den Frauen“, „den Juden“ oder „dem Westen“ die Schuld an ihrer misslichen Lage in die Schuhe schieben? Die Beweggründe, die Handlungslogik und das soziale Verhalten sind jeweils ganz anderer Natur. Zwar können daraus jeweils nicht hinnehmbare Handlungen und Verhaltensweisen entspringen, und die muss man dann auch bekämpfen – aber eben ohne alles in einen Topf zu werfen.
Den professionellen Angstmachern ist an solcher Differenzierung natürlich nicht gelegen. Während einschlägige Fallstudien über gewaltbereite Individuen immer wieder die Einzigartigkeit ihrer Lebensgeschichte hervorheben,7 erklären Autoren wie Alain Bauer und Xavier Raufer Brandstiftung zum „Attentat geringer Intensität“ und behaupten: „Die Organisation der Logistik eines Terrornetzwerks – ausgehend von diesen rechtsfreien Räumen, in denen es von Kriegswaffen nur so wimmelt und zu denen die Ordnungskräfte keinen Zugang mehr haben – ist im strengen Wortsinn ein Kinderspiel.“8
Das Starren auf die Herkunftsgemeinschaft dient im Übrigen vielleicht nur der Entlastung von der Verantwortung für die verheerenden Auswirkungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den letzten zwanzig Jahren. So war 2004 ein Drittel der 20- bis 29-Jährigen in den „Zonen urbaner Sensibilität“9 arbeitslos oder unbeschäftigt, während der Landesdurchschnitt bei 12 Prozent lag. Einerseits ist der Islam durch die Immigranten stark in den westlichen Gesellschaften präsent, andererseits besitzt er eine transnationale Dimension, die sich wunderbar zum Schreckgespenst von ausländischer Manipulation eignet.10 Unterstützt wird eine solche Version durch manche religiösen Gruppen, die ebenfalls ein Interesse an Polarisierung haben. Der einen wie der anderen Seite mag es nicht gefallen, aber Immigrant ist kein Synonym für Muslim, Muslim kein Synonym für islamistischen Aktivismus.
deutsch von Bodo Schulze
* Politologe an der Universität Paris-X-Nanterre.