Alle Augen schauen auf Frankreich
Das vereinigte Europa soll eine Verfassung bekommen, die 50 Jahre hält. Doch eine länderübergreifende Diskussion ist nicht in Sicht, geschweige denn eine gemeinsame Feier. Die Abstimmungsprozesse unterscheiden sich von Land zu Land und ziehen sich über fast zwei Jahre hin. Aber in Frankreich wird intensiv debattiert, und hier könnte der Ratifizierungsprozess kippen.
Von BERNARD CASSEN
DER am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ wird in der Geschichte der europäischen Einigung gewiss einen besonderen Platz einnehmen. Wenn er von den 25 Mitgliedstaaten ratifiziert ist, wird er ökonomisch, sozial und in gewissem Maße auch politisch den Rahmen des „Zusammenlebens“ von rund 450 Millionen Einwohnern des Alten Kontinents abstecken. Wie immer man den Vertrag bewerten mag – und er wurde in dieser Zeitung außerordentlich kritisch kommentiert1 –, wird man seine Bedeutung nicht unterschätzen dürfen. Und dies schon aufgrund seiner voraussichtlichen Lebenserwartung, die von Valéry Giscard d’Estaing, unter dessen Federführung als Konventspräsident der erste Entwurf entstanden ist, auf 50 Jahre veranschlagt wurde.
In jedem anderen geschichtlichen Kontext hätte ein solch grundlegender, konstituierender Akt – dessen Resultat nicht von ungefähr als „Verfassung“ bezeichnet wird – dazu geführt, dass die betroffenen Völker sich dieses Dokument in einem gemeinsamen Prozess aneignen, dass es breite Diskussionen auslöst und Emotionen weckt oder gar zum gemeinsamen Feiern einlädt. Doch auf der gesamteuropäischen Ebene, auf der dieser Text schließlich zur Anwendung kommt, hat er überhaupt keine wirkliche Diskussion inspiriert.
Für das mehr oder minder große Interesse, für Befürwortung oder Ablehnung dieses Vertrags gibt es in der Öffentlichkeit der verschiedenen EU-Länder ganz unterschiedliche, ja widersprüchliche Gründe. Immer tiefer wird der Graben zwischen dem Gefüge gemeinsamer Institutionen der 25, in dem sich die politischen, administrativen und intellektuellen Eliten wie zu Hause fühlen, und der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten. Den Menschen geht nicht nur das Gefühl ab, im „selben europäischen Boot“ zu sitzen, sie nehmen „Europa“ oder „Brüssel“ häufig sogar als rein äußerliches, ja feindliches Gebilde wahr.
Ein sich über zwei Jahre erstreckender Ratifizierungskalender – Litauen unterschrieb bereits am 11. November 2004, Großbritannien will erst im Herbst 2006 abstimmen lassen – wird von ganz unterschiedlichen Verfahren bestimmt: von parlamentarischen Abstimmungen, konsultativen Volksbefragungen und mehreren Referenden. Das alles ist nicht dazu angetan, den „verfassunggebenden“ Prozess durchsichtig zu machen. In den meisten Ländern, in denen die Parlamente den Vertrag mit überwältigender Mehrheit bereits ratifiziert haben (in Litauen, Ungarn, Slowenien) oder in Bälde zustimmen werden (ein rundes Dutzend), war und ist von einer Europadebatte nichts zu spüren.
In einigen der 15 Altmitgliedsländer ist das Bekenntnis zu Europa unter der Last der Geschichte fast zwingend. In vielen Regierungsparteien und einem Großteil der Eliten sind Zweifel an und Fragen zu Europa – also auch zur Verfassung – schlicht tabu. In Deutschland, das über die europäische Einigung wieder Anschluss an die demokratischen Nationen gefunden hat, sind die Folgen des Zweiten Weltkriegs noch immer als Vereinigungslasten spürbar. Ähnliches gilt für Italien und für Finnland.
Auch in Griechenland, Spanien und Portugal ist die Unionszugehörigkeit zu einem zentralen Moment der nationalen Identität geworden, weil man sie mit dem Ende der diktatorischen Verhältnisse assoziiert – und mit reichlichen Geldzuflüssen aus den einschlägigen EU-Fonds. In diesen Ländern ist die Ratifizierung eines Vertrags, der für „Europa“ stehen soll, den aber kaum jemand gelesen hat, daher eine bloße Formalität, ob sie auf parlamentarischem Wege erfolgt wie in Griechenland oder per Referendum, wie es in Spanien am 20. Februar geschehen oder in Portugal im Dezember 2005 zu erwarten ist.
Abgesehen von Spanien, Portugal, Luxemburg (voraussichtliche Abstimmung am 10. Juli 2005) und vielleicht den Niederlanden (1. Juni 2005) werden die Referenden sorgfältig vorbereitet, denn in den anderen ist ein positives Abstimmungsergebnis keineswegs garantiert. Aus demselben Grund hat man in Schweden und Belgien, wo ursprünglich ebenfalls ein Referendum vorgesehen war, die Verabschiedung ins Parlament verlegt. In Schweden wollte die sozialdemokratische Regierung unter Göran Persson nicht erneut das Risiko einer Volksbefragung eingehen. Im September 2003 hatte sich die Bevölkerung bereits gegen den Beitritt zur Eurozone ausgesprochen, obwohl damals fast alle Parteien dafür eintraten. Der Ministerpräsident sieht auf der Linken wie auf der Rechten die Euroskepsis wachsen, die sich schon bei den Europawahlen 2004 im Erfolg der „Juni-Liste“ mit 14,4 Prozent EU-feindlichen Stimmen ausdrückte.
Genährt wird die Skepsis der schwedischen Bürger auch von der Befürchtung, der Unionsbeitritt der baltischen Länder werde zu einem verstärkten Sozialdumping führen. Diese Gefahr rührt vor allem von der so genannten Bolkestein-Richtlinie zur Freiheit von Dienstleistungen her. Von der hat man in Schweden bereits einen Vorgeschmack bekommen, als lettische Unternehmen den Auftrag für den Bau einer Schule bekamen, der allerdings derzeit noch blockiert ist. Dabei würden die lettischen Arbeiter zu Konditionen arbeiten, die den schwedischen Flächentarifvertrag unterlaufen. Angesichts dieses Konflikts wäre der Ausgang der Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag, der den „freien, unverfälschten Wettbewerb“ zur obersten Norm erhebt und jede Harmonisierung der Sozial- und Steuernormen ablehnt, trotz gewerkschaftlicher Unterstützung alles andere als gewiss gewesen.
Auch in Belgien wollte sich die Regierungsmehrheit ein negatives Abstimmungsergebnis ersparen, auch wenn das Referendum nur konsultativen Charakter haben sollte. Überdies hätte man dafür die Verfassung ändern müssen. Die Sozialistische Partei (PS) und die Ecolo-Grünen sprachen sich wie die französischen Sozialisten und Grünen für ein „kämpferisches Ja“ aus. Ihre Gegner formulierten ein „kämpferisches Nein“; zu den Unterzeichnern ihrer Kampagne gehörten George Debunne, Altpräsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und der PS-nahen Fédération générale des travailleurs de Belgique (FGTB), der ehemalige Vizepräsident der sozialistischen Fraktion im Europaparlament, Jean-Maurice Dehousse, sowie einige Ecolo-Abgeordnete und Attac-Vertreter. Aus gänzlich anderen Gründen – und ähnlich wie in Frankreich – lehnen in Belgien auch die Rechtsradikalen vom Vlaams Belang den Verfassungsvertrag ab.
In zwei Ländern – in der Tschechischen Republik und in Polen – ist die Lage genau umgekehrt. Dort birgt ein Referendum über die Ratifizierung weniger Risiken als eine parlamentarische Abstimmung. Die Prager Regierung verfügt im Parlament nicht über die erforderliche Mehrheit von 60 Prozent, weil der Vertrag sowohl bei den Konservativen der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) als auch bei den Kommunisten und bei Staatspräsident Václav Klaus auf Ablehnung stößt. Deshalb wurde für Juni 2006 ein Referendum angesetzt. Ebenso in Polen, wo in beiden Parlamentskammern zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen müssten: Hier soll die Volksbefragung zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen Ende 2005 stattfinden. Angesichts der Enttäuschung der tschechischen und der polnischen Öffentlichkeit über das „reiche“ und als egoistisch geltende Europa hielten es die Regierungen beider Länder für dringend geboten, nichts zu überstürzen und namentlich den Ausgang des französischen Referendums am 29. Mai abzuwarten.
In ganz Europa herrscht das Gefühl, dass das Schicksal des Vertrags weitgehend in Paris entschieden wird. Es wird also von der Abstimmung der französischen Bürger abhängen, wie die Referenden in den Niederlanden (am 1. Juni) und in zwei weiteren Ländern ausgehen werden, die in der Vergangenheit schon einmal Nein gesagt haben. In Dänemark, wo die Abstimmung für den 27. September 2005 angesetzt ist, hatten sich die Bürger 1992 gegen den Vertrag von Maastricht ausgesprochen. In Irland, wo der Termin noch nicht genau feststeht, hatten sie den Vertrag von Nizza nicht ratifiziert. Damals wurde in beiden Ländern eine weitere Volksbefragung durchgeführt, um den „Schnitzer“ auszubügeln, in Dänemark unter Verweis auf einige Vertragsänderungen in Sachen Euro, Verteidigung, Justiz und Polizei. Nun aber haben beide Regierungen alle nötigen Vorkehrungen getroffen, damit eine solche Pleite nicht noch einmal passiert.
In beiden Ländern sprechen sich fast alle Parteien für die Vertragsratifizierung aus, in Dänemark auch die Linkssozialistische Partei, die bislang sogar gegen die Unionszugehörigkeit des Königreichs war, ihre Position nach einer Mitgliederbefragung aber korrigiert hat. In der Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, dass die Öffentlichkeit nicht immer so entscheidet, wie es die Eliten vorgeben.
Frankreich spielt bei den Kampagnen zur Ratifizierung der EU-Verfassung eine Sonderrolle. Es ist mit Belgien das einzige Land, in dem die „Verfassung“ Artikel für Artikel „auseinander genommen“ wurde. Im Zentrum der Kontroverse stand hier der Kernbereich des Vertragswerks – die neoliberale Programmatik. Die Verfassungsbefürworter – die Parteiführungen der Sozialistischen Partei (PS), der Grünen, der Union für die französische Demokratie (UDF) und der Union für eine Volksbewegung (UMP) – mussten sich also wohl oder übel auf dieses Terrain begeben.2
Dabei versuchen sie, egal ob sie sich zur Linken, zur Mitte oder zur Rechten zählen, immer wieder und mit bislang mäßigem Erfolg, plausibel zu machen, dass die „Verfassung“ keineswegs ultraliberal gestrickt sei. Sie schütze die sozialen Rechte und die öffentlichen Versorgungseinrichtungen, sie verhindere weitere Bolkestein-Richtlinien und stärke die Autonomie der EU gegenüber den Vereinigten Staaten. All dies sind Behauptungen, die bei französischen Beobachtern wie bei den meisten Regierungen des Auslands großes Erstaunen oder auch lautes Gelächter auslösen. Das Verwirrspiel geht inzwischen schon so weit, dass das liberale britische Wirtschaftsmagazin The Economist3 Jacques Chirac unter den Staats- und Regierungschefs Europas am äußersten Rand des linken Spektrums verortet.
Konsequenter sind da schon Tony Blair und sein Außenminister Jack Straw. Sie feiern den Vertrag mit genau den entgegengesetzten Argumenten: Er organisiere die soziale Deregulierung und Flexibilisierung, setze in allen Bereichen auf Wettbewerb und freie Marktwirtschaft und verankere die Union fest in der atlantischen Partnerschaft. Die nationalen und europäischen Arbeitgeberverbände halten sich zwar bedeckt, können aber nicht verhehlen, wie wohlwollend sie über ein Vertragswerk denken, das ihre Hauptforderungen erfüllt. Auch die EU-Kommission unter Vorsitz von José Barroso, der sich als strammer Liberaler und Atlantiker geoutet hat, rührt unentwegt die Werbetrommel für eine „Verfassung“, die voll ihrer Philosophie entspricht.
Tony Blair wäre über ein „non“ erleichtert
ALLE Blicke richten sich auf Frankreich, seit ein Nein beim Referendum nicht mehr auszuschließen ist. Beunruhigt zeigen sich vor allem die anderen EU-Regierungen, die es nicht gern sehen, dass ein Vertrag, dessen Inhalt den eigenen Bürgern so gut wie unbekannt ist, ins öffentliche Rampenlicht gerät. Einige tun daher alles, um dem französischen Partner unter die Arme zu greifen, und gehen mit „gutem Beispiel“ voran: Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero legte das spanische Referendum auf den 29. Februar, Bundeskanzler Schröder lässt den Bundestag zwei Wochen vor dem französischen Volksentscheid abstimmen.
Nach Frankreich blicken auch die Verfassungsskeptiker in den vielen Ländern, in denen der bleierne Konsens der Eliten jede öffentliche Diskussion blockiert und die neoliberale Programmatik der Verfassung bewusst ausgeblendet wird. Diese „anderen Europäer“ erwarten von einem französischen Nein am 29. Mai eine Atempause, nach der erneut eine europaweite Debatte über alternative Wege der europäischen Einigung in Gang kommen kann. Sie hoffen dabei auf den französischen Wähler und sind sich in dieser Hinsicht ausnahmsweise mit Tony Blair einig. Denn der britische Premierminister sähe es nicht ungern, wenn eines der EU-Länder – am liebsten Frankreich – den Ratifizierungsprozess unterbrechen würde. Damit bliebe ihm nämlich das in Großbritannien für Ende 2006 angesetzte Referendum erspart, das er nach einhelliger Auffassung der Meinungsforscher nur verlieren kann.
deutsch von Bodo Schulze