15.04.2005

Das Ende der Großzügigkeit

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Das Ende der Großzügigkeit

Vom Beitritt zur Europäischen Union, den alle zehn neuen Mitgliedstaaten per Volksabstimmung vollzogen, profitieren große Teile der Bevölkerung nicht. Im Gegenteil: Die EU-Fonds, die den wirtschaftlichen Anschluss der Neuen an das „alte“ Europa garantieren sollten, schrumpfen. Gleichzeitig müssen die Regierungen sparen, und die soziale Lage verschlechtert sich. Verweigerung macht sich breit.

Von CATHERINE SAMARY *

LITAUEN und Ungarn waren die ersten beiden Länder, die 2004 den Vertrag über die Europäische Verfassung ratifizierten. Sie ließen darüber jedoch nicht in einer Volksbefragung abstimmen, sondern – wie in fast allen neuen EU-Ländern vorgesehen – vom Parlament.1 Nur Polen will ein Referendum durchführen, dessen Ausgang jedoch so unsicher erscheint, dass es auf Juni 2006 verschoben wurde.

Welch ein Unterschied zu der Stimmung bei der EU-Osterweiterung im Jahre 2003! Damals war die Bevölkerung in allen Kandidatenländern aufgerufen, den EU-Beitritt zu ratifizieren. Zwischen 65 und 93 Prozent der Wähler stimmten der Mitgliedschaft zu, allerdings bei einer Beteiligung von durchschnittlich nur etwa 50 Prozent.2 Das Abstimmungsergebnis erklärt sich wohl aus der Überlegung, dass nichts schlimmer sei, als nicht zur EU zu gehören. An die Unionsmitgliedschaft war die Hoffnung geknüpft, man werde sich aus der subalternen Stellung eines riesigen peripheren Markts befreien und den politisch gesicherten Status eines EU-Mitglieds erlangen. Der Beitritt eröffnete überdies die Aussicht, innerhalb der europäischen Institutionen ein im Vergleich zum eher geringen wirtschaftlichen Gewicht übermäßiges Stimmrecht zu erhalten.3 Hinzu kam die Erwartung, dass die unionsinternen Ungleichgewichte mit der Zeit durch Umverteilung überwunden würden.

Nach dem EU-Beitritt von Griechenland im Jahre 1981 und von Spanien und Portugal fünf Jahre später ging die Union zu Recht davon aus, dass freier Wettbewerb zwischen ungleichen Marktteilnehmern den Abstand zwischen ihnen weiter vergrößert. Die mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 aufgewerteten Fonds kommen Regionen zugute, die mit Umstrukturierungsproblemen zu kämpfen haben und mit ihrem Pro-Kopf-Einkommen 25 Prozent unter dem Durchschnitt liegen. Die dafür frei gemachten EU-Haushaltsmittel verdoppelten sich zwischen 1987 und 1992 von 7,2 Milliarden auf 14,5 Milliarden Ecu – eine Gesamtsumme in der Größenordnung des Marshallplans4 – und wurden 1993 noch einmal um die Hälfte aufgestockt. 1992 richtete die EU zusätzlich noch einen „Kohäsionsfonds“ ein, von dem die Mitgliedsstaaten profitieren, deren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf unter 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. Diese so genannten Kohäsionsländer waren damals nur Griechenland, Spanien, Portugal und Irland. Obwohl der EU-Haushalt für den Zeitraum 2000 bis 2006 – jährlich 90 bis 100 Milliarden Euro – auf maximal 1,24 Prozent des EU-BIP begrenzt wurde und obwohl die bisherige Bilanz mehr als durchwachsen ausfällt, orientierten sich die Programme immerhin an der Logik öffentlicher Hilfe und waren für die ärmsten Regionen von erheblicher Bedeutung: 50 Prozent der Ausgaben entfallen auf die Agrar-, 30 Prozent auf die Strukturpolitik.

Prinzipiell haben auch alle Neumitglieder Anspruch auf Zahlungen aus den Gemeinschaftsfonds. Sie konnten sich daher begründete Hoffnung auf finanzielle Mittel aus diesen EU-Töpfen machen. Nach der Ausgabenplanung für den Zeitraum 2007 bis 2013, in dem auch die beiden neuen und noch ärmeren Beitrittsländer Rumänien und Bulgarien integriert werden müssen, soll der EU-Haushalt jedoch 1 Prozent des EU-Bruttosozialprodukts nicht überschreiten.

Um den kleiner werdenden Kuchen unter mehr Anspruchsberechtigten zu verteilen, kann man auf dreierlei Weise verfahren. Man kann erstens die Mittel vom Süden auf den Osten umschichten. Man kann zweitens dem Osten von vornherein weniger anbieten als den Altmitgliedern (so erhält zum Beispiel ein polnischer Bauer nur ein Viertel der Agrarbeihilfen, die ein französischer Bauer bezieht). Und man kann drittens für alle die Hilfen bis 2013 kürzen. Der Grund für diese Begrenzung der Ausgleichszahlungen ist einfach: Die großen Nettozahler der Union – allen voran Deutschland und Frankreich – setzen inzwischen auf die Konkurrenzlogik eines großen Markts, die nicht mehr durch das Gemeinschaftsbudget abgefedert wird. Was das bedeutet, wird durch einen Vergleich klar: Während Deutschland in den zehn Jahren seit 1991 durchschnittlich je 70 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer gepumpt hat, um den sozialen Schock der Wiedervereinigung abzufangen, ist die Union nicht bereit, die osteuropäischen Neumitglieder durch ähnliche Integrationsmaßnahmen zu unterstützen.

Und dabei geht es nicht nur um die Haushaltspolitik. Die Europäische Verfassung schließt eine sozialpolitische Harmonisierung auf einem hohen Sicherungsniveau und die Bereitstellung der hierfür nötigen öffentlichen Gelder explizit aus. Sie schreibt als allgemeine Regel fest, dass es einen freien „Wettbewerb zwischen Ungleichen“ geben müsse, der durch öffentliche Beihilfen nicht „verfälscht“ werden darf, „soweit in der Verfassung nicht etwas anderes bestimmt ist“. So steht es in Artikel III-167 Absatz 1.

Da die deutschen Transferzahlungen an die neuen Bundesländer eindeutig und massiv gegen diese „Regel“ verstoßen, wurden sie als Ausnahme eigens in die Verfassung aufgenommen. Entsprechend heißt es in Artikel III-167 Absatz 2c, mit dem Binnenmarkt vereinbar seien „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind“. Die Ausnahmeregelung ist zeitlich begrenzt, aber langfristig angelegt: „Der Rat kann fünf Jahre nach dem In-Kraft-Treten des Vertrags über eine Verfassung für Europa auf Vorschlag der Kommission einen Europäischen Beschluss erlassen, mit dem dieser Buchstabe aufgehoben wird.“

Von solchen Ausnahmeregelungen können die osteuropäischen Neumitglieder nur träumen. Die Gesamtnettozahlungen an die Neumitglieder in Höhe von 25 Milliarden Euro für den Zeitraum 2004 bis 2006 liegen weit unter den alljährlichen Beihilfen, die den Ex-DDR-Ländern seit 1989 zugute kommen. Gewiss, mit dem Binnenmarkt vereinbar sind auch Subventionen auf nationaler Ebene „zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten, in denen der Lebensstandard außergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht“. Doch das begründet keineswegs einen Anspruch auf solche Beihilfen, für die im Übrigen keine präzisen Kriterien genannt werden. Überdies ermächtigt Artikel III-168 Absatz 3 die Kommission, schon vor Einführung eines Subventionsprogramms die Auffassung zu äußern, „dass ein derartiges Vorhaben … mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ ist. In diesem Fall muss das Vorhaben auf Eis gelegt werden, bis die Kommission ein in Absatz 2 dieses Artikels vorgesehenes Überprüfungsverfahren abgeschlossen hat.

In der Realität sind angesichts dessen die Auslandsdirektinvestitionen innerhalb der EU für die Beitrittsländer die wichtigste Finanzierungsquelle. Da die profitabelsten Privatisierungen bereits abgeschlossen sind, können sie entsprechende Anreize nur noch durch niedrige Lohnkosten und die Senkung der Unternehmensteuern bieten.5 Parallel dazu sollen die Mehrwertsteuersätze an die EU-Vorgaben angepasst werden und – von einigen Ausnahmen abgesehen – für zuvor noch staatlich subventionierte Produkte steigen. Schließlich müssen die Einnahmeverluste infolge der sinkenden Unternehmensteuern irgendwie ausgeglichen werden. Die Bürger der Beitrittsländer sehen sich also von zwei Seiten in die Zange genommen: Auf der einen Seite wächst die Steuerbelastung, auf der anderen sinken die Sozialleistungen, um die Staatsverschuldung in den Grenzen der EU-Kriterien zu halten.

Und dennoch wurde der EU-Beitritt als krönender Abschluss einer Erfolgsgeschichte präsentiert. Nach allgemeinen Produktionseinbrüchen von 13 bis 50 Prozent zog das Wirtschaftswachstum wieder an, 1993 zunächst in Polen, wenig später auch in den übrigen Staaten Mittelosteuropas. Von „schöpferischer Zerstörung“ der bankrotten Ökonomie und „aufholender Entwicklung“ war die Rede, als in den letzten Jahren die regionale Wachstumsrate der neuen EU-Staaten die der alten fünfzehn übertraf. Einige der Länder haben aber noch immer nicht wieder das Produktionsniveau von 1989 erreicht. Vor allem aber sagt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß des „Aufholens“ nichts über die Art des Wachstums und die daraus resultierende Einkommensverteilung aus.

Die offiziellen Angaben verdecken den Preisanstieg bei Strom, Mieten und öffentlichen Verkehrsmitteln, die Folgen der Privatisierung öffentlicher Versorgungseinrichtungen – deren Leistungen früher nichts kosteten und zahlreiche Arbeitsplätze sicherten –, sowie die abermalige Verteuerung vieler landwirtschaftlicher Erzeugnisse aufgrund der Gemeinsamen Agrarpolitik – eine Entwicklung, die die verarmten Schichten besonders hart trifft. Das Wachstum ist von kapitalschwachen Kleinunternehmen und Auslandsdirektinvestitionen getragen, die kurz vor dem EU-Beitritt ins Land strömten und sich vor allem in den Großstädten und Grenzregionen konzentrieren. Der Beschäftigungsabbau infolge der Privatisierung staatlicher Unternehmen konnte dadurch aber nicht aufgefangen werden. Die Arbeitslosigkeit, die etwa in Polen knapp 20 Prozent beträgt, nimmt daher ebenso zu wie die prekäre Beschäftigung und eine regional wie sozial ungleiche Entwicklung. Besonders betroffen sind hiervon die Frauen, was sich unter anderem darin zeigt, dass Prostitution und Schwarzarbeit, aber auch landwirtschaftliche Eigenarbeit etwa zur Aufstockung der Rente oder des Arbeitslosengeldes deutlich zunehmen.

Großzügigkeit und soziale Gerechtigkeit sind also jenseits von großen Reden nicht mehr angesagt. Angesichts dessen musste man eine „große Geste“ ersinnen, die nichts kostet und nichts bringt. Damit sollte das Ereignis gewürdigt werden, das fälschlich „Wiedervereinigung Europas“ genannt wird. Deshalb hat man es den Bürgern der neuen Mitgliedsstaaten durch den Beitritt zum 1. Mai 2004 ermöglicht, schon einen Monat später bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni mitzustimmen.

Aber diese Großzügigkeit hatte fatale Folgen. Bei diesen Wahlen fielen fast überall die Regierungsparteien hinter Gruppierungen zurück, die der Union reserviert gegenüberstehen oder die Mitgliedschaft rundweg ablehnen. In Polen, wo 70 Prozent der Bevölkerung gegen den Irakkrieg waren, verhinderte nicht einmal die Zusage, die Truppen aus dem Irak abzuziehen, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf strikte Ablehnung stieß. Der große Gewinner der Wahlen waren jedoch die Nichtwähler, denn die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag in den Ländern Mittelosteuropas bei nur 30 Prozent. Diese hohe Stimmenthaltung erklärt sich vor allem daraus, dass viele Wahlberechtigte sich überfordert fühlten, weil sie einerseits den harten Abbau des realsozialistischen Staatsinterventionismus fürchteten, andererseits aber auch den EU-Beitritt als unausweichlich empfanden.6

In der Folge dieser Wahlen, die den „demokratischen Übergang“ im Osten abschließen sollten, sahen sich die Ministerpräsidenten von Polen, Tschechien und Ungarn innerhalb weniger Wochen zum Rücktritt gezwungen – statt als Helden gefeiert zu werden.7 Vielleicht ist dies der Beginn einer Entwicklung, wie sie Jacques Rupnik voraussagt: eine „allzu frühe Desillusionierung über die Europäische Union und die politischen Kräften, die sich mit ihr identifiziert haben“.

deutsch von Bodo Schulze

* Hochschulassistentin an der Universität Paris-Dauphiné, Mitarbeiterin des Institut d’Études Européennes.

Fußnoten: 1 Dies gilt für Slowenien, die Slowakei, Tschechien, Litauen und Estland sowie für Zypern und Malta. 2 Siehe Catherine Samary, „Sechs Monate vor dem EU-Beitritt. Das alte Europa im neuen“, Le Monde diplomatique, November 2003. 3 Die Bevölkerungszahl, nicht die Wirtschaftsleistung eines Landes bestimmt die Stimmgewichtung, was eine Überrepräsentanz der ökonomisch schwächeren Staaten bedeutet. 4 Alain Buzelay, „Intégration et désintégration européenne“, Paris (Economica) 1996. Im Zuge des Marshallplans für Europa flossen ab 1947 US-Hilfsgelder in Höhe von 13 Milliarden Dollar nach Westeuropa. Die „Volksdemokratien“ Osteuropas lehnten die Hilfe ab. 5 Die Unternehmensteuern sanken in den meisten Beitrittsländern um mehrere Prozentpunkte. Revue Elargissement 66, 7. Juni 2004, www.dree.org/elargissement. 6 Catherine Samary, „Der Wandel in Osteuropa und die Totgewichte der alten Gesellschaften“, Le Monde diplomatique, November 1999. 7 Jacques Rupnik, „Europe centrale: lendemains de fête et nouveaux voisinages“, Les Études du CERI 111, Paris, Dezember 2004.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von CATHERINE SAMARY