10.02.2012

Tunesiens traurige Blogger

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Tunesiens traurige Blogger

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Die arabischen Revolten haben die Figur des Cyberaktivisten hervorgebracht, der die Lebensumstände der Bevölkerung und das daraus entstandene Gefühl der Ungerechtigkeit dokumentiert. Diese jungen Leute stammen zumeist aus wohlhabenden städtischen Elternhäusern, haben keinerlei Erfahrung als politische Aktivisten und bezeichnen ihr Engagement gern als unpolitisch. Doch die Repression der Regime hat sie geeint. „Zur Zeit Ben Alis“, schreibt der tunesische Blogger Hamadi Kaloutcha1 , „waren wir 100 oder 200 Cyberdissidenten – allein gegen alle. Die Netzpolizei versuchte alles, um unsere Glaubwürdigkeit zu untergraben. Letztlich hat uns diese Bedrohung sehr geholfen: Sie hat uns dazu genötigt, unsere Entschlossenheit unter Beweis zu stellen.“

Trotz mancher Gemeinsamkeiten zwischen den Cyberaktivisten im Maghreb hängt ihr Selbstverständnis stark vom jeweiligen nationalen Kontext ab. In Marokko sind die bekanntesten Blogger Journalisten oder Ingenieure. In Tunesien kommen sie dagegen eher aus der Kunst- und Kulturszene.

Die Begeisterung der ausländischen Kommentatoren für die „Facebook-Revolution“ in Tunesien hilft allerdings wenig, um zu verstehen, wie der Elan der dortigen Blogger in Enttäuschung umschlagen konnte. Manichaeus, ein Blogger der ersten Stunde, der seine Aktivitäten im Dezember 2010 eingestellt hat,2 fasst die gegenwärtige Stimmung unter den Bloggern zusammen: „Sie sind in Trauer.“ Durch das Internet ist ihnen klargeworden, dass sie das Regime nicht länger ertragen wollten und dass sie es öffentlich kritisieren konnten.

All diese jungen Leute betonen die Vorreiterrolle von Tunezine. Das oppositionelle Onlineportal war 2001 von dem Ökonomen Zouhair Yahyaoui gegründet worden, der später zum ersten „Märtyrer“ der Cyberaktivisten wurde.3 In das Universum des Internets einzutauchen, eröffnete jungen Leuten die Möglichkeit, eine kritische Distanz sowohl gegenüber dem System als auch gegenüber der tunesischen Gesellschaft insgesamt aufzubauen. Die literarisch ambitionierten Blogger taten sich als Chronisten des tunesischen Alltags hervor, schilderten den wachsenden Unmut und das Leid ihrer Landsleute – und setzten sich damit Zensur und polizeilicher Einschüchterung aus. Manche wurden sogar verhaftet, wie zum Beispiel Fatma Arabicca, deren Festnahme 2009 eine landes- und weltweite Protestwelle auslöste, die schließlich zu ihrer Freilassung führte.4

Seitdem zog vor allem Amar 404 den Spott der tunesischen Bloggerszene auf sich. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich eine imaginäre Person, die mit der Meldung „Fehler 404“ den Nutzern anzeigt, dass sie keinen Zugang zu einer bestimmten Website haben. Als die tunesische Zensur im Frühjahr 2010 auch die Facebook-Nutzer ins Visier nahm, erreichte das Engagement der Cyberaktivisten eine neue Stufe. Mehr als 10 000 Menschen unterschrieben eine Onlinepetition. Daraufhin beschlossen einige Blogger, einen offiziellen Antrag für eine Demonstration am 22. Mai zu stellen, um gegen die Zensur zu protestieren – für die damaligen Verhältnisse eine unglaublich mutige Aktion. An besagtem Tag war die Polizei schnell zur Stelle, und die Cyberaktivisten mussten abziehen. Doch gleichzeitig luden sie alle Bürger ein, sich in weißen T-Shirts auf der Avenue Habib Bourguiba zu versammeln (der Hauptstraße im Zentrum von Tunis). Yassine Ayari5 , einer der Initiatoren, beschreibt diesen Moment als einen „Wendepunkt“.

Alle erzählen aufgeregt, wie sie im Dezember 2010 die Bilder der Polizisten, die mit scharfer Munition auf die jungen Demonstranten schossen, im Netz gesehen und weiterverbreitet haben. Sie fühlten sich damals als Träger einer landesweiten Welle der Solidarität und Begeisterung, die sie auf die Straßen trieb und nächtelang vor dem Computerbildschirm wach hielt, um die Bilder der Demonstrationen und Polizeiübergriffe zu verbreiten.

Rückblickend erscheint diese kollektive Bewährungsprobe wie der Einigungsmoment einer Gemeinschaft, die sich bald wieder auflösen sollte. Die Flucht Ben Alis feierte man zwar in großer Einigkeit, doch mit dem Sturz des Diktators kamen die inneren Spaltungen wieder stärker zum Vorschein. Nachdem der gemeinsame Feind verschwunden war, wurden die Cyberaktivisten zu politischen Konkurrenten. Ihre Beziehungen wurden untergraben von Rivalität, Argwohn und Diffamierung.

„Die Trennlinien sind unscharf geworden; man weiß nicht mehr, wer wessen Gegner ist“, vertraut uns Lina Ben Mhenni an, eine der im Westen bekanntesten Bloggerinnen.6 „Wir sind jetzt gesplittet. Manche Blogger unterstützen sich gegenseitig, andere eben nicht.“ Hamadi Kaloutcha ist ebenfalls enttäuscht: „Seit dem 14. Januar (dem Tag von Ben Alis Sturz) herrscht im Internet ein unübersichtliches Stimmengewirr, in dem wir nicht mehr klar denken können. Es ist schwer, unserer Stimme inmitten der Grabenkämpfe Gehör zu verschaffen.“

Im Zuge der tunesischen Revolution kam es zu einer regelrechten Schwemme von Neuanmeldungen in den sozialen Netzwerken. Unter den Neulingen sind auch viele Revolutionsskeptiker, die Falschmeldungen verbreiten und Videos und Fotos manipulieren. Das Resultat ist ein einziges Durcheinander.

Die Begeisterung der Kommentatoren hat die realen Erfahrungen der tunesischen Cyberaktivisten oft verschleiert. Dabei haben sie auch in ihrer Verwirrung Gehör verdient, selbst wenn sie damit die allgemeinen Gewissheiten zerstören, die sich im Ausland durchgesetzt haben. Wer weiß, ob die westlichen Regierungen, Medien und Wissenschaftler, indem sie die nordafrikanischen Blogger als legitimes Sprachrohr des tunesischen Volks auf die öffentliche Bühne gezerrt haben, den Zusammenhalt der progressiven Kräften wirklich gestärkt haben. Smaïn Laacher Cédric Terzi

Fußnoten: 1 Der Name ist ein Pseudonym: siehe fr-fr.facebook.com/Kaloutcha.Hamadi. 2 Siehe manichaeus.blogspot.com. Er war der Meinung, die sozialen Netzwerke hätten ihre Aufgabe erfüllt. 3 Nachdem er 2002 im Gefängnis gefoltert worden war, trat Zouhair Yahyaoui in einen Hungerstreik und wurde 2003 unter Auflagen freigelassen. Er starb am 13. März 2005 im Alter von 37 Jahren an einem Herzinfarkt. 4 Siehe fatmaarabicca.blogspot.com. Diese Ereignisse machten die im Ausland weniger bekannte Fatma Arabica für die tunesischen Cyberaktivisten zu einer ihrer Galionsfiguren. 5 Siehe mel7it3.blogspot.com. 6 Siehe www.atunisiangirl.blogspot.com. Lina Ben Mhenni wird auch in dem Dokumentarfilm von Mourad ben Cheikh über die tunesische Revolution „Plus jamais peur“ (2011) porträtiert. Aus dem Französischen von Jakob Horst Smaïn Laacher und Cédric Terzi sind Soziologen und Mitglieder des „Centre d’études des mouvements sociaux“ (CNRS-EHESS).

Le Monde diplomatique vom 10.02.2012, von Smaïn Laacher und Cédric Terzi