Genug ist genug
Plädoyer für ein Höchsteinkommen von Sam Pizzigati
Die Occupy-Wallstreet-Bewegung (OWS) in den USA hat noch keine Obergrenze für individuelle Einkommen gefordert, aber das ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Seit dem „Goldenen Zeitalter“, also der Epoche nach dem Sezessionskrieg (1859–1864), hat es in den USA immer wieder Bewegungen von unten gegeben, die im Sinne der ökonomischen Gerechtigkeit eine Einkommensobergrenze forderten. Heute tritt diese Idee in Gestalt der Forderung nach einem „Maximallohn“ auf.
Der Begriff bezieht sich natürlich auf das bekannte Konzept eines „Mindestlohns“. Wobei sich der Maximallohn nicht nur aus den monatlichen Einkommen errechnet, sondern die Gesamtheit der jährlichen Bezüge erfasst, egal aus welchen Quellen sie kommen. Die grundlegende Idee ist folgende: Zu einer anständigen Gesellschaft gehört nicht nur ein Mindesteinkommen, von dem abhängig Beschäftigte leben können, ohne in Not zu geraten. Genauso wichtig ist ein Höchsteinkommen, das eine gefährliche Konzentration der Vermögen verhindert.
Die Forderung nach einer solchen Obergrenze formulierte erstmals der Philosoph Felix Adler, den man eher als Gründer des National Child Labor Committee kennt, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Kampagne gegen die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen führte. Adler ging davon aus, dass die riesigen Privatvermögen, die durch die Ausbeutung junger wie alter Arbeitskräfte entstanden, einen „korrumpierenden Einfluss“ auf das politische Leben ausübten. Um dem entgegenzuwirken, schlug er eine stark progressive Einkommensteuer vor, die bis auf 100 Prozent ansteigen sollte.
Mit anderen Worten: Oberhalb von einem Niveau, das seinem Besitzer „alle Annehmlichkeiten und wahren kultivierten Bedürfnisse“ ermöglichte, sollten die Einkommen in vollem Umfang abgeschöpft werden. Dieser Steuersatz von 100 Prozent sollte, wie Adler 1880 seinen Anhängern in New York City erklärte, einem wohlhabenden Individuum alles belassen, was „den Lebensbedürfnissen des Menschen tatsächlich zugutekommt“, und ihm nur das Geld wegsteuern, das lediglich als Mittel zur Entfaltung von „Pomp, eitlem Stolz und Macht“ diene.1
Obwohl die Ideen Adlers in der New York Times breite Publizität fanden, wurde ein entsprechender Gesetzesvorschlag erst während des Ersten Weltkriegs formuliert. Damals forderten progressive Abgeordnete eine Steuerquote von 100 Prozent auf alle Jahreseinkommen von mehr als 100 000 Dollar, die zur Finanzierung der Kriegskosten beitragen sollte.
Getragen wurde diese Forderung vom American Committee on War Finance, das sich auf ein Netzwerk von 2 000 freiwilligen Helfern im ganzen Land stützte. In Zeitungsanzeigen wurden die Leser aufgefordert, sich per Unterschrift für „die rasche gesetzliche Umsetzung“ eines Steuersystems einzusetzen, das über alle jemals in den USA vorgeschlagenen Regelungen weit hinausging: Die „Wehrpflicht für den Reichtum“ bedeutete nichts anderes als eine gesetzlich festgelegte Einkommensobergrenze.
Der Vorsitzende des Komitees, ein New Yorker Rechtsanwalt namens Amos Pinchot, stellte damals fest: „Wenn die Regierung das Recht hat, das Leben eines Mannes zu öffentlichen Zwecken in Beschlag zu nehmen, dann sollte sie gewiss auch das Recht haben, zu denselben Zwecken das Vermögen eines Mannes zu beschlagnahmen.“
Vor dem Kongress erklärte Pinchot den Volksvertretern, dass die reichsten 2 Prozent der Amerikaner 65 Prozent des Reichtums der ganzen Nation besaßen, woraus er den Schluss zog: „Weder die USA noch irgendein anderes Land können einen Krieg führen, der die Welt für die Demokratie und zugleich für die Plutokratie retten soll. Wenn der Krieg Gott zu Gefallen sein soll, kann er nicht dem Mammon zu Gefallen sein.“2
Pinchot und seinen Freunden gelang es damals nicht, ihre Ziele durchzusetzen. Aber ihre Kampagne bewirkte immerhin, dass sich die Steuerdebatte bei Kriegsende völlig gedreht hatte und dass der Spitzensteuersatz für Einkommen über eine Million Dollar 1918 auf 77 Prozent angehoben wurde, nachdem er 1914 noch bei 7 Prozent gelegen hatte. Dann aber machte die „Angst vor der roten Gefahr“, die nach dem Ersten Weltkrieg ausbrach, alle Hoffnungen auf eine egalitäre amerikanische Gesellschaft schnell zunichte und führte im Gegenteil zu einem politischen Rechtsruck, der eine erneute Rettung der Plutokratie bedeutete.
Die Konzentration von Einkommen und Vermögen beschleunigte sich im Lauf der 1920er Jahre rasant. Und im Kongress setzten Demokraten wie Republikaner deutlich reduzierte Steuern für die Reichsten der Reichen durch. 1925 wurde kein Jahreseinkommen von über 100 000 Dollar mit mehr als 25 Prozent besteuert.
Diese ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen trug zu der spekulativen Welle bei, die Ende 1929 zum Kollaps der US-Wirtschaft führte. 1933 war die Arbeitslosigkeit in den USA auf 25 Prozent gestiegen. In diesen Jahren der „Großen Depression“ wurde der Ruf nach Einkommensgrenzen wieder lauter. Ein wortgewaltiger junger Senator aus Louisiana namens Huey P. Long startete eine Bewegung namens „Share Our Wealth“ (Teilen wir unseren Reichtum), die im ganzen Land an Boden gewann. Long forderte für die individuellen Einkommen eine Obergrenze von 1 Million Dollar pro Jahr (was nach heutiger Kaufkraft 15 Millionen entsprechen würde); die Nettovermögen sollten 8 Millionen Dollar nicht übersteigen.
Präsident Franklin D. Roosevelt versuchte, Long das Wasser abzugraben, indem er im Juni 1935 ein Steuerkonzept nach dem Motto „Die Reichen schröpfen“ vorlegte. Für die Unternehmer und Großverdiener des Landes war dies ein gewaltiger Schock. Ende 1935 erfolgte die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 79 Prozent, der für Jahreseinkommen von mehr als 5 Millionen Dollar (auf heute umgerechnet: 78 Millionen) gelten sollte.
Ein Spitzensteuersatz von 90 Prozent in den USA
Durch dieses Manöver – und das tödliche Attentat auf Huey Long im August 1935 – verschwand die Idee einer Einkommensobergrenze in der Versenkung. Aber im April 1942 kam sie erneut auf die Tagesordnung: Auf Betreiben der Gewerkschaften forderte der Präsident, während der Kriegszeit die Einkommen auf maximal 25 000 Dollar jährlich (heute: 350 000 Dollar) zu begrenzen. 1944 erhöhte der Kongress den Spitzensteuersatz für Einkommen über 200 000 Dollar auf die neue Rekordhöhe von 94 Prozent.
Danach lag der Spitzensteuersatz in den USA zwei Jahrzehnte lang bei um die 90 Prozent, ehe er 1965 unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson auf 70 Prozent gesenkt wurde. Unter dem Republikaner Ronald Reagan sank er 1981 weiter auf 50 Prozent und 1988 sogar auf 28 Prozent. Derzeit liegt die Spitzensteuer wieder bei 35 Prozent. Aber diese Zahl täuscht über die tatsächliche Steuerbelastung der Reichen hinweg: Deren Einkommen stammen großenteils aus Kapitalerträgen – also aus Geschäften mit Aktien, Staatspapieren und anderen Werten –, und die werden mit lediglich 15 Prozent besteuert.
Im Steuerjahr 2008 verfügten die 400 bestverdienenden Steuerzahler der USA über durchschnittlich 270,5 Millionen Dollar Jahreseinkommen. Diese Superreichen zahlten – dank der Schlupflöcher in den Gesetzen – im Durchschnitt lediglich 18,1 Prozent Einkommensteuer. Zum Vergleich: 1955 hatten die 400 reichsten US-Amerikaner durchschnittlich 13,3 Millionen Dollar (im Dollarwert von 2010), aber für diese sehr viel geringeren Einkommen führten sie 51,2 Prozent an Steuern ab.
Heute setzen die Nachfolger von Felix Adler, Amos Pinchot und Huey P. Long eher auf die Erhöhung der Unternehmens- und nicht der Einkommensteuer. Sie fordern von den Regierenden – auf kommunaler, einzelstaatlicher und bundesstaatlicher Ebene –, allen Unternehmen, deren Managerbezüge um ein Vielfaches über den Löhnen ihrer Beschäftigten liegen, sämtliche staatlichen Subventionen und Vergünstigungen zu streichen.
Das ist ein probates Mittel, weil heute fast jeder große US-Konzern in irgendeiner Weise auf Staatsgelder angewiesen ist. Die Unternehmen bekommen öffentliche Mittel, wenn sie einen staatlichen Projektauftrag an Land ziehen, aber auch als direkte Fördergelder oder als indirekte Subventionen in Form von steuerlichen Vergünstigungen oder Nachlässen. Deshalb lautet die Forderung, dass kein einziger Dollar aus öffentlichen Töpfen an Unternehmen gehen sollte, die ihre Manager 10- oder 20- oder 50-mal besser bezahlen als ihre Arbeiter.3
In diesem Sinne argumentierten die Verfasser eines Reports des Institute for Policy Studies: „Die US-Regierung vergibt heutzutage keine Aufträge an Unternehmen, die aufgrund ihrer diskriminierenden Beschäftigungspolitik die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten verschärfen. Nach demselben Prinzip könnte man Aufträge an Unternehmen verweigern, die aufgrund überzogener Managerbezüge die ökonomische Ungleichheit im Land verschärfen.“4
Worauf soll das Ganze hinauslaufen? Auf einen tatsächlich „Höchstlohn“, der auf den Mindestlohn bezogen ist. Ein solcher Maximalwert wäre ohne Weiteres über eine progressive Einkommensteuer durchzusetzen, wie es Felix Adler schon vor hundert Jahren vorgeschlagen hat. Wenn als Maximum zum Beispiel das 10- oder 25-Fache des nationalen Mindestlohns festgelegt wäre, könnten alle Einkommensanteile, die darüber hinausgehen, zu 100 Prozent weggesteuert werden.
Ein solcher Höchstlohn hätte praktisch von Anfang an die Wirkung, eine solidarische Volkswirtschaft zu fördern und zu tragen. Die wohlhabendsten Teile der Gesellschaft würden zum ersten Mal ein echtes eigenes Interesse am Wohlergehen der ärmsten Schichten entwickeln. Denn die Einkommen der Reichen und Mächtigen würden nur ansteigen, wenn zuvor die Einkommen der ärmsten und schwächsten Bürger zugelegt hätten.
Eine derart hochfliegende Vision galt vor der Occupy-Wallstreet-Bewegung als pure Phantasmagorie. Aber jetzt nicht mehr. Dass die Zeiten sich ändern, zeigt der Aufsatz, den vor Kurzem zwei angesehene Wissenschaftler in der New York Times publiziert haben.5 Darin plädieren der Jurist Ian Ayres (Yale University) und der Ökonom Aaron Edlin (Berkeley University) für eine Steuerreform, die das Durchschnittseinkommen der reichsten US-Bürger auf das 36-Fache des nationalen Medianeinkommens begrenzen würde.6 Die Idee eines Mindestlohns hat sich in den USA voll durchgesetzt. Vielleicht gilt das eines Tages auch für sein Gegenstück.