Ein Mindestlohn für alle EU-Bürger
Athen, aktuell ein symbolischer Ort: Vom 16. bis 19. Mai 2011 hielt der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hier seinen ersten Kongress seit Ausbruch der Krise – in dem Euroland, das von den Sparzwängen am stärksten gebeutelt ist. Die Delegierten wollten ihre Solidarität mit dem griechischen Volk durch ein gesamteuropäisches Konzept für Gegenmaßnahmen zum Ausdruck bringen. Deshalb formulierten sie eine gemeinsame Strategie, die eine Alternative zu der Lohnangleichung „nach unten“ bieten sollte.1
„Sie haben den Rubikon überschritten. Jetzt geht es darum, die Sparpläne der Kommission zu durchkreuzen“, erklärte Cándido Méndez, der scheidende Präsident der spanischen Arbeiterunion (UGT). Da ein Sozialabbau auf breiter europäischer Front drohe, schlugen die griechischen Delegierten vor, ihr Land als „Versuchslabor“ für Gegenstrategien zu nutzen. Einer von ihnen erklärte: „Die Therapie ist schlimmer als die Krankheit. Wir müssen die herrschende Lehre der Europäischen Zentralbank mit ihrer Schocktherapie bekämpfen und mit dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit brechen. Lohnangleichung ja, aber nach oben!“
Von der anderen Seite des „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ kam die Wortmeldung eines Delegierten der deutschen Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di: „Der Export des ‚Modells Deutschland‘ verschlimmert die Situation.“ Und ein Repräsentant des DGB ließ keinen Zweifel daran, dass „wir auch in Deutschland handeln müssen, nicht nur in Griechenland“. Die Gefahr, dass „unsere Nachbarn zu Gegnern werden“, beschwor ein polnischer Solidarnosc-Vertreter.2
In Europa gibt es zwar einen gewerkschaftlichen Konsens darüber, dass der chronische Rückgang der Löhne bekämpft werden und die Löhne das zentrale Thema des Eurosyndikalismus sein müsse. Aber wie das gehen soll, weiß noch keiner. Angesichts der Lohndisparitäten innerhalb der EU und der Tatsache, dass es in manchen Ländern keinerlei Lohnuntergrenzen gibt, drängt sich eine logische Forderung auf: die nach dem europäischen Mindestlohn. Die Debatte darüber ist für die Kongressteilnehmer allerdings ein Minenfeld.
Die Forderung wurde erstmals – in milder Form – im Mai 2007 auf dem Kongress von Sevilla vorgebracht, und zwar von den deutschen Delegierten: „In 20 von 27 EU-Ländern gibt es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, in Deutschland nicht. Der Vergleich mit unseren Nachbarn hilft uns bei unserer Kampagne für einen branchenübergreifenden Mindestlohn.“3 Nach der Einführung eines allgemeinen Mindestlohns in Großbritannien 1999 ist Deutschland eines der wenigen EU-Länder, in dem es einen solchen nicht gibt.4
2007 sprachen sich auch die britischen und die französischen Delegierten – Letztere voll Stolz auf ihren guten alten „wachstumsorientierten Mindestlohn“ (Smic)5 – wie die DGB-Vertreter für einen europäischen Mindestlohn aus. Am Ende des Kongresses von Sevilla hat allerdings Jean-Christophe Le Duigou, damals Vorstandsmitglied der französischen CGT, enttäuscht festgestellt, dass die Delegierten offenbar keine Nägel mit Köpfen machen wollten: „Über das Prinzip haben wir jetzt lange genug diskutiert. Aber es ist sehr schwierig, diese Forderung zu konkretisieren.“ Und Marcel Grignard, der Vizegeneralsekretär der CFDT, warf die Frage auf: „Wie kann der EGB angesichts der unterschiedlichen Lohnsysteme ein und dasselbe Ziel für alle EU-Länder festlegen?“
Gewerkschaften in vermintem Gelände
Schon 1997 hatten Vertreter der gewerkschaftlichen Linken begonnen, verschiedene Mindestlohnregelungen für wirtschaftlich vergleichbare Ländergruppen zu entwickeln.6 2005 hatte ein Netzwerk gewerkschaftsnaher Wissenschaftler versucht, einen europäischen Mindestlohnregelsatz zu definieren, der sich auf die nationalen Durchschnittslöhne bezieht (und zunächst 50, später 60 Prozent betragen soll).7 Da die gesetzlichen Mindestlöhne in Europa derzeit bei nur 30 bis 48 Prozent des Durchschnittslohns liegen (siehe Grafik) würde dies eine Anhebung in allen EU-Ländern bedeuten.
Was die praktische Umsetzung betrifft, hat es seitdem kaum Fortschritte gegeben. Auf dem EGB-Kongress in Athen wurde von den Delegierten immer wieder betont, dass es ihnen weniger um die Idee eines Mindestlohns als um das Prinzip der Tarifautonomie geht. Ein Vertreter der französischen CFDT stellte zum Beispiel klar: „Wir haben nie einen staatlichen festgesetzten Mindestlohn in allen europäischen Ländern gefordert.“ Offensichtlich gibt es einen Gegensatz zwischen den Befürwortern eines europäischen Mindestlohnsystems und den Gewerkschaften jener Länder, in denen Lohnuntergrenzen jeweils in den Branchentarifverträgen festgelegt werden, wie etwa in Italien und den skandinavischen Ländern. So erklärte etwa ein Vertreter der schwedischen TCO: „Wir wollen keinen Staatseingriff. Bei uns sind 90 Prozent der Arbeitnehmer in Tarifverträge einbezogen. Wir brauchen keinen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn.“ Dieses Instrument sei zur Lösung des Niedriglohnproblems ungeeignet, meinte ein italienischer Kollege: „Wir wollen unsere Autonomie nicht verlieren.“
Die Problematik lässt sich am Beispiel Deutschlands verdeutlichen. In der Heimat des Rheinischen Kapitalismus war der gesetzliche Mindestlohn immer ein heikles Thema, weil das Grundgesetz der Autonomie der Tarifparteien einen hohen Rang einräumt. Branchen- und Flächentarifverträge werden von den Einzelgewerkschaften ausgehandelt. Da die Anzahl der durch Tarifverträge gebundenen Unternehmen aber zurückgeht, ist dieses System zunehmend außerstande, einen Mindeststandard zu sichern,8 zumal sich der Niedriglohnsektor rapide ausweitet, was mit einem Abbau der sozialen Rechte einhergeht.9
Die Dienstleistungsgewerkschaften Ver.di und NGG (Nahrung – Genuss – Gaststätten) setzen sich deshalb seit 2006 für einen gesetzlichen Mindeststundenlohn ein (derzeit fordern sie 8,50 Euro). Für bestimmte Bereiche werden auch besondere (durchweg höhere) Mindestlöhne gefordert. Diese Kampagne macht die Lohnfrage zur politischen Frage. Dabei soll der relativ schwache gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Dienstleistungsbranche durch Mobilisierung der Öffentlichkeit wettgemacht werden.
Bundeskanzlerin Merkel ist im Hinblick auf die kommenden Wahlen von ihrer prinzipiellen Ablehnung eines Mindestlohns abgerückt. Sie plädiert dafür, die schon ausgehandelten branchenspezifischen Mindestlöhne auszuweiten, hält sich aber noch bedeckt, was die Einführung eines allgemeinen Mindestsatzes und erst recht was dessen Höhe angeht.
Aber selbst wenn die Idee sich in Deutschland durchsetzen würde, wäre es bis zur Umsetzung noch ein langer Weg. Ein Vertreter des Europäischen Metallgewerkschaftsbunds vertrat in Athen die Meinung, das französische Modell könne, da es einem großen Land entspreche, nicht exportiert werden; eine solche Forderung sei „verfrüht und unzweckmäßig“. Was die Ablehnungsfront befürchtet, ist eine Abwärtsspirale bei der Lohnentwicklung. So erklärte der frühere EGB-Bundessekretär Walter Cerfeda: „Eine Untergrenze lässt sich zwar gesetzlich festlegen (zum Beispiel auf 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohns), aber nicht auf der Ebene von Verhandlungen, die ihrem Wesen nach frei sind.“
CGT-Generalsekretär Thibault hielt mit dem Argument dagegen, er sehe nicht, „weshalb ein Grundbetrag, den kein Lohn unterschreiten darf, für die Skandinavier gefährlich sein soll. Demgegenüber halte ich fest, dass Rumänien oder Polen keinen europäischen Vergleichsmaßstab haben, auf den sie sich in ihrer Ablehnung von aufgezwungenen Lohnkürzungen berufen könnten.“
Eine Einigung in dieser Frage ist offenbar noch in weiter Ferne. Eine breitere Mobilisierung kann die europäische Gewerkschaftsbewegung deshalb eher erreichen, indem sie sich auf die Koordination der laufenden Tarifverhandlungen konzentriert. Anne Dufresne