Geld machen mit Hanf und Häusern
Zweckoptimismus in Florida von Olivier Cyran
Eins der Einfamilienhäuser, wie es sie in Lehigh Acres, Westflorida, zu tausenden gibt, mit Garage, Vorgarten, Grillplatz und der obligatorischen Fahnenstange für patriotische Momente. „Zu verkaufen“ steht auf einem Schild am Eingang. „Das kauft keiner mehr“, sagt Tom, ein 17-jähriger Schüler. Auf dem Grundstück türmt sich der Sperrmüll. Das Garagentor ist nicht mehr da. Vor zwei Jahren mussten die Bewohner ihr Haus aufgeben. Tom führt uns hinter das Gebäude zum Küchenfenster, das nur mit zwei kreuzweise angenagelten Brettern gesichert ist. Er deutet mit der Taschenlampe hinein: „Hier geht’s lang.“ Dann schiebt er eines der Bretter zur Seite und zwängt sich als Erster hindurch.
In der Küche müffelt es nach feuchtem Schimmel – am Tag ihrer Zwangsräumung haben die früheren Besitzer die Spüle aus der Wand gerissen. „Bevor sie abgedampft sind“, erzählt Tom, „haben mein Onkel und meine Tante alles kurz und klein geschlagen. Die meisten Leute hier machen das so. Um sich an den Bankerschweinen zu rächen.“ Im Lichtkegel der Taschenlampe erkennt man einen Trümmerhaufen und mittendrin das Kalenderbild eines Sonnenaufgangs am Strand. Hinter der Küche führt eine Treppe zu einem kleinen Keller. Dort weiht uns Tom in sein kleines, geheimes Unternehmen ein: Zehn Hanfpflanzen, die einen verlockenden Duft verströmen, werden über einen Tropf bewässert. Leuchtröhren sorgen für die optimale Beleuchtung.
„Eine großartige Zeit für Geschäfte. Überhaupt war das Geldverdienen noch nie so aufregend wie heute“, tönte der Milliardär Donald Trump am 15. April dieses Jahres auf CNN. Dass eine schwere Krise ungeahnte Verdienstmöglichkeiten schafft, ist auch Tom nicht entgangen. Er bezeichnet sich selbst als „jungen unabhängigen Unternehmer“. Sein Vater ist Haustechniker. Doch seit der Vorort Lehigh Acres zum Katastrophengebiet mutiert ist, hat er keine Arbeit mehr.
Anfang des Jahrzehnts gingen die Häuser noch weg wie warme Semmeln. „Heute ist Lehigh Acres fast schon ein Slum. Aber damals war es ein vielversprechendes Entwicklungsgebiet. Die Zahl der Anwohner wuchs in nur drei Jahren von 30 000 auf 80 000“, erzählt Edward Weiner, Architekt und Vertreter der örtlichen Handelskammer. „Wir haben einfach die blinde Gier der Banken unterschätzt. Sie dachten, sie könnten hier das große Geld machen. Dazu kamen noch die Spekulanten aus aller Welt, von Brooklyn über Venezuela bis Deutschland. Und jetzt lassen sie die Bausubstanz verrotten. Von den 10 000 Häusern, die damals auf die grüne Wiese gesetzt wurden, waren 2 000 überhaupt nie bewohnt. Inzwischen sind die Banken bei der Kreditvergabe wieder vorsichtiger. Und setzen alle, die ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können, sofort auf die Straße. Dabei schneiden sie sich nur ins eigene Fleisch, denn natürlich fällt mit jeder Zwangsräumung auch der Wert der umliegenden Häuser. Die Banken nehmen ihren Kunden die Häuser weg, obwohl sie genau wissen, dass sich die gepfändeten Immobilien nicht wieder verkaufen lassen.“
Ein Haus, das 2004 für 300 000 Dollar den Besitzer wechselte, findet heute selbst für unter 100 000 kaum einen Käufer. Der Optimist Edward Weiner hat festgestellt, dass die Zahl der Zwangsräumungen im März dieses Jahres (2 100) etwas geringer ausfiel als im Februar (2 300). „Es dauert höchstens noch eineinhalb Jahre, bis es wieder aufwärtsgeht“, versichert er. Doch unterdessen gehen in der Region tausende Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen zwei Jahren von 3,5 auf 12 Prozent gestiegen.
Lehigh Acres war einmal ein typisch amerikanischer Mittelschichts-Vorort: Eine endlos scheinende Reihe von Einfamilienhäusern auf weitläufigen, sichtgeschützten Grundstücken. Auf den kilometerlangen Straßen, deren Monotonie nur ab und zu von einem Einkaufszentrum, einer Kirche oder dem mittlerweile heruntergekommenen Golfplatz unterbrochen wird, sieht man keine Fußgänger. „Die verlassenen Häuser sind perfekt“, erklärt Tom. „Bei meinem Onkel haben sie nicht einmal den Strom abgestellt. Die Bank kann die Hütte ohnehin nicht verkaufen. Warum soll man sie nutzlos verfallen lassen? Ich schaue ab und zu vorbei, ob auch alles in Ordnung ist. Und für den Fall, dass doch mal die Bullen kommen, hinterlasse ich hier keine Spuren.“
Die Umwandlung der zwangsgeräumten Häuser in illegale Treibhäuser macht den Behörden ordentlich zu schaffen. Im vergangenen Jahr hat die Polizei von Lehigh Acres mehr als 3 000 Hanfpflanzen im Wert von insgesamt fast 7 Millionen Dollar konfisziert. Aber sie kann nicht jedes der rund 1 500 leer stehenden Häuser auf einem Terrain durchsuchen, das viermal so groß ist wie Manhattan.
Für Polizeileutnant Richard O. Dobson ist der Fall klar: „Die Häuser haben 70 Prozent ihres Werts verloren – eine günstige Gelegenheit für die kubanischen Banden aus Miami, sie aufzukaufen, um hier ihr Cannabis anzubauen. Jede Woche erwischen wir jemanden beim illegalen Anbau. Wir haben schon über hundert Häuser zugemauert. Aber wir können eben nicht überall gleichzeitig sein.“ Fragt man Tom, was er von Dobsons Aussage hält, so zuckt er nur mit den Schultern. „Die Polizei schiebt gern den Latinos alles in die Schuhe. Es stimmt schon, dass die keine halben Sachen machen, wenn sie einmal etwas anpacken. Aber ich kenne genug Leute hier aus der Gegend, die auch im Geschäft mitmischen. Gefährlich ist es schon, aber unsereiner fällt dabei nicht so schnell auf wie ein Kubaner aus der Stadt.“
Die Polizei bittet inzwischen die Bürger von Lehigh Acres um Mithilfe beim Kampf gegen den Hanfanbau und hat zu diesem Zweck ein Programm ins Leben gerufen: „Weed and Seed“ (Gras und Saat). „Gras“ stehe natürlich für die Drogenheinis, knurrt Oberleutnant Dobson: „Und die „Saat“ verweist auf das Gemeinschaftsstiftende. Dafür verteilen wir hier Nahrungsmittel und Kleidung“, erklärt er. „Und bei dieser Gelegenheit sprechen wir die Leute an und bitten sie, uns anzurufen, wann immer ihnen etwas Verdächtiges auffällt.“ Tom hat dafür kaum mehr als Spott übrig.
„Die wollen hier aufräumen, indem sie mit Gratis-Erdnussbutter die Leute zu Denunzianten machen“, sagt er und begutachtet seine Hanfblüten. „Aber wer nichts mehr hat, der muss sich irgendwie selbst helfen. Vielleicht haben meine Eltern Glück und sie dürfen ihr Haus behalten, weil meine Mutter ihren Job noch hat. Aber sie sind völlig abgebrannt, und sie wissen, dass sie mir kein Studium finanzieren können. Wenn ich nach der Schule weiterkommen will, habe ich nur die Wahl zwischen Gras oder Militärdienst. Ich hab mich fürs Gras entschieden.“
Die Söhne einer Nachbarin haben die andere Wahl getroffen: Der eine ist zu den Marines gegangen, der andere zur Navy. Die gerahmten Fotos der beiden stehen auf dem Büroschreibtisch ihrer Mutter Pamela Kaye. Die stellvertretende Leiterin der städtischen Fürsorge (Lehigh Community Services) ist „stolz auf ihre Jungs“: „Sie mussten auf jeden Fall weg von hier. Seit alle unsere direkten Nachbarn auf die Straße gesetzt wurden, fühlen wir uns zu Hause nicht mehr sicher. Mein Mann hätte sich längst ein Gewehr zugelegt, aber ich will keine Waffen im Haus.“
Kein Strom, kein Wasser
Pamela Kaye organisiert die Lebensmittelhilfe im Rahmen von Weed and Seed. Verteilt werden hauptsächlich H-Milch, Marmelade, Nudeln, Reis und natürlich Erdnussbutter („sehr nahrhaft“). Von Oktober 2008 bis April 2009 haben Kaye und ihre Mitarbeiter 1 245 Familien mit haltbarer Nahrung versorgt: „Manche haben nicht einmal mehr Wasser und Strom. Wer sein Haus verloren hat, der schläft meist im Auto oder bei Verwandten, oder er verschwindet, und wir wissen nicht, wohin. Wir haben keine Obdachlosenunterkünfte in Lehigh Acres. Wir helfen zwar, wo wir können, aber wir haben keine eigenen Mittel. Verteilen können wir nur, was wir an Spenden erhalten, und auch das nur, wenn wir freiwillige Helfer finden.“
Die Steuereinnahmen der Gemeinde sind 2008 um fast die Hälfte eingebrochen. Die Behörden appellieren an die Mildtätigkeit der Kirchen und die lokale Prominenz. Im kleinen Wartesaal des Fürsorgeamts vertreibt sich ein untersetzter Fünfzigjähriger mit sonnengegerbtem Gesicht die Zeit, indem er die ausgelegten Faltblätter von vorne bis hinten durchliest. Jimmy hat 27 Jahre als Klempner gearbeitet und wurde vor einer Woche entlassen. Er ist zum ersten Mal hier, um sich Lebensmittel abzuholen.
„Mein Haus habe ich selbst gebaut. Das nimmt mir keiner weg“, sagt er. „Aber ich bin trotzdem hoch verschuldet, weil ich mir Geld leihen musste, um ältere Schulden abzahlen zu können. Von 2002 bis 2004 hat sich der Wert meines Grundstücks verdreifacht. Heute ist es gar nichts mehr wert. Zu viele Leute haben an das große Geschäft geglaubt: die Stadtverwaltung, die Makler, die Banken. Dann hat uns die Krise mit voller Wucht getroffen. Von einem Tag auf den anderen war alles vorbei.“
Und was ist mit Obamas Konjunkturpaket? Verpflichtet es nicht die Banken, die Darlehenskonditionen mit überschuldeten Haushalten neuzuverhandeln? Jimmy: „Das funktioniert nur, wenn man ein Einkommen vorweisen kann. Wer nichts hat, bekommt auch nichts.“ Pamela Kaye bestätigt das: „Bei denjenigen, die zu uns kommen, war keine Bank zu einer Umschuldung bereit. Und dann wundern sie sich, dass die Leute ihre Wut an den Häusern auslassen. Unsere Nachbarn haben das auch gemacht, und ich kann es ihnen nicht verübeln.“
Eine kubanische Mutter betritt den Wartesaal. Es ist ihr anzusehen, dass sie sich schämt. Draußen warten ihr Mann und zwei Kinder im Auto. Auf der Heckscheibe klebt ein Zettel: „Zu verkaufen“. „In deren Haut möchte ich nicht stecken“, sagt Kaye. „Wenn man sein Haus verliert, kann man wenigstens noch im Auto schlafen. Aber wer nicht einmal mehr ein Auto hat, ist verloren. Die Entfernungen sind enorm, und Busse fahren so gut wie nie.“ Ein Besuch beim Gebrauchtwagenhändler Plattner’s am Abrams Boulevard bestätigt, dass die kubanische Familie kein Einzelfall ist. „Bei uns stehen hunderte Autos auf Halde“, berichtet ein Verkäufer, „kaufen will keiner.“
Der Schüler, der Polizist, der Architekt, der Handwerker ohne Arbeit und die Sozialarbeiterin ohne Budget sind sich trotz allem in einem Punkt einig: Schlimmer kann die Krise nicht werden. Schon bald wird es wieder aufwärtsgehen. Jimmy ist da ganz sicher: „Florida ist ein dynamischer Staat. Alles nur eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaft wieder wächst. Außerdem habe ich sowieso keine Wahl. Von meiner Rente werde ich eh nicht leben können.“ Polizeileutnant Dobson ist ebenfalls „zuversichtlich, dass es im Baugewerbe bald wieder aufwärtsgeht“. Ohnehin gebe es bereits „erste Anzeichen der Besserung“. Darüber kann Tom nur lachen: „In ein paar Monaten habe ich woanders einen Job gefunden, und dann baue ich nur noch für mich selbst an.“
In der Immobilienbranche richtet sich inzwischen eine wachsende Zahl von Maklern explizit nur noch an europäische Kunden: „US-Immobilienkrise: Jetzt ist einer der besten Zeitpunkte, Ihre Traumimmobilie zu erwerben!“, heißt es zum Beispiel auf einem dunkelgrün unterlegten Banner auf www.floridatraum.com. Und die französische Site capfloride.com lockt gleich auf ihrer Startseite mit großem Pop-up-Foto: „Ein Haus in Florida mit Pool? Dieser Traum rückt jetzt schon ab 20 000 Euro Anzahlung in greifbare Nähe.“
Die Immobilienmaklerin Brigitte Bénichay profitiert insofern von der Krise, als sie etliche Konkurrenten aus dem Feld schlug. Die Pariser Betriebswirtin lebt seit 20 Jahren in Miami, ihr Maklerbüro „Rich Homes of Florida“ sei das „erste US-amerikanische Immobilienunternehmen in französischer Hand“, sagt sie: „Vor fünf Jahren konnte wirklich jeder hier Häuser verkaufen. Die Leute standen schon um fünf Uhr morgens Schlange, weil sie sich für eine bestimmte Wohnung interessierten. Die Preise gingen durch die Decke, und teilweise wurden 6 000 Dollar pro Quadratmeter bezahlt. Damals wollten alle Franzosen in Miami Immobilienmakler werden. Außerdem ist es in den USA sehr einfach, ein Maklerbüro zu eröffnen. Man muss nur einen kleinen Multiple-Choice-Test machen. Natürlich wird da viel Missbrauch getrieben. Einer meiner Kollegen hat sich mit einer Schuldenlast von 40 Millionen Dollar vom Acker gemacht. Wenn man an solche Fälle denkt, hat die Krise auch eine reinigende Wirkung.“
Zwar verdiene sie jetzt etwas weniger Geld als auf dem Höhepunkt des Booms, erzählt Bénichay auf der Terrasse eines Cafés in South Beach, Miamis Neureichenviertel. Aber sie beklagt sich nicht. „Wir kommen gut zurecht. Heute Morgen habe ich für 400 000 Dollar eine Wohnung verkauft, die vor zwei Jahren noch 1,2 Millionen Dollar gekostet hat. Und damals kamen pro Tag zwei Besucher auf meine Website, heute sind es 500.“ An Rich Homes of Florida wenden sich ausschließlich französische Kunden, und es sind längst nicht mehr nur Unternehmer oder leitende Angestellte. „Jeden Tag bekomme ich Mails von Rentnern oder kleinen Geschäftsleuten, die weniger als 150 000 Dollar anlegen wollen. Ich hatte noch nie so viele arme Kunden“, sagt sie und lacht laut. „Ja, Florida ist für viele immer noch der große Traum.“
Genau wie die Fondsmanager wohlhabender Kunden kann die Chefin von Rich Homes of Florida zuversichtlich in die Zukunft blicken. „Seit Beginn der Krise wurden in den USA insgesamt 1,7 Millionen Häuser gepfändet, und man kann davon ausgehen, dass das noch bis 2012 so weitergeht.“ Und außerdem sind die steuerlichen Rahmenbedingungen ebenfalls ausgesprochen sonnig, denn „hier ist es ganz legal, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern“, so dass Brigitte Bénichay von den Einkünften ihrer Firma ziemlich gut lebt, „ohne einen Cent Steuern zu zahlen“. Kein Wunder, dass ihr gefällt, was sie als amerikanische Mentalität bezeichnet: „Die Amerikaner haben eine philosophischere Lebenseinstellung als wir. Sie kleben nicht so an den Dingen. Wenn jemandem sein Haus gepfändet wird, finden es alle normal, dass andere davon profitieren. ‚I pay my bill, that’s it‘, sagt man hier – ‚ich zahle meine Rechnung, und damit hat sich’s.‘“
Beim Auszug möglichst viel zerstören
Offensichtlich gibt es aber auch in Miami Leute, die sich mit der Situation nicht einfach abfinden wollen. In Liberty City, einem der ärmsten Viertel der Stadt und damit für die Maklerin Bénichay gänzlich uninteressant, besetzt seit einiger Zeit eine Gruppe, die sich „Take Back the Land“ nennt, leer stehende Häuser und bringt darin obdachlose Familien unter. Bisher konnten auf diese Weise aber nur zehn Häuser auf Dauer in Beschlag genommen werden. Alles in allem ein schwieriges Unterfangen.
„Erst einmal müssen wir Gebäude finden, die noch nicht allzu kaputt sind“, sagt Max Rameau, Gründungsmitglied der Hausbesetzertruppe. „Die meisten Häuser wurden von den Besitzern bei ihrer Zwangsräumung verwüstet. Unsere Leute können zwar kleinere Reparaturen machen, den Strom wieder anschließen oder die vorgefundenen Haushaltsgeräte zum Laufen bringen. Aber wir haben gar nicht die Mittel für große Arbeiten. Die Polizei ist natürlich auch ein Problem, die sind hier in Miami besonders aggressiv drauf. Zum Glück haben die Bullen wegen der Krise alle Hände voll zu tun. Die haben gar keine Zeit oder Lust, Stunk zu machen. Sie wissen genau, dass die Leute im Viertel hinter uns stehen. Was sie jetzt wirklich nicht gebrauchen können, ist öffentlicher Aufruhr.“
Rameaus Eltern kommen aus Haiti, er hat Frantz Fanon gelesen und ist Anhänger der Black Panthers. Max findet es fast gut, dass es zu dieser Krise kam, denn sie hat zumindest in seinem Viertel die Gier nach Immobilien vorläufig gedämpft. Auf ihrem Höhepunkt Anfang 2000 hatte sie nicht einmal Liberty City verschont – trotz seiner Crackdealer-Szene und der maroden Straßen.
Übrig gelassen hat der Boom eine umzäunte Brache an der 17th Avenue Ecke 62st Street. „2006 wollte die Gemeinde dieses Stück Land an einen Bauträger verkaufen. Es sollte gehobener Wohnraum entstehen. Das war ein weiterer Mosaikstein der Gentrifizierung, die das Viertel hier seit den 1990er-Jahren Straße um Straße zerstört hat. Genauso lief es in vielen anderen Schwarzenvierteln in den USA. Die Bauherren kommen und kaufen billig, dann machen sie alles platt und bauen teure Eigentumswohnungen. Natürlich fangen sie damit nicht im Zentrum des Viertels an, sondern an den Rändern. Und so ist Liberty City immer kleiner geworden, und umringt von Zugezogenen, die meistens zur schwarzen oder auch zur weißen Mittelschicht gehören. Wir haben Take Back the Land gegründet, um diese Art von Enteignung zu bekämpfen.“
Was dann geschah, gehört heute in die Annalen von Liberty City und ebenso in die Geschichte des zivilen Ungehorsams. Am 23. Oktober 2006 besetzten die Aktivisten das besagte Brachgrundstück, um darauf Holzhütten für Bedürftige aus der Nachbarschaft zu errichten. „Zuerst haben wir öffentliche Vollversammlungen organisiert, um die Anwohner zu informieren und zu überzeugen. Die meisten waren nämlich am Anfang äußerst skeptisch“, erzählt Rameau. „Dann sind wir von Tür zu Tür gegangen, um die Aktion vorzubereiten. Als es dann so weit war und alle gesehen haben, dass wir es ernst meinen, haben viele mit angepackt und uns unterstützt. Deshalb hat die Stadt das Gelände auch nicht räumen lassen.“
Nach dem Vorbild der brasilianischen Landlosenbewegung MST entstand ein selbst verwaltetes Wohnprojekt. Das „Dorf“ tauften sie Umoja (Suaheli für „Einheit“), und es bestand immerhin sechs Monate. Dann wurde es eines Nachts im April 2007 durch Brandstiftung zerstört. „Gleich am nächsten Tag haben die Planierraupen alles niedergewalzt, was noch stand. Eine polizeiliche Untersuchung hat es nie gegeben.“2
Inzwischen braucht es keinerlei organisierten Widerstand mehr, um den Vormarsch der Baulöwen aufzuhalten. „Die haben jetzt andere Probleme. In Liberty City werden wir die so bald nicht wiedersehen“, vermutet Rameau. Doch er wundert sich schon darüber, dass die massenhaften Zwangsversteigerungen der vergangenen Monate nicht massiveren öffentlichen Protest hervorgerufen haben. Viele Amerikaner, und beileibe nicht nur Immobilienmakler, scheint allein die Vorstellung, man könnte der Bank das eigene gepfändete Haus einfach wieder wegzunehmen, mental zu überfordern. Auf Rameaus Blog landen immer wieder erboste Leserkommentare: „Was fällt euch eigentlich ein, Häuser zu besetzen, die euch gar nicht gehören!“, empört sich einer. „Wieso geht ihr nicht gleich in ein Hotel und fordert, dass man euch umsonst da wohnen lässt?“
„Wir vergreifen uns am Tabu des Eigentums“, seufzt der Sprecher von Take Back the Land. „Das ist in diesem Land keine Kleinigkeit. Es ist schon seltsam, dass die meisten Leute es anscheinend normal finden, das eigene Haus komplett zu verwüsten, wenn die Bank kommt und es einem wegnimmt. Aber dass man ein Haus wieder in Schuss bringt, um einer Familie ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, das geht anscheinend gar nicht.“
Dennoch ist Max Rameau optimistisch, allerdings nicht aus denselben Gründen wie Immobilientycoon Donald Trump: „Wir haben schon erste Nachahmer in Portland, Denver und auch in kalifornischen Städten. Wir sind noch nur wenige, aber die Leute haben gar keine andere Wahl, als an einem Strang zu ziehen. Das wird für viele zu einer Frage des Überlebens. Vielleicht dauert es noch zehn Jahre, aber ich bin ganz sicher, dass uns große gesellschaftliche Veränderungen bevorstehen.“
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann
Olivier Cyran ist Journalist.