07.08.2009

Der regionale Faktor

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Der regionale Faktor

Aus Sorge um seine innere Sicherheit und eine verlässliche Energieversorgung initiierte China den Zusammenschluss der Russischen Föderation, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan zur sogenannten Schanghai-Gruppe, die sich erst mal um die Lösung offener Grenzprobleme kümmerte (inzwischen geklärt1 ), dann um Sicherheitsfragen (Kampf gegen Unabhängigkeitsbestrebungen) und die Festigung der Wirtschaftsbeziehungen.

In den 1990er-Jahren fürchtete Peking ein Aufbegehren der in Xinjiang nicht unbedeutenden kasachischen Minderheit und ein Erstarken uigurischer Parteien, die in den neuen unabhängigen Nachbarstaaten gegründet worden waren: 1992 entstand in Almaty (Kasachstan) die Internationale Uiguren-Union, die 350 Delegierte aus den zentralasiatischen Republiken zusammenführte. Eines ihrer Ziele war die Unterstützung der „Selbstbestimmung Ostturkestans“, womit Xinjiang gemeint war. Und in Kirgistan wurden ebenfalls uigurische Parteien ins Leben gerufen. Kirgistans Staatsfernsehen sendet unter anderem auf Uigurisch, und in Xinjiang kann man die Programme aus den drei Nachbarstaaten Kirgistan, Kasachstan und Usbekistan ohne weiteres empfangen. Es entstand eine Art ethnischer Raum, während die Uiguren in der chinesischen Provinz begannen, von Peking ihre soziale und religiöse Gleichstellung zu fordern.

Aus Sicht der chinesischen Behörden musste hier für Ordnung gesorgt werden, und die Länder der Schanghai-Gruppe unterstützten sie dabei, indem sie die Aufnahme militanter oder verfolgter Uiguren in ihre Länder einschränkten. Einige Jahre später wurden die Aktivisten sogar nach Xinjiang zurückgeschickt, wo sie verhaftet, oft gefoltert und einige sogar hingerichtet wurden. Peking schien wieder alles im Griff zu haben.

2001 wurde aus der Schanghai-Gruppe die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der auch Usbekistan beitrat. Die Mongolei, Indien, Pakistan und der Iran erhielten einen Beobachterstatus. Das Hauptziel bestand im Kampf „gegen die drei Kräfte Extremismus, Separatismus und Terrorismus“. Pakistan, das im vorangegangenen Jahrzehnt eine Reihe junger Uiguren als Koranstudenten aufgenommen hatte, schloss praktisch seine Grenzen.

Doch die 22 uigurischen Gefangenen in Guantánamo scheinen keine Verbindung zu al-Qaida zu haben: Fünf wurden 2006 freigelassen und beantragten Asyl in Albanien, vier fanden nun in Bermuda eine neue Bleibe, weitere sollen vom Inselstaat Palau aufgenommen werden.

Wie so oft liegen in Peking Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen dicht beieinander. Xinjiang liegt am Kreuzungspunkt der Transportwege für Erdöl und Erdgas aus Russland, Turkmenistan und Kasachstan. Der Handelsaustausch zwischen der Provinz und diesen Staaten Mittelasiens hat sich zwischen 1992 und 2006 versechsfacht. Das belegt ihre strategische Bedeutung. Die chinesischen Machthaber konzentrieren sich deshalb auf die Verkehrswege (Straßen, Eisenbahn, Flughäfen) und unterstützen daher auch die jungen Nachbarrepubliken beim Ausbau der Infrastruktur. „Xinjiang liegt im Zentrum einer Region mit fast 2,8 Milliarden Einwohnern“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Tang Li-jiu, unabhängiger Berater der Provinzregierung. „Daraus müsste sich doch etwas machen lassen.“ Und er denkt dabei nicht nur an die Länder der Russischen Förderation, sondern vor allem auch an Indiens riesige Märkte, die es zu erobern gilt. Die kulturelle Nähe zu den Nachbarn sei dafür wie geschaffen. Vor den Ereignissen im Juli rechnete Ürümqi noch mit einem Aufschwung in der Tourismusbranche.

Fußnote: 1 Mit Russland wurden die Streitigkeiten 2004 beigelegt, mit Tadschikistan und Kasachstan bereits 2002.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2009