Nimm das Geld und nerv nicht
Ein Monat bei der Polícia Militar in Rio von Raphael Gomide
Am 3. Januar um 10.45 Uhr zeigt das Thermometer 33 Grad Celsius, die Sonne brennt, Sommer in Rio, doch wir sind weit weg von Ipanema. Seit heute bin ich offiziell Mitglied der Kasernierten Polizei (PM)1 von Rio de Janeiro. Der Schweiß tropft mir vom Gesicht und läuft mir unter dem weißen T-Shirt und den Jeans herab. Schon seit über drei Stunden stehe ich neben anderen jungen Männern, keiner älter als dreißig, mit kurz geschorenem Haar. Wir sollen bis 14.30 Uhr in Reih und Glied stehen oder laufen, das ist die erste Übung für die neuen Rekruten. Sieben Stunden in der Knallsonne, ohne etwas zu essen, nur kurze Pausen zum Wassertrinken.
Um 8.15 Uhr schon stammelte einer, ihm sei schlecht. Er war aschfahl im Gesicht und schwankte. Das Stillstehen kann Schwindel verursachen, weil das Blut nicht zirkuliert. Der Trick ist, nur die Zehen zu bewegen. „Keiner bewegt sich, außer er fällt sonst um“, sagte der Kommandant der 2. Kompanie. Einer ist in Ohnmacht gefallen, und einem anderen wurde schon zweimal schlecht. Um 10.30 Uhr packten auch mich Schwindelgefühl und Übelkeit. Ich hob die Hand und trat aus dem Glied, ein Polizist stützte mich. Ich machte mir die Stirn nass und setzte mich neben zwei andere Rekruten. Nach wenigen Minuten traten wir zurück ins Glied.
Es sind dann fast hundert, denen schlecht wird. „Keine Lust? Zu anstrengend? Dann geht doch. Keiner wird gezwungen zu bleiben. Und für alle, die vom Militär kommen: Hier wird nicht auf Melonen geschossen, das ist vorbei! Wir kämpfen richtig!“, schreit ein Ausbilder. Manche lassen sich anstecken. „Ich will brutal werden, ich will das lernen. Bei der PM, das weiß ich, geht man rauf in die Favelas und knallt Verbrecher ab“, sagt einer, der vom Militär kommt. „Hat jemand noch nicht gefrühstückt?“, fragt ein PM. Viele wohnen weit weg und sind sehr früh aufgestanden. „Ratte gefällig?“ Eine tote Ratte am Schwanz schwenkend, geht er zwischen den Rekruten auf und ab.
Die Ausbildungsleiterin, Oberstleutnant Siciliano, beginnt mit einer Ermahnung. „Ich weiß, dass viele von euch nur auf die erste Gelegenheit warten, krumme Sachen zu machen! Überlegt euch das gut. Sieben Monate Ausbildung, und dann bringt ihr nur Schande über eure Familie und die Truppe. Die Grenze zwischen Gut und Böse ist sehr schmal. Und es wird jede Menge Kollegen geben, die euch zu einer Dummheit verleiten wollen, die gibt es immer. Ich möchte weder in der Zeitung lesen, dass ihr gestohlen habt und korrupt seid, noch im Bulletin der PM, dass ihr wegen Straftaten und unehrenhaftem Verhalten aus dem Polizeidienst entlassen wurdet. Wenn es einfach wäre, eine andere Arbeit zu finden, wären viele von euch heute nicht hier, da bin ich sicher.“
Ich habe die gewagteste Idee meiner journalistischen Laufbahn in die Tat umgesetzt: Ich bin Soldat der PM des brasilianischen Bundesstaats Rio de Janeiro. Jeder, der ihren Ruf kennt – sie sei brutal, korrupt und missachte die Menschenrechte –, würde sich das zweimal überlegen. Ich habe es mir öfter als zweimal überlegt.
Das Rio de Janeiro der Strände, der Lebensfreude und des Bossa Nova ist auch das Rio einer Polizei, die mehr Menschen tötet und mehr Tote in den eigenen Reihen zu verzeichnen hat als die Polizei im übrigen Land, vielleicht sogar der ganzen Welt. 2007 haben Rios Sicherheitskräfte 1 330 Menschen getötet, das sind fast vier jeden Tag.2 Im selben Zeitraum wurden 151 Polizisten ermordet, alle zweieinhalb Tage einer. Das sind makabre Rekorde. Seit 25 Jahren herrschen in den Favelas Drogenbosse, die mit Maschinengewehren Heere von Kriminellen kommandieren und auf Polizeieinsätze mit brutaler Gewalt reagieren.2
Ich wollte herausfinden, woher diese Brutalität kommt und welche Rolle die Ausbildung der Polizisten und das soziale und kulturelle Umfeld ihrer Herkunft spielen. Das konnte ich nur, wenn ich den Alltag eines Polizisten mit dem niedrigsten Dienstgrad ungefiltert erlebte. Ich wollte die PM kennenlernen, ihre Ideologie, wollte wissen, wie Männer ausgebildet werden, die für 300 Euro im Monat täglich anderen den Tod bringen oder den eigenen riskieren.
Die PM von Rio zählt 38 000 Leute, ihr fehlen ungefähr 12 000. Innerhalb des brasilianischen Systems ist die uniformierte PM die sichtbarste Präsenz der Staatsgewalt. Für Ermittlungen ist die Polícia Civil mit ihren etwa 12 000 Angehörigen zuständig.
Abknallen wie im Kino
Die Aufnahmeprüfung habe ich im Maracanã-Stadion absolviert, einem der berühmtesten Fußballplätze der Welt. 25 000 Kandidaten, alle mit Gymnasialabschluss. Schon da vermittelte mir ein Armeereservist und Hilfspolizist eine erste Ahnung von der Geisteshaltung, die hier herrschte. „Wenn wir einen Straßendieb in einem Touristengebiet schnappen, gibt’s Prügel. Verprügeln ist einfacher als verhaften. Der Typ wird zur Seite genommen, das macht man nicht vor allen Leuten … Verhaften ist zu mühsam, da geht der ganze Tag für drauf, du kommst nicht zum Essen. Einmal war ich von mittags um eins bis um zehn auf der Wache.“ Ein anderer erzählte vom Einsatz an Spieltagen im Maracanã. „Manchmal gibt’s ’ne richtige Schlägerei. Aber Spiele sind gut, da kann man 5 Real (1,85 Euro) von den Schwarzhändlern kriegen, wenn man sie reinlässt.“
In der ersten Prüfung konnte nur ein Zehntel der Kandidaten die erforderlichen 50 Prozent der Fragen richtig beantworten. Ich war einer der 1 100 Bewerber für 2 000 freie Stellen, die sämtliche Prüfungen bestanden: ärztliche Untersuchungen, psychologische und körperliche Tests. Dass ich Reporter bin, wusste die PM. Es kümmerte sie nicht. Aber ein polizeiliches Führungszeugnis musste ich beibringen, eine Bescheinigung über Schuldenfreiheit und acht „Erklärungen über Wohlverhalten“. Und über sieben Monate immer wieder Schulung und Training.
Wir mussten dann zu einer bestimmten Uhrzeit da sein, wussten aber nicht, wann wir wieder gehen konnten. Die Kandidaten beschwerten sich, sie kämen zu spät zur Arbeit oder verlören einen ganzen Tag, nur um das Ergebnis einer Zwischenprüfung zu erfahren.
Während der Ausbildung ging ich, frisch rasiert, das Haar ultrakurz, morgens um sechs aus dem Haus und kam abends um sieben erschöpft zurück. Ich begriff, dass die Polizei tödliche Gewalt toleriert, mitunter sogar dazu anhält und dass sie versucht, Korruption zu unterbinden. In der Zeit hatte ich Albträume von Märschen und Soldatenliedern, die ich auswendig lernen musste.
„Schießerei in der Favela … Der Ganove ergibt sich. Soll ich den festnehmen? Nee, den knall ich ab!“, sagt ein Rekrut neben mir. Ein anderer stimmt ihm zu. „Klar, dass ich den abknalle. Der Typ hat deinen Kollegen verletzt und auf dich geschossen, und jetzt sitzt er in der Falle und hebt die Hände: ‚Okay, ich hab verloren!‘ Von wegen ‚verloren‘! Abgeknallt wird der!“ Ich versuche zu argumentieren, das sei nicht legal, Aufgabe der Polizei sei, die Leute festzunehmen. „Wenn du den nicht umbringst, hast du ein Raubtier im Käfig, das dich später wieder angreift. Du kennst doch die Justiz in Brasilien. Der Typ sitzt zwei Jahre, dann kommt er raus. Wenn er dich sieht, bringt er dich um. Ist nicht erlaubt, aber so ist es.“ Der Erste klopft mir auf die Schulter. „Wenn du mit deiner ‚Festnehmen‘-Nummer bei der PM ankommst, rate ich dir, ordentlich zu beten! Menschenrechte für alle, die selber menschlich sind!“
Ein großer Teil der Anwärter hat Verwandte oder Bekannte bei der PM. Gewalt und die Angst zu sterben gehören offenbar schon lange zu ihrem Leben und ihrem Weltbild. Offiziell duldet die PM weder Korruption noch sonst irgendwelche Straftaten. Aber auf jeden getöteten Polizisten kommen mehr als 40 getötete Zivilpersonen. Für die Ausbilder ist das die Normalität in Rio. „Schießerei. Der Gangster wird umzingelt, die Munition geht ihm aus. Er wird abgeknallt. Das ist üblich. Was soll man sonst machen? Festnehmen? Ich sag ja nicht, dass man töten soll … Das muss jeder selbst entscheiden.“
Nach Ansicht von Experten und der UNO bedeutet diese Zahl, dass gezielt hingerichtet wird. Einer fragt bei der Ausbildung, ob Mordszenen wie in dem Film „Tropa de Elite“4 tatsächlich vorkommen. „Kino ist Kino. Wenn du was falsch machst und es kommt raus, wirst du bestraft“, sagt der Ausbilder. „Aber dass so was täglich vorkommt, ist wohl klar, oder? Das lernt ihr dann im Einsatz: Wenn du einen von hinten erschießt, legst du ihm die Waffe in die Hand, drückst einmal ab und gibst Notwehr an. Aber das ist im Einsatz, hier ist nicht der Ort, so was zu lernen. Die Schusswaffe ist zur eigenen Verteidigung und dem Schutz Dritter da. Und nur dafür.“ Der Unterricht wechselt zwischen persönlichen Kommentaren wie diesem und offiziellen, korrekten Anweisungen. „Die Waffe darf man nur in Notwehr einsetzen. Man darf nie von hinten schießen. Absurd? Ja. Ist aber nun mal verboten. Gewalt darf nur mäßig und im angemessenen Verhältnis angewandt werden.“ Das sagt derselbe Ausbilder. Ein Anwärter bemerkt dazu: „Das Problem sind dann die Menschenrechtsgruppen.“
Ein anderer redet wie ein Maschinengewehr begeistert von Kriegsszenen, die er auf Discovery Channel gesehen hat. „Schießerei im Irak, Alter – die Typen hinterm Panzer ballern voll drauf los! Der Blackhawk in der Luft, ratatatata, ein Höllenkrach, irre … Ich krieg jetzt noch ’ne Gänsehaut, Scheiße, Mann! Der Typ mit seiner 50er, wie der schießt, mit seiner Riesenbrille und aufgerissenen Augen … Mann, das möchte ich mal erleben!“ Er ist so begeistert, dass die anderen verstummen. „Ich hasse Gangster! Hab die schon immer gehasst, aber jetzt hass ich sie noch mehr. Ich will zum Bope!“5
Einer sagt, er will sich eine zweite Waffe besorgen. „Klar! Ich knall doch keinen mit der Waffe von der PM ab!“ Am Ende des Unterrichts sagt ein anderer lachend: „Ob mir das Töten Spaß machen wird? Und wie! Bei jedem Gangster, den ich abknalle, werde ich Gott danken: ‚Danke, lieber Gott, dass du mir diesen Gangster geschickt hast.‘ “
Todesangst im Bus
Die Gewalt ist ein Teil des Lebens der Cariocas, der Einwohner von Rio de Janeiro, auch ohne Polizeikarriere. Ein Anwärter zieht sein T-Shirt hoch und zeigt eine Narbe, die vom Brustkorb über den Bauch bis unter den Nabel reicht. Sie sieht wie eine Comiczeichnung aus, so deutlich sind die Nahtstiche zu sehen. Schief grinsend erzählt er, wie er beinahe gestorben wäre, als er mit einem befreundeten Polizisten von Drogengangstern in eine Favela verschleppt worden war. „Der Dealer hat auf meinen Freund geschossen. Ich bin wie ein Verrückter gerannt, die Typen haben weitergeballert. Ich hab zwei Schläge gespürt, bin aber weitergelaufen, bis ich draußen war, voll mit Adrenalin. Eine Kugel hat mich im Rücken erwischt und eine im linken Arm.“ Drei Monate lag er im Krankenhaus. Alle hören regungslos zu. „Hast du dir die Kugel aufgehoben?“, fragt einer. „Wozu? Ich hab ja die Narben. Die Narben und den Hass in meinem Herzen. Wenn ich einen von denen erwische, mach ich kurzen Prozess.“
Die PM von Rio, der so oft Korruption und Gewaltmissbrauch vorgeworfen wird, bietet während der Ausbildung insgesamt zwölf Unterrichtsstunden „Ethik und Menschenrechte“ an – von insgesamt 1 160 Stunden. „Zu wenig“, räumt der Lehrer ein.
Der Besuch eines Reporterteams gleich am ersten Tag, noch während der Auswahl, wird zum Sinnbild für die Angst eines Polizisten in Rio. Der Major hat gewarnt: „Hat einer Lust, ein Interview zu geben? Wohlgemerkt, keiner muss sich hier fotografieren lassen. Das ist immer ein Risiko.“ Schweigen. Erst nach langen Sekunden meldet sich ein Freiwilliger, dann noch zwei, von insgesamt 300. Aus Furcht vor Repressalien seitens der Kriminellen wollen die meisten sich nicht exponieren. Der Einzige, der sich vor die Kamera stellt, wird verspottet: „Der weiß noch nicht mal, ob er Polizist wird“, sagte einer, „aber er kommt schon mal in die Zeitung. Nachher steht dann da: Toter Polizeianwärter fälschlich für PM gehalten.“ Der Freiwillige rechtfertigt sich: „Verbrecher müssen sich verstecken, aber ein Polizist doch nicht! Ist sogar gut so, dann wissen die Dreckskerle schon, wer ihnen mal die Grütze aus dem Kopf pustet.“
Rio erlebt einen Privatkrieg zwischen Polizisten und Verbrechern, ihre Waffen verbreiten Blut und Hass. Da die Verbrecher in der Favela wissen, dass es häufig ihren Tod bedeutet, wenn sie sich ergeben, leisten sie heftigen Widerstand, wenn die Polizei in ihr Terrain eindringt. Ergebnis: Noch mehr Kugeln fliegen, auch viele verirrte Kugeln, Verletzte und Tote auf beiden Seiten und unter Unschuldigen, die die Polizei für Kriminelle hält.
Auf unbekanntem feindlichen Terrain macht ein Polizist, der im Stress ist, noch mehr Fehler. Wenn die Macht anders verteilt ist, in der Stadt, liefert die Uniform das Angriffsziel für die Gangster. Polizeiautos werden überfallen, um Waffen zu erbeuten, und die Polizisten darin aus Rache erschossen.
In der ersten Woche spricht mich einer vor der Kaserne an: „Bloß ein Tipp: Wenn du so kurz geschorene Haare hast, geh nie in Jeans und weißem T-Shirt raus! Zieh was anderes an. Ein paar hat’s schon erwischt. 2005 auch einen aus meinem Jahrgang. Ein Haufen Leute mit so kurzen Haaren im Bus, da merkt jeder, dass die von der PM sind. Der Typ da drüben hat ein rotes T-Shirt an, sieht gleich anders aus.“ Die Paranoia ist groß. Die Kollegen auf Patrouille sehen in jedem Motorradfahrer mit einem anderen hinten drauf einen potenziellen Räuber. „Gib Gas! Gib ihm keine Chance!“
Die Ängste sind nicht unberechtigt. Die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, ist für einen Polizisten in Rio etwa elfmal so hoch wie für den Bevölkerungsdurchschnitt in Brasilien und sechsmal so hoch wie für einen erwachsenen männlichen Brasilianer. Von den im Jahr 2007 getöteten 151 Polizisten befanden sich nur 32 im Dienst; die anderen starben in ihrer Freizeit.
Als die Uniformen ausgeteilt werden, warnt ein Offizier die aufgekratzte Truppe: „Ich sehe hier eine Menge Stiefel. Warum wollt ihr mit denen nach Hause gehen? Das ist ein unnötiges Risiko! Ich bin total dagegen, das ist gefährlich. Wozu wollt ihr mit den Dingern im Bus sitzen? Ihr seid alle aus Rio, da muss ich ja nicht viel erklären, oder?“ Ein Sargento sagt: „Die Sorge werdet ihr euer Leben lang nicht mehr los …“ Trotz der Warnung behalten die meisten die Uniformstiefel an, sie wollen sie der Familie und der Freundin zeigen und sich damit fotografieren lassen.
Viele Polizisten kommen bei Überfällen ums Leben, weil sie an ihrer Uniform, der Waffe oder ihrem Ausweis als Polizisten erkannt werden. Die Ausbilder geben Tipps: Im Auto die Uniform auf links gedreht in einem Rucksack in den Kofferraum oder unter den Rücksitz legen. Im Bus hilft nur „feste beten“. „Die Polizeimarke im Personalausweis verstecken. Wenn’s dumm läuft, alles aus dem Fenster werfen. Rucksack, Kleidung, Brieftasche … alles aus dem Fenster. Ich bin mal überfallen worden, aber da hatte ich zum Glück meine Waffe vergessen.“ Ein anderer Ausbilder rät allen, sich ein Auto anzuschaffen: „Nicht zu Fuß gehen, nicht mit dem Bus fahren, das Risiko ist zu groß. Bus ist ganz übel, wenn’s mal sein muss, dann betet zu allen Göttern und Heiligen.“
Kurz vor der Aufnahme in die PM warnt uns der Sargento: „Überlegt euch jetzt genau, wo ihr hingeht. Ihr seid fast Polizisten, und Ganoven laufen genug herum. Wenn ihr sie jetzt beseitigen könnt, bevor ihr zur PM gehört und sie festnehmt, dann macht es.“
Ein Teil der Anwärter hat gar nicht die Absicht, bei der militärisch strukturierten PM zu bleiben. Mit ihren niedrigem Gehältern und dem hohen Risiko ist die PM ein Sprungbrett für besser bezahlte und weniger gefährliche Jobs. Viele Anwärter haben einen Hochschulabschluss oder ein halbes Studium; außerdem gibt es etliche ehemalige Soldaten und Reservisten. Ein Exinfanterist, jetzt Jurastudent, sagt: „Bleib nicht hier hängen! Ich jedenfalls werde hier nicht alt. Sobald ich kann, gehe ich.“
Mit der zunehmenden Gewalt sind die Einsätze der PM aggressiver geworden. „Wenn du das Risiko nicht möglichst kleinhältst, kommst du eines Tages vielleicht nicht mehr nach Hause. Rio ist nun mal der gefährlichste Bundesstaat, da hilft nichts. Hier herrscht wirklich Krieg. Wenn du nicht gut vorbereitet bist, gehst du drauf“, sagt ein Anwärter. „Die Waffe immer im Anschlag. Nicht schön? Mag sein. Nur, wer sitzt denn zwölf Stunden am Tag im Streifenwagen und ist in Gefahr? Mit Verlaub, aber wer will schon nachts seinen Arsch riskieren? Rio ist nicht Minas Gerais.“
Ein Anwärter fragt, ob er schießen soll, wenn einer bei einer Razzia abhaut. „Natürlich nicht! Manche Leute sind schreckhaft. Die PM müsste eigentlich Nagelbretter haben, hat sie aber nicht. Auf keinen Fall schießen … hinterherfahren. Was willst du sonst dem Richter erzählen!?“ Die gegensätzlichen Haltungen – die offizielle, legale und die inoffizielle, illlegale – verunsichern die jungen Polizisten. Im Einsatz fehlt ihnen das Training, sie sind zu nervös. Dann folgen sie dem Gesetz der Straße.
Wenn der Gouverneur von „Politik der Konfrontation“ spricht, verstehen diese Polizisten, dass sie töten dürfen und dass die Politik kein Interesse daran hat, dass die Zahl der – selten untersuchten – Todesfälle unter kriminellen wie unschuldigen Zivilpersonen bei Polizeieinsätzen zurückgeht.
Irrtümer sind an der Tagesordnung. Im Jahr 2008 wurde der dreijährige João Roberto auf dem Kindersitz im Auto seiner Mutter von der Polizei erschossen, ebenso ein weiterer Mitfahrer. Ebenso erging es dem 36-jährigen Luiz Costa, einem harmlosen Büroangestellten, als er in seinem Auto unterwegs war. Sie alle wurden für Verbrecher gehalten. Beide Vorfälle wurden gefilmt, der eine von Überwachungskameras eines Hochhauses, der andere von einem Fernsehteam.
Die Art der Polizeieinsätze variiert von Stadtteil zu Stadtteil. Ausbilder und Anwärter räumen ein, dass die Polizei sich in den besseren Gegenden anders aufführt als an der Peripherie. Einer macht es vor: „In der Zona Sul sagt der Polizist sogar: ‚Guten Abend, Senhor.‘ An der Peripherie geht das so: ,Rück das Zeug lieber gleich raus, weil wenn ich was finde, bist du geliefert! Raus aus dem Auto, los!‘ “
Der Sargento zuckt die Achseln: „Willst du mit den schicken Leuten in Ipanema vielleicht genauso umgehen wie mit denen in Jacaré? Das kommt doch auf die Situation an, wie gefährlich die Gegend ist, welche soziale Schicht. Wenn du denen in der Favela den Rücken zudrehst, fängst du dir ’ne Salve ein.“
Beim Training brasilianischer Polizisten durch US-amerikanische Spezialeinheiten (Swat) sagte ein Mitglied dieser Einsatzgruppe zu meinem Erstaunen, in dreizehn Jahren Einsatz bei Geiselbefreiungen habe er nicht einen einzigen Schuss abgegeben. „Technik und Tempo statt Gewalt“, erklärte er.
Bei der Ausbildung lernen die angehenden Polizisten, dass sie nur in Notwehrsituationen und zum Schutz Dritter schießen und beim Einsatz von Gewalt auf die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ achten sollen. Das setzt voraus, das einer seine Waffe beherrscht. Die Rekruten haben zum Üben mit der Pistole, dem Revolver und dem Gewehr nur jeweils vierzig Schuss.
Ein Hamburger zur Bestechung
„Ich hab echt die Nase voll von diesen Polizisten mit Goldkette, nagelneuem Auto, der schärfsten Blondine vom Viertel und einer illegalen 9er Glock im Hosenbund“, regt sich ein Ausbilder auf. „Die drücken damit 19-mal ab, aber der andere läuft immer noch weiter. Sogar wenn der steht, gehen von zehn Schuss neun daneben. Dann lieber eine 38er mit sechs Schuss, aber treffen.“
Der Schießlehrer hat auch eine Erklärung für die 234 verirrten Kugeln, durch die in Rio von Januar bis September 2007 sechzehn Menschen starben: „Gewehrmunition geht durch Wände und trifft, was sie nicht treffen soll.“ Auch der Revolver ist seiner Meinung nach für den Einsatz Rio wenig geeignet, weil er nur sechs Kugeln hat und während eines Schusswechsels schwer nachzuladen ist. „Der Spruch, ‚Wenn du’s mit sechs Schuss nicht schaffst, schaffst du’s nie‘, stimmt nicht. Wenn ich mit sechs Schuss nicht treffe, dann eben mit siebzehn. Wenn nicht mit siebzehn, dann mit 34 oder 68 … Ich schieße, bis es vorbei ist. Bis zum Tod“, sagt er, holt drei Pistolenmagazine aus der Tasche und bindet sich noch zwei vom Bein.
Dass ein PM nicht bewaffnet sein könnte, ist für ihn völlig unvorstellbar. „Die Situation ist so, weil die Leute alle so passiv sind. Wenn alle anständigen Leute bewaffnet wären, sähe es in Rio anders aus. Brasilien kennt keine Waffenkultur. Ich habe eine Reportage über eine Familie in New Orleans gesehen, Vater, Mutter und zwölfjähriger Sohn, jeder mit einer Flinte in der Hand. Da will einer ins Haus? Na warte!“
Ein Bewerber sagt, noch im Auswahlverfahren, er wolle zum Bataillon seines Bruders, eines Offiziers. Ich frage, ob dessen Einsatzgebiet, zwei große Favelas mit Drogenhandel, nicht gefährlich sei. „Ach was! Alles bestens geregelt. Mein Bruder verdient 2 000 Real im Monat zusätzlich.“ Mit Drogen? „Mit den Geschäften und Kleintransportern.“ Der Bewerber wird nicht genommen, aber Fälle wie dieser beschäftigen die PM, und sie versucht, die Anwärter gegen Bestechlichkeit zu schulen. Die Kandidaten relativieren die ihnen vermittelten Werte schnell, sie sagen, „draußen“, „auf der Piste“ sei alles anders. „Der altgediente Sargento gibt dir Schmiergeld. Du sagst: ‚Nein, das will ich nicht!‘ Darauf er: ‚Mach keinen Scheiß, so läuft das hier, los, nimm das Geld und nerv nicht!‘ “ Ratschläge bleiben ohne Wirkung. „Ich will zum Verkehr, das bringt was ein“, sagt einer lachend. Die Anwärter erzählen sich, was man bei der Verkehrspolizei „abkassieren“ kann. „Einer hat mal ’ne Flasche Mineralwasser rausgerückt!“ Von einem anderen hat ein Polizist auf die Frage: „Na, mein Freund, was hast du zu bieten?“ einen Burger von McDonald’s bekommen. Alle lachen. Als es heißt, dass die PM als korrupt gilt, meint einer: „Ist doch ungerecht!“
In der ersten Woche, als die Rekruten gerade aus der Kaserne kommen, ruft eine junge Frau aus einem Auto: „Ihr Schweine! Schweine!“ Die PM hat ein gespanntes Verhältnis zur Gesellschaft. Sie hegt einen latenten Groll, weil sie ihrer Ansicht nach von denen, für die sie sich in Gefahr begibt, nicht die verdiente Anerkennung bekommt. „Die Leute sind undankbar. Keiner verteidigt die PM, nur die eigene Familie. Ihr könnt dazu beitragen, dass die Ablehnung weniger wird“, sagt ein Sargento. Ein Anwärter äußert sich: „Ein Schnösel wird angehalten, und was fragt er als Erstes? ‚Was kostet der Kaffee?‘6 Dann zahlt er 10 Real, aber wenn er weiterfährt, schimpft er auf den PM: ‚Korruptes Schwein!‘ Und er selber?“
Die PM sorgt sich um ihren Ruf, sie möchte ihr Brutalo-Image loswerden. „Beim Einsatz eine Maske tragen? Den Typen anbrüllen? Ihm sagen, er soll sich auf die Erde legen? Muss das sein? Ihm die Knarre an den Kopf halten? Nein. Aber im Anschlag halten. Ist vielleicht nicht schön, aber die Sicherheit des Polizisten geht vor.“
Der Groll stärkt den Korpsgeist. „Ein Code 800 ist das Wichtigste.7 Überfall auf eine alte Frau und dann Durchruf Code 800: Vergiss die Alte, hilf dem PM. Erst der Kollege. Keiner mag euch, nur euer Hund. Die ganze Stadt wird euch hassen; der Portier spendiert euch Kaffee, die Frau gibt euch einen Imbiss, aber alle hassen euch, sie tun’s nur wegen der Uniform.“
Der Anthropologin Jacqueline Muniz zufolge steckt die PM in einer unsicheren Situation. Sie hat keinen klar definierten Auftrag, sondern einen „Blankoscheck, den jeder nach Belieben ausfüllt“ und für den Fall der Fälle bereithält. „Es gibt weder politische Richtlinien für den Einsatz von Gewalt noch eine Rechenschaftspflicht. Wie kann ich auch jemanden zur Verantwortung ziehen, wenn die Spielregeln derart offen sind?“
Am Ende meiner sieben Monate Ausbildung und Auslese und eines Dienstmonats reiche ich meine Kündigung ein. Zwei Sargentas wollen mich zum Bleiben überreden. „Willst du gehen? Bist du sicher?“, fragt die eine im Befehlston. „Jawohl, Senhora.“ Woraufhin sie den anderen Anwärter, der mit im Raum ist, auffordert, später wiederzukommen. „Dann will ich mich mal um die Leiche kümmern … Du weißt, dass du jetzt eine Leiche bist, oder?“ Sie zeigt auf eine Tafel. Darauf steht „Friedhof“, darunter ein Totenkopf und die Nummern von vier Entlassenen, daneben Kreuze. Ich bin der Fünfte. In Ermangelung eines Computers – es gab zwar welche, aber keiner war an – schreibe ich meine Kündigung von Hand.
Der Raum, in dem ich das tue, hat an den Wänden und der Decke Wasserflecken, der Putz bröckelt, in den Ecken hängen Spinnweben. Eine Kakerlake auf dem Aktenstapel, drei kaputte Stühle mit Rissen im Polster. Im ganzen Gebäudekomplex sind die Sanitärräume schmutzig und stinken. In manchen gibt es kein Wasser, drei der acht kalten Duschen waren meistens kaputt, jeder Rekrut hatte sein eigenes Klopapier.
„Ist es denn so verdammt teuer, Klopapier und Insektengift zu kaufen“, brüllte ein Ausbilder, als er den Gestank schon von Weitem roch. Jeder spendierte daraufhin einen Real für Putzmittel für die Toiletten und den stickigen Unterrichtsraum.
Ein Krankenpfleger, der die Aufnahmeprüfung für eine andere Gruppe bestanden hat, kommt herein und fragt, ob er sich einschreiben und die Ausbildung für seine weitere Spezialisierung beginnen könne. „Ich möchte unbedingt zur Polizei.“ „Wenn du das wirklich unbedingt willst, bist du echt verrückt“, entgegnet die Sargenta lachend.
In der Kompanie verabschiede ich mich von den Sargentos. „Machen Sie’s gut, mein Freund. Gott behüte Sie! Vergessen Sie, was schlecht ist bei der PM, behalten Sie nur das Gute in Erinnerung. Reden Sie nicht schlecht über uns, erzählen Sie von den guten Sachen!“, sagt einer. Ich stehe stramm. „Lassen Sie das, Sie sind doch kein Soldat mehr!“
Ich bin frei, eine „Leiche“ und Gott befohlen. Einen knappen Monat bin ich PM gewesen. Als ich die Kompanie verlasse, sind nur noch 454 Rekruten im Ausbildungskurs.
Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner
Raphael Gomide ist Journalist bei der Tageszeitung Folha de São Paulo. Für diese Reportage erhielt er den Lorenzo-Natali-Preis der Europäischen Union.