07.08.2009

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Von der Antike in die Pampa von Alberto Manguel

Jorge Luis Borges hat einmal die Ansicht vertreten, Übersetzungen dürften nicht wörtlich sein. „Man begeht einen Fehler“, sagt Borges, „wenn man ignoriert, dass jede Sprache eine eigene Art darstellt, das Universum zu erfahren, das Universum wahrzunehmen.“1

Mit „Übersetzung“ bezeichnen wir den intimsten Akt des Lesens. Lesen ist immer auch Übersetzen, der Übergang von einer fixierten Form des Universums zu einer besonderen Art, es zu erfahren oder wahrzunehmen, von einer Darstellung der Textwelt (in geschriebenen Buchstaben) zu einer anderen (in gesehenen und gehörten Buchstaben). Jüngste Forschungen haben ergeben, dass wir mit dem Bereich unseres Gehirns, der für die Rezeption eines Textes zuständig ist, auch Formen und Entfernungen erkennen, das heißt, das Lesen ist vom physiologischen Standpunkt aus ein Übersetzen der äußeren Formen des Universums in imaginäre Bilder, die zugleich räumlich sind. So ist Lesen tatsächlich ein Übersetzen der äußeren Wirklichkeit in unsere eigene Erfahrungswirklichkeit.

Schon der Akt des Benennens ist Übersetzen. Wenn gesagt wird, dass, was wir da vor uns sehen, Señora Botella ist und nicht das stilisierte Profil eines Schwertfischs, dann übersetzt man ihr ansehnliches Äußeres in ein komplexes Bedeutungssystem, das wir aus Mangel an Zeit und Raum in zwei Wörtern zusammenfassen, „Señora Botella“, die ihrerseits mit all den ästhetischen, politischen, sozialen oder psychologischen Konnotationen aufgeladen sind, die diese Person ausmachen.

Wenn man „Hispanoamerika“ sagt, ist auch das eine Übersetzung. Die Zusammenfassung einer komplexen Geografie mit ihrer umfangreichen präkolumbianischen Geschichte, ihrer Kolonisierung, ihrer Unabhängigkeit, ihrer erneuten Kolonisierung, die Geschichte ihrer Städte und Flüsse, ihrer Literatur, Fabriken, Wege und des Lebens jedes einzelnen ihrer Bewohner. Dies und viel mehr noch steckt in einer Wortverbindung, die auf den italienischen Entdecker Amerigo und eine römisch geprägte Kultur zurückgeht. Jede Übersetzung ist Eroberung.

Eine der zahlreichen Etappen der Suche des amerikanischen Kontinents nach seiner pluralistischen und singulären Identität war die Zeit unmittelbar nach der Landung der Spanier. Zwischen den Sprachen der Einheimischen und der Sprache der Neuankömmlinge gab es Annäherung, Konfrontation, Dialog, Ausrottungsversuche, Forschungseifer und in gewissem Maße auch Anerkennung. Im Babel der amerikanischen Länder war es die Übersetzung, die auf vielerlei Weisen versuchte, den anderen und seine Sprache zu erkennen, sei es, um ihn zu verstehen, mit ihm in Dialog zu treten oder ihn zu vernichten.

Die Legende besagt, dass der erste Übersetzer Hispanoamerikas eine Frau war, Doña Marina oder Malinche, eine Ureinwohnerin, die als Dolmetscherin zwischen Hernán Cortés und Moctezuma fungierte. Die Malinche war die ideale Symbolfigur für die neue Problemstellung. José Cadalso schreibt im neunten seiner 1774 geschriebenen „Marokkanischen Briefe“, dies sei „ein vorzügliches Beispiel, wie nützlich das schöne Geschlecht sein kann, sofern es den ihm angeborenen Scharfsinn lobenswerten, hohen Zielen widmet.“ Dem patriarchalischen Standpunkt der Spanier kam es entgegen, dass sich der erste Versuch, die Sprache des anderen im kolonisiertem Gebiet zu verstehen, eines neuen Werkzeugs bediente, das „schwächer“ war als das männliche der Waffen.

Etwas Magisches wohnt dem Akt inne, mit dem das „Babel“ der Ureinwohner mittels der Verräterübersetzerin, der schönen Malinche, in die christliche Sprache umgewandelt wird. Sie entspricht der Selbstgerechtigkeit der europäischen Ästhetik, nach deren Parametern die Entdecker den Kontinent und ihre Rolle auf ihm beurteilen.

Mit der Unabhängigkeit der spanischen Kolonien wächst in Amerika auch der Wille, die Welt mit einer anderen Stimme festzuhalten. Das einheimische Spanisch unterscheidet sich nun immer stärker von dem in Spanien, indem es entweder in der Zeit stehen bleibt und sich weigert, veraltete Ausdrücke abzulegen, oder indem es wieder auf einheimische Ausdrücke zurückgreift oder neue für den eigenen Gebrauch erfindet. Das spezifische Spanisch Amerikas entsteht durch eine Art Parodie auf sich selbst, durch den Willen, ein Kostüm für sich zu finden, das weder die Sprache der Ureinwohner noch das Spanische ist und die Eigenschaften der Vermittlung, der Vermischung, des Brückenschlags zeigt. Man hat angeführt, dass die ersten wichtigen Beispiele für Übersetzung in Mexiko, Peru und Argentinien um 1800 auf die spanische Zensur zurückgehen, die für die westindischen Länder galt und die (ohne großen Erfolg) den Import von Erzählliteratur verbot.

Als Erbe der Gegenreformation, für die die griechische Sprache gleichbedeutend mit Ketzerei war, entschließt sich Hispanoamerika zunächst vor allem für Übersetzungen aus dem Lateinischen, stürzt sich jedoch bald auf die modernen Sprachen: auf das Französische und Italienische und in geringerem Maße auf das Englische. Pater Anastasio de Ochoa übersetzt Boileau, Racine, Petrarca und Beaumarchais; Sánchez de Tagle übersetzt Rousseau und Voltaire; Fray Servando Teresa de Mier übersetzt Chateaubriand; Castillo y Lanzas übersetzt Byron; Juan Antonio Miralla übersetzt Ugo Foscolo und Thomas Gray; Bartolomé Mitre übersetzt Dantes „Commedia“; José Martí übersetzt Victor Hugo und Thomas Moore. (Einige dieser Werke sind verlorengegangen.)

Der Venezolaner Andrés Bello stellt in dieser Zeit der spezifisch amerikanischen Lesarten eine Grammatik für Hispanoamerikaner zusammen und betont explizit in seinem Prolog: „Ich habe nicht den Anspruch, für die Spanier zu schreiben. Die Lektionen sind an meine Brüder gerichtet, die Bewohner Hispanoamerikas. Zwar erscheint es mir wichtig, die Sprache unserer Väter möglichst rein zu erhalten, als ein Instrument, das uns der Himmel für den sprachlichen Austausch gesandt hat, als ein brüderliches Band zwischen den verschiedenen Nationen spanischen Ursprungs, die über zwei Kontinente verteilt sind. Aber was ich ihnen anzubieten wage, ist kein abergläubischer Purismus (…) Eine Sprache ist wie ein lebendiger Leib: Sie bezieht ihre Lebenskraft nicht aus der bleibenden Gleichheit ihrer Elemente, sondern aus der bleibenden Einheitlichkeit ihrer Funktionen, die der charakteristischen Form vorausgehen müssen.“2

Die Form folgt der Funktion: Diese Aussage im Sinne Carrolls („take care of the sense, and the sounds will take care of themselves“: „sorge dich nur um das Was, und das Wie kommt von selbst“3) gilt in großem Maße für die literarische Übersetzung in Hispanoamerika. „Für wen übersetze ich?“ scheint das Motto zu sein, nach dem die Übersetzer dieses Kontinents, von der Malinche an bis heute, vorgehen.

Die Gauchos in der Oper

Dem Rat entsprechend, den Borges ein Jahrhundert später gab, dehnten die besten Übersetzer Hispanoamerikas den Begriff der nichtwörtlichen Übersetzung in geradezu erstaunlichem Maße. Es geht nicht mehr darum, bloß die Wörter einer Sprache in eine andere zu übertragen, indem man die Stoffseite umdreht, wie Cervantes vorschlägt, der Luis Zapata zitiert, welcher Horaz zitiert: „als betrachte man die flämischen Wandteppiche von der Rückseite“. Die Aufgabe ist anspruchsvoller, komplexer, erfindungsreicher: Es gilt, das Original in einer anderen Geografie zu rekonstruieren, die Landschaft mit einem fremden Text zu kolonisieren, einen Baum aus anderen Breiten in neuem Boden einzupflanzen.

Genau das tut zum Beispiel der Argentinier Estanislao del Campo, als er 1866 seinen „Faust“ veröffentlicht: („Faust: Eindrücke von Anastasio el Pollo bei einer Aufführung besagter Oper“)4 . Kurz zuvor hatte del Campo im Teatro Colón in Buenos Aires Gounods „Faust“-Oper angesehen. Aber die Idee, eine Opernhandlung von einem ungebildeten Gaucho nacherzählen zu lassen, war kein spontaner Einfall: Neun Jahre zuvor hatte del Campo schon eine Erzählung entworfen, in der ein Gaucho der Aufführung einer Puccini-Oper zusieht. Del Campos „Faust“ zeichnet sich – abgesehen vom parodistischen Humor und dem Charme der beiden Figuren Anastasio el Pollo und Don Laguna – vor allem dadurch aus, dass eine deutsche mittelalterliche Legende geistreich in die argentinische Provinz verpflanzt wird, nachdem zuvor Goethe sie in ein geistiges Manifest des 18. Jahrhunderts übersetzt hatte und danach Gounod in ein ästhetisches Statement des Second Empire. Estanislao del Campos „Faust ist etwas ganz anderes“:

„Hervor kam hinterm Vorhang / ein Mann, der Dokter war, / ich glaub, man hat gesagt, / der Mensch würd Faust genannt. / Soll keiner mir, seufzt er bedrückt, / mit Wissensplunder kommen: /denn innig liebt er eine Blonde, / die Blonde liebte nicht zurück. / Da kam der Mann ins Fluchen, / zerknüllte seine Mütze / und rief zur Unterstützung / herbei den Belzebuben. / Zu Ihren Diensten allezeit / steh ich auf Wunsch bereit, /der Teufel sagt zum Dokter, / und der war recht erschrocken. / (…) Der Dokter, recht verdattert, / erwiderte, zieh ab und Schluss. / ‚Den lob ich mir, den Medikus.‘ / ‚Genau, mein Herr Gevatter.‘ Der Teufel aber lockte / mit Spesen über Spesen, / er piesackte den Dokter / und konnt ihn überreden.“

Hier haben wir es mit einem glänzenden Beispiel der Übersetzung als Lesart zu tun. Denn es ist nicht der sprachliche Regionalismus, der Estanislao del Campos Lesern im Gedächtnis bleibt. Der ist natürlich präsent, aber der amerikanische „Faust“ bietet vor allem eine Synchronisierung auf ganzer Linie, eine Reinkarnation des Mythos. Alles verwandelt sich, um besser erhalten zu werden: nicht nur die Originalsprache (das Französisch der Verse, die Musik Gounods), sondern vor allem die „Art, das Universum zu erfahren, das Universum wahrzunehmen“, die Borges einforderte. Die Geschichte spielt in Wittenberg oder in einem Wittenberg, das im Teatro Colón in Buenos Aires rekonstruiert wurde, aber in den Augen des neuen Zuschauers ist die Bühne die Pampa, Faust ist der „Dokter“, Gretchen „die Blonde“, Mephisto der Belzebub. Und vor allem ist der Zuschauer der Gaucho, der Einheimische, der Mann der Lokalsprache, dessen neue „Art, das Universum zu erfahren“ alles verwandelt. Übersetzung als Lesart ist Metamorphose.

1974 veröffentlichte Borges in „El hacedor“ einen kleinen Text mit dem Titel „La trama“ (Der Spielplan). Ich will ihn ganz zitieren: „Damit an seinem Grauen nichts fehle, entdeckt Caesar, von den ungeduldigen Dolchen seiner Freunde an den Sockel eines Standbildes gedrängt, unter den Gesichtern und den Klingen das von Marcus Junius Brutus, der sein Schützling, vielleicht sein Sohn ist, und er wehrt sich nicht länger und ruft aus: ‚Auch du, mein Sohn!‘ Shakespeare und Quevedo nehmen diesen pathetischen Schrei auf.

Das Schicksal liebt die Wiederholungen, die Varianten, die Symmetrien; neunzehn Jahrhunderte später wird im Süden der Provinz Buenos Aires ein Gaucho von anderen Gauchos überfallen, und stürzend erkennt er einen seiner Schwäger, und mit sanftem Vorwurf und zögerndem Staunen (die folgenden Wörter muss man hören, nicht lesen): „Pero, che!“ Sie schlagen ihn tot, und er weiß nicht, dass er stirbt, damit eine Szene sich wiederhole.“5

Mensch, Junge, sagt Cäsar zu Brutus

Hören, nicht lesen. Aber wie soll man das übersetzen? Jahre später, als ich Borges’ Text mit kanadischen Freunden diskutieren wollte, versuchte ich, ihn ins Englische zu übertragen. Mehrere Schwierigkeiten waren unüberwindlich für mich. Die erste: der Titel. „Trama“ bedeutet auf Spanisch sowohl „Geflecht“ als auch „Handlung“, im Englischen muss es entweder das eine oder das andere sein. Die Ermahnung in Klammern („hören, nicht lesen“) bezieht sich auf das folgende „Pero, che!“: („Mensch, Junge!“) Einerlei welchen englischen Ausdruck wir dafür finden, er wird nicht zwangsläufig ein ebenso aufmerksames Hinhören erfordern. Zudem gibt es kaum eine Wendung , die so unübersetzbar ist wie „Pero, che!“, die eindeutig argentinischem Boden entsprießt und sich unmöglich auf einem anderen sprachlichen Feld anbauen lässt. „Pero, che!“ scheint dem argentinischen Wesen selbst zu entstammen, eine lakonische Klage, die an keinem anderen Ort auf Erden so ausgesprochen werden könnte. „Pero, che!“ sagt man weder in England noch in den Vereinigten Staaten, aber auch nicht in Spanien, Mexiko oder Kuba. „Pero, che!“ könnte fast als Definition für die neue Mischsprache dienen.

Zum Glück ist die Geschichte der Übersetzung eine Geschichte winziger Wunder. Talent, Intelligenz, Geschick, Erfahrung, Recherche, Zufall, all diese Faktoren spielen eine Rolle bei einer gelungenen Übersetzung, aber das Kriterium des Wunders ist als einziges unersetzlich. Auf diesem Gebiet des literarischen Schaffens gibt es ohne Wunder keinen Sieg.

Ich hatte mich bereits damit abgefunden, meine Übersetzung unvollendet zu lassen oder den kurzen Text mit einem schwachen Synonym für den unbezähmbaren Ausdruck abzuschließen. Zur Ablenkung las ich damals Chestertons „A Short History of England“, ein Werk, das Borges sehr gut kannte, und auf einmal stieß ich auf folgenden Satz: „Lange dachte man, der britische Staat, von Julius Caesar begründet, gehe auf Brutus zurück. Dem Kontrast zwischen der sehr prosaischen Entdeckung und dem sehr fantastischen Gründungsmythos haftet eindeutig etwas Komisches an, so als würde man Julius Caesars ‚Et tu, Brute?‘ mit ‚What, you here?‘ übersetzen.“8

Das „What, you here?“ Chestertons ist die vollkommene Übersetzung von Borges’ „Pero, che!“. Oder vielmehr ist Borges’ „Pero, che!“ die vollkommene Übersetzung von Chestertons „What, you here?“. Die Übersetzung als Lesart reist hier in zwei Richtungen: von der Quelle zum Originaltext und vom Originaltext zur Quelle, Wege, bei der Quelle und Original verschmelzen und sich neu definieren. Wer ist der Autor und wer der Übersetzer der Wendung? Borges oder Chesterton? Unmöglich zu wissen. Chronologie und Anachronismus taugen nicht als Kriterien für eine Übersetzung und ihre Quellen.

Die unendliche Aufgabe des Lesers, die universale Bibliothek zu durchlaufen, auf der Suche nach einem Text, der ihn definiert, vervielfältigt sich (sofern sich das Unendliche vervielfältigen lässt), wenn dieser Leser seine Rolle als Übersetzer akzeptiert. Dann verwandelt sich jeder Text, den man aus einer Seite fischt, in eine Vielzahl von anderen, die sich im Wortschatz des jeweiligen Lesers verändern, sich in anderen Kontexten, anderen Erfahrungswelten, anderen Gedächtnissen neu definieren, in anderen Bücherregalen neu anordnen. Dem fixierten Text auf der Seite stellt der Übersetzerleser einen Nomadentext gegenüber, der niemals Wurzeln schlägt. Dies ist das bewegende Paradox der Übersetzungskunst: Durch die ständigen Migrationen, durch die endlosen Erkundungen wird ein literarisches Werk etwas weniger flüchtig, weniger gefährdet, als es seiner Natur nach sein müsste, und erlangt auf wundersame Weise eine Art immanenter Unsterblichkeit.

Fußnoten: 1 Jorge Luis Borges, „El oficio de traducir“, in: „La Opinión Cultural“, Buenos Aires, 21. September 1975, abgedruckt in: Jorge Luis Borges, „El Sur“ (1931–1980), Barcelona (Emecé Editores) 1999. 2 Andrés Bello, „Gramática de la lengua castellana dedicada al uso de los americanos“ (1847), in: „Obra literaria“, Auswahl und Prolog von Pedro Graces, Caracas (Biblioteca Ayacucho) 1985. 3 Lewis Carroll, „Alice im Wunderland“, Frankfurt am Main (Insel) 1999. 4 Estanislao del Campo, „Fausto: Impresiones de Anastasio el Pollo en la representación de esta ópera“, Buenos Aires 1910. www.los-poetas.com/b/faust.htm. 5 Zitiert nach: „Der Spielplan“, in: „Borges und ich“, Gesammelte Werke, Bd. 6, München (Hanser) 1982. 6 G. K. Chesterton: „A Short History of England“, London (Chatto & Windus) 1917.

Aus dem Spanischen von Susanne Lange

Alberto Manguel stammt aus Argentinien und lebt als Dozent, Autor und Übersetzer in Toronto. Verfasser von u. a. „Kleine Geschichte des Lesens“, Berlin (Volk und Welt) 1998 und „Die Bibliothek bei Nacht“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2007.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2009, von Alberto Manguel