13.11.2025

Europas Illusion von der souveränen KI

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Europas Illusion von der souveränen KI

In der Hoffnung auf eine souveräne KI-Infrastruktur machen europäische Regierungen Unsummen locker. Doch diese Technologie ist abhängig von Prozessoren, die von US-Konzernen wie Nvidia oder AMD geliefert werden. Auch über die Nutzung der Daten haben die Regierungen keine Kontrolle. Von Souveränität kann also keine Rede sein.

von Evgeny Morozov

Franziska Goes, botanische Ordnung / bräunliche Laubfarbe, 2022, 140 × 120 cm, Acrylfarbe auf Leinwand
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Im Februar dieses Jahres proklamierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine neue Etappe der „nationalen Strategie für künstliche Intelligenz“. Der Plan sieht Investitionen in Höhe von 109 Milliarden Euro vor, unter Beteiligung von Staatsfonds der Vereinigten Arabischen Emirate, von kanadischen Pen­sions­fonds, US-Risikokapital und heimischen Konzernen wie Iliad, Orange und Thales.

Die drei französischen Unternehmen arbeiten alle mit Blackwell-Grafikprozessoren (GPUs) des US-Konzerns Nvidia. Der Tech-Gigant produziert die von den meisten KI-Entwicklern verwendeten Chips und ist damit, gemessen am Börsenwert, inzwischen zum wertvollsten Unternehmen der Welt geworden.

Auch Großbritannien hat im September einen 150 Milliarden Pfund umfassenden Tech Prosperity Deal beschlossen, und in Deutschland unterstützen – neben diversen Förderprogrammen – der Bund und mehrere Bundesländer das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Vom Nahen Osten bis Südost­asien läuft das nach demselben absurden Szenario: Das vollmundige Versprechen, man wolle die Abhängigkeit von den US-Technologien verringern, soll ausgerechnet mithilfe von Nvidia eingelöst werden – also durch den Kauf von Chips zu US-amerikanischen Bedingungen.

„Souveränität“ bedeutet neuerdings das Privileg, Schecks in eigener Währung zugunsten der USA auszustellen. Der CEO von Nvidia, Jensen Huang, tut alles, um diesen Zustand kollektiver Hirnvernebelung zu verstetigen. Bei seinen Auftritten bei KI-Gipfeln – in Lederjacke wie ein Motivationscoach von Harley-Davidson – verbreitet er wie ein Mantra die Botschaft: Jedes Land soll „Eigentümer der Produktionsmittel seiner Intelligenz werden“.

Die andächtig zuhörenden Finanzminister nicken dazu wie Kreditnehmer, die das Kleingedruckte im Vertrag lieber nicht lesen. Der Weg zum Heil bleibt bei Huang zwar im Ungefähren, aber die Botschaft ist klar: Kauft unsere Nvidia-Chips, um der Tyrannei von OpenAI und seinem Vorzeigeprodukt ChatGPT zu entrinnen.

Was der Hohepriester in seiner Predigt nicht erwähnt: Nvidia plant gerade Investitionen in Höhe von 100 Milliarden Dollar in jenes Monster, das Huang mit seiner Souveränitätsdoktrin angeblich unschädlich machen will. Dabei springen bei einer 10-Milliarden-Investition in OpenAI für Nvidia dank Chip-Käufen sage und schreibe 35 Milliarden heraus – eine Kapitalzirkulation, die wie geschmiert läuft und sich selbst perpetuiert.1 Und das Beste ist: Die Chips von Nvidia sollen künftig nicht verkauft, sondern verleast werden.2

OpenAI wiederum investiert in das Halbleiterunternehmen AMD (Advanced Micro Devices), den Hauptkonkurrenten von Nvidia, und fädelt zusätzlich Verträge ein, die ihm langfristig die Stromleistung von 20 Atomreaktoren sichern sollen – für die bescheidene Summe von einer ­Billion Dollar. Ein Großteil dieser Gelder wird wiederum an Unternehmen wie Nvidia und AMD fließen, an denen OpenAI beteiligt ist.

Solche inzestuösen Schachtelbeteiligungen werden aufgrund des Strebens nach Synergie nicht nur geduldet, sondern auch noch gefördert. Sie gelten üblicherweise als Vorboten einer Finanzblase. Inzwischen liegt die Verschuldung des KI-Sektors bei 1,2 Billionen US-Dollar und damit höher als die des Bankensektors. Damit droht eine Neuauflage der Finanzmarktkrise von 2008, mit Silizium und KI statt der Subprime-Hypotheken als Krisentreiber.

Selbst die Anbeter des Marktes können nicht erklären, wie dieses Mal die Quadratur des Kreises gelingen soll. Nach Prognosen von Morgan Stanley werden sich die Kosten für Rechenzentren bis 2028 auf 2,9 Billionen US-Dollar auftürmen. Die Tech-Giganten verfügen zwar über höhere Liquiditätsreserven als die meisten Staaten, dennoch sind es „nur“ 1,4 Billionen Dollar. Das heißt: Die fehlenden 1,5 Billionen US-Dollar müssen sie sich leihen.3

Als Geldgeber stehen Investmentfonds wie Blackstone, Apollo oder Pimco bereit, die sich auf relativ neue, hoch lukrative Finanzkonstrukte wie „Private Credit“ spezialisiert haben. Die nationale Souveränität wird also nicht nur an Nvidia verpfändet, sondern auch an die Kredithaie der Wall Street.

Und wie steht Washington dazu? Aus Sicht der Hegemonialmacht ist die „souveräne KI“ nicht der neueste Schwindel, sondern der letzte Akt eines Stücks, das seit mehr als hundert Jahren aufgeführt wird. Erster Akt Dollar-Diplomatie, zweiter Akt Öl-Diplomatie, dritter Akt Prozessor-Diplomatie. Jeder neue Akt mutet barocker an als der vorangegangene, aber die Akteure sind dieselben: der Staat USA und das US-Kapital, eng umschlungen bei ihrem ewigen Tango.

Der erste Akt spielt im frühen 20. Jahrhundert, als Washington den lateinamerikanischen Staaten einen sicheren Weg zu wirtschaftlicher Prosperität, soliden Finanzen und politischer Stabilität anpries. Mit solchen Zielen rechtfertigte Präsident Theodore Roosevelt 1905 die Übernahme der Zollverwaltung der Dominikanischen Republik durch die USA. 1912 ereilte Nicaragua ein ähnliches Schicksal: Nachdem das Land ein Darlehen bei dem Bankhaus Brown Brothers aufgenommen hatte, floss der Großteil seiner Zolleinnahmen nach Manhattan.

Als Nicaragua nicht mehr wie eine Tochterfirma behandelt werden wollte, schickten die USA ihre Marineinfanterie, die das Land von 1912 bis 1933 besetzt hielt. Die Wochenzeitung The Na­tion bezeichnete Nicaragua 1922 als „Republik der Brown Brothers“, nach der Brown Brothers Bank.

Der zweite Akt begann 1974, drei Jahre nachdem Richard Nixon die Konvertibilität des Dollar in Gold abgeschafft hatte, was die Abwertung der US-Währung einleitete. Im Juni 1974 schlug Außenminister Henry Kissinger den Saudis einen Deal vor: Sie könnten ihr Öl zu jedem ihnen genehmen Preis verkaufen, müssten den Handel aber ausschließlich in US-Dollar abrechnen und die Gewinne in US-Staatsanleihen anlegen. Der Geheimvertrag war mit impliziten Sicherheitsgarantien für Saudi-Arabien verbunden, aber auch mit der unmissverständlichen Drohung, man werde jede Verstoß als Verletzung der strategischen Interessen der USA betrachten.

Auf dieser Grundlage wurde zwischen 1974 und 1981 ein erheblicher Teil des Überschusses von 450 Milliarden US-Dollar, den die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) angehäuft hatte, in die US- Wirtschaft investiert. Mit jedem Petrodollar konnten die Vereinigten Staaten ­ihre Währungsdominanz weiter festigen. Und die Marine­infanteristen konnten zu Hause bleiben.

Am dritten Akt wird derzeit noch geschrieben. Aber was er beinhaltet, wird alle bisher bekannten Dimensionen sprengen. Es geht jetzt nicht mehr um den Handel mit Bananen oder Öl, sondern mit den Verarbeitungskapazitäten von Maschinen, die für ihre Operationen weniger Zeit benötigen als die Zentralbanken für das Drucken ihrer Banknoten. Auf die Republik der Brown Brothers folgt die Republik Nvidia.

Ein Teil der riesigen Geldströme wird in Krypto­währungen abgewickelt. Dabei muss jede Sorte von Stablecoins4 – wie Tether und USD Coins – nach dem Genius Act vom Juli 2025 mit US-Staatsanleihen besichert sein, egal ob sie in Dubai oder São Paulo aufgelegt wird. Paolo Ardoino, der ita­lie­nische CEO von Tether, erklärt unmissverständlich, seine digitalen Token seien „das effektivste Instrument, das jemals zur Stärkung der Hegemonie des Dollar geschaffen wurde“.5 Tatsächlich hält Tether US-Staatsanleihen in Höhe von 120 Milliarden Dollar.

Der mit dem Gesetz geschaffene Rechtsrahmen ermöglicht es der Trump-Administration also, die antisystemische Macht der Kryptos zu nutzen, um das Dollar-System zu konsolidieren. Das muss den Auguren paradox vorkommen, die bis vor Kurzem annahmen, Trump wolle den Dollar schwächen.

Der Nebenschauplatz der Kryptowährungen lenkt indes von der viel tieferen Umwälzung ab, die sich vor unseren Augen abspielt: den KI-Anwendungen, die den größten Teil der weltweiten Rechenkapazitäten verschlingen. Deshalb sind Nvidia-Chips für die KI-Entwickler ebenso elementar wie das saudische Rohöl für die Raffinerien, so wie es die nicaraguanischen Zolleinnahmen für Brown Brothers waren.

Von „souveräner KI“ zu sprechen, ist folglich so stimmig, als hielte man das Ende der deutschen Abhängigkeit vom Öl für gekommen, wenn Exxon alle Esso-Tankstellen in „Tankstellen der Freiheit“ umbenannt hätte.

Diese ganze US-Strategie wäre einfach nur zynisch, wenn sie nicht so gut funktionieren würde. Zum Auftakt wird eine Souveränitätskrise inszeniert, indem man den KI-Unternehmen einbläut: Hütet euch vor chinesischen Chips, eure Rechenzentren sind anfällig, die einzig sinnvolle Lösung ist die US-amerikanische Cloud. Und gleich darauf wird das Heilmittel mit einem Profit verkauft, der die Pharmaindustrie vor Neid erblassen lässt.

In Europa werden jetzt IT-Infrastrukturen für die „souveräne KI“ aus dem Boden gestampft, unter anderem mit Investitionen von BlackRock und dem emiratischen Fonds MGX. Auch dieses Geschäft hat sein Vorbild im Petrodollar-System. Auch dieses Mal kommt das Kapital aus der Golfregion und die diplomatischen Spielchen sind ebenfalls dieselben – nur die Ware ist eine andere. Mit den Techno-Dollars wird das Dollar-Recycling auf die nächste Stufe gehoben, wobei die Profitmargen nicht in Hundertstel Prozent gemessen werden, sondern oft mehrere hundert Prozent betragen.

Statt auf Kanonenbootpolitik setzt Washington heute auf Exportbeschränkungen. Statt Häfen mit Schiffsgeschützen zu bedrohen, droht man, den Serverzentren den Saft abzudrehen. Um die eigene Finanzarchitektur zu schützen, muss man eben Zähne zeigen.

Das bekam das niederländische Unternehmen ASML zu spüren. Anfang 2024 untersagte die US-Regierung dem weltweit einzigen Anbieter von Extrem-Ultraviolett-Lithografie-Systemen (EUV) zur Herstellung modernster Mikroprozessoren die Belieferung seiner chinesischen Kunden auch mit moderneren DUV-Lithografie-Maschinen und drohte an, bei Nichtbefolgung werde das Unternehmen den Zugang zu US-Software verlieren. Das würde die zum Teil weit über 100 Millionen Dollar teuren Lithografie-Systeme von ASML auf einen Schlag wertlos machen.

Die Drohung brachte dem Unternehmen zunächst ein großes Auftragsplus ein, denn die Kunden gaben noch schnell Bestellungen auf, ehe das Exportverbot in Kraft trat. So stieg der Umsatz mit China von 29 Prozent des globalen Umsatzes im Jahr 2023 auf 36 Prozent im Jahr 2024. Doch das dicke Ende kommt natürlich nach: Für 2025 rechnet ASML mit einem 48-prozentigen Rückgang des China-Umsatzes auf 20 Prozent. Eingeklemmt zwischen US-Richtlinien und chinesischen Beschränkungen für den Export von seltenen Erden, rechnet ASML laut einem Bericht auf Bloomberg vom 10. Oktober mit Lieferverzögerungen von mehreren Wochen.

Die niederländische Regierung ging – auf eigene Initiative oder auf Drängen Washingtons – noch einen Schritt weiter. Am 12. Oktober, drei Tage nach der Ankündigung Pekings, die Exportkontrollen für seltene Erden zu verschärfen, übernahm sie die Kontrolle über das in Nijmegen angesiedelte Unternehmen Nexperia, das seit 2019 in chinesischem Besitz war. Der CEO Zhang Xue­zheng wurde durch einen „nichtchinesischen“ Direktor mit erweiterten Befugnissen ersetzt. Die Verwaltung der Unternehmensanteile übernahm ein unabhängiger Treuhänder.

Dieser „Geniestreich“ hatte zur Folge, dass Nexperia erklärte, die Versorgung mit Mikroprozessoren nicht mehr garantieren zu können – mit fatalen Folgen für die deutschen Autobauer. Inzwischen deutet das chinesische Handelsministerium Entgegenkommen an.

Die antichinesische Politik der US-Regierung begann nicht erst mit Trumps zweiter Amtszeit. Bereits 2024 hatte Joe Bidens Handelsministerin Gina Raimondo an die Adresse der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) erklärt, der in Abu ­Dhabi ansässige Technologiegigant G42 müsse sich „zwischen den Vereinigten Staaten und China entscheiden“. Im Klartext: Lasst die Diversifizierung oder tragt das Risiko. Entscheidet euch.

Daraufhin verschwanden Huawei-Komponenten im Wert von 1,7 bis 2 Milliarden US-Dollar von den G42-Servern.6 Und Microsoft stieg mit 1,5 Milliarden US-Dollar als Partner bei dem VAE-Unternehmen ein. Das abtrünnige Verhalten war damit gleichsam verziehen.

In jedem Fall bleibt gemäß dem US-Gesetz zur Klärung der rechtmäßigen Nutzung von Daten im Ausland (CLOUD, Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act) die „souveräne“ Cloud von G42 US-amerikanisch: Die Daten liegen zwar in Abu Dhabi, die zuständigen Gerichte jedoch sitzen in den USA.

Das CLOUD-Gesetz führt den Begriff der Souveränität vollends ad absurdum. Im Juni 2025 wurde bei einer Anhörung vor dem französischen Senat der Direktor für öffentliche und rechtliche Angelegenheiten von Microsoft France gefragt, ob er garantieren könne, dass die Daten französischer Bürgerinnen und Bürger niemals ohne Zustimmung von Paris an die US-Regierung weitergegeben würden. Nein, antwortete er tapfer, „das kann ich nicht garantieren“.

Washington hat noch weitere Instrumente parat. Mit der Foreign Direct Product Rule (FDPR) wird die Souveränität der USA bis auf die Ebene der kleinsten Teilchen ausge­weitet. Sobald bei der Produktion eines Chips, eines ­Wafer oder einer Schraube Forschungsgelder oder Software aus den USA im Spiel waren, greift das Prinzip der Extraterritorialität des US-Rechts.

Und es könnte noch besser kommen. Sollte der im Mai 2025 eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Chipsicherheit (Chip Security Act) verabschiedet werden, müssten auf den H100- und B200-Chips von Nvidia Standorttracking-Systeme installiert werden. Die Verwendung solcher Systeme durch das chinesische Unternehmen Huawei hat der Westen immer als Einbau von Spionagetechnologie gebrandmarkt. Der Chip Security Act würde dieselbe Überwachungstechnik zur offiziellen Politik machen – aber nur für Chips made in USA.

Angesichts dessen fragt man sich, wie Emmanuel Macron den Vertragsabschluss des französischen KI-Unternehmens Mistral AI mit Nvidia am 11. Juni 2025 mit seiner Anwesenheit beehren und an der Seite von Nvidia-CEO Huang den „Kampf für die Souveränität“ beschwören konnte.

Das Imperium, von dem hier die Rede ist, stützt sich nicht mehr auf die Soldaten, die schickt man nur in die armen Länder. Es stützt sich auf die lokalen Eliten, die in ihrer Unterwerfung eine Begeisterung an den Tag legen, bei der sich jeder alte Kolonialbeamte geniert hätte. Genau hier zeigt sich die unabweisbare Logik: In einer monopolistischen Welt kommt Diversifizierung einem Selbstmord gleich. Als einzige rationale Option bleibt, sich als bevollmächtigter Vertreter des Monopols anzudienen.

Mao benutzte die in der marxistischen Theorie gebräuchliche Kategorie „Kompradorenbourgeoisie“ für die Klasse, die sich durch Vermittlungsdienste zwischen ausländischem Kapital und nationaler Wirtschaft bereichert. Im früheren China stammten die Profite aus dem Opiumhandel, heute wird mit Rechnerleistungen gehandelt, aber die Gewinne sind ähnlich üppig.

Schwarz-rot-goldene Schleife für die Microsoft-Cloud

Wie weit das gehen kann, zeigt das Beispiel der japanischen Investmentgesellschaft Softbank Group, die an IT- und Kommunikationsunternehmen in aller Welt beteiligt ist (von Alibaba bis Deutsche Telekom). Ursprünglich leitete sie die Gelder ihrer japanischen Kundschaft in inländische Start-ups. Das war vor ihrer globalen Orientierung.

Im Frühjahr 2025 kündigte Softbank Investi­tio­nen in Höhe von 48 Milliarden Dollar in den US-amerikanischen KI-Sektor an, vor allem in OpenAI. Allerdings verfügt die Investmentgesellschaft lediglich über liquide Mittel von 31 Milliarden Dollar, den Rest muss sie sich leihen. Nichts leichter als das: Als sie bei japanische Banken um Kredite von 13,5 Milliarden US-Dollar ersuchte, um ihre nächste US-Investitionsorgie zu finanzieren, boten diese dem Unternehmen 27 Milliarden an, also das Doppelte.

Ein weiteres Beispiel ist die Deutsche Telekom. Ihr Vorläufer, die Deutsche Bundespost, bediente die deutsche Wirtschaft noch mit der Verlegung von Kupferleitungen. Heute wirbt die Telekom für ihre „weltweit erste industrielle KI-Cloud“7 , die bis 2026 fertig sein soll. Das Projekt basiert auf 10 000 Hochleistungschips von Nvidia, die im kalifornischen Santa Clara entwickelt, in Taiwan produziert und im Steuerparadies Delaware versteuert werden.

Die Deutsche Telekom und Nvidia wollen in München eine „KI-Gigafactory“ errichten: ein 1 Milliarde teures KI-Rechenzentrum.8 Die ­Deutsche Telekom gehört nur zu 28 Prozent dem deutschen Staat, aber zu 54 Prozent diversen Investmentfonds (wie BlackRock). Die staatliche Souveränität ist auch hier nur Fassade; und die Gewinne gehen größtenteils über den Atlantik.

Diesen Machtverhältnissen mussten sich selbst die hartnäckigsten Gegenspieler beugen. Chinesische Giganten wie ByteDance, Alibaba oder Tencent, die sich eigentlich an die Prioritäten der chinesischen Politik halten sollten, horten diskret geschmuggelte Nvidia-Chips. Und das trotz des Drucks aus Peking, trotz der Erfordernisse der nationalen Sicherheit und trotz der Existenz von billigeren, aber nach wie vor schlechteren Produkten von Huawei.

Die USA verfolgen gegenüber China eine Strategie, die sie nicht offen darlegen. Aber bei allem Taktieren lassen ihre Repräsentanten zuweilen doch die Masken fallen. Am 15. Juli 2025 erklärte Handelsminister Howard Lutnick in einer Rede in Pittsburgh ganz unverblümt, „was die Idee ist“: Man wolle „den Chinesen so viel verkaufen, dass ihre Entwickler von der amerikanischen Technologie abhängig werden“.

Peking reagierte nicht sofort, dann aber mit einem massiven Gegenschlag. Im September forderte die chinesische Regulierungsbehörde Huawei, Cambricon, Alibaba und Baidu auf, einen Leistungsvergleich ihrer eigenen Chips mit dem entsprechenden Produkt von Nvidia vorzunehmen, also mit den H20-Chips, die von den US-Exportbeschränkungen ausgenommen sind.

Das Resultat wurde umgehend vorgelegt und von höchster Stelle abgesegnet. Es lautete: Die chinesischen Alternativen erfüllen ihren Zweck. Daraufhin stornierte China alle noch nicht ausgeführten Nvidia-Bestellungen, und das ohne Verhandlungen und ohne Übergangsregelungen. Die implizite Botschaft war klar: Für einen Staat, der seine Souveränität kompromisslos verteidigt, wird Vertragstreue sekundär.

Peking hatte bereits im Januar 2025 eine Sensation präsentiert: das Chatbot-Modell DeepSeek R1, das extrem leistungsfähig ist und weniger Energie verbraucht als sein Konkurrent Chat­GPT. Die technologische Errungenschaft war dabei weniger wichtig als die politische Botschaft: Die Kommunistische Partei ist nicht auf Kom­pradoren angewiesen, die alles daran setzen, China dauerhaft von der US-Infrastruktur abhängig zu machen. Da hatte offenbar jemand Mao gelesen.

Allerdings relativiert sich die offizielle Lesart, wenn man erfährt, wie Huawei seine Ascend-910B-Chips produziert, die das Rückgrat der künftigen chinesischen KI bilden sollen.9 Huawei soll die US-Sanktionen umgangen haben, indem es über Strohfirmen mehr als 2 Millionen Halbleiterbauelemente des taiwanesischen Unternehmens TSMC erworben und in seine Chips integriert hat. Nach Ermittlungen von TechInsights sollen diese Chips auch Speicherkomponenten von Samsung und SK Hynik enthalten.

Der „Durchbruch“ gelang in diesem Fall also bei anhaltender Abhängigkeit von ausländischem Material und keineswegs dank chinesischer Au­tarkie. Statt sich mit der Unterwerfung abzufinden, stellte sich Peking auf die erschwerten Bedingungen ein. Der politische Wille hatte Vorrang vor der Optimierung der Lieferkette.

Genau das macht es anderen Ländern so schwer, das chinesische Vorgehen zu imitieren. Als der CEO von SoftBank 40 Milliarden Dollar nach Kalifornien pumpte, konnte die Regierung in Tokio nur applaudieren und das Vorhaben subventionieren. Als die Deutsche Telekom die Cloud-Plattform Microsoft Azure mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife drapierte, konnte die Berliner Regierung nichts tun, außer weiter von „Souveränität“ zu schwafeln.

Wenn dagegen die Regierung in Peking beschließt, eine Abhängigkeit zu beenden, dann geschieht das auch. Dann diskutieren die in allen großen Unternehmen platzierten Parteikader nicht mehr lang und breit über das „nationale Interesse“, sie stimmen einfach ab. Die Staatsbanken, die ihr Geld in den 95 Milliarden US-Dollar schweren chinesischen „Big Fund“ stecken, müssen sich nicht vor einer Aktionärsversammlung verantworten. Und die Halbleiterproduzenten sind auf Grundstücken angesiedelt, die per Dekret enteignet wurden.

Diese Strategie hat zwar ihre Kosten, etwa geringere Effizienz, langsamere Verbindungen, Schmuggelrisiken und Speicherknappheit. Aber diese Kosten werden von Bilanzen aufgefangen, die sie auf Jahrzehnte und nicht nur auf die nächsten Quartale verrechnen.

Dabei ist die Art, wie die chinesischen Institutionen funktionieren, keineswegs exotisch. Sie setzen schlicht ein Prinzip um, das die meisten Staaten aufgegeben haben: dass nämlich das nationale Interesse Vorrang vor Privatinteressen haben kann.

Die heutigen Kompradoren wiederum sind keine Banditen, die gegen ihre Regierungen agieren: Ihre Interessen decken sich mit denen der Hegemonialmacht USA, entsprechend verteidigen und fördern sie die amerikanische Prozessor-Diplomatie. Diese Unternehmen an die Kandare zu nehmen, würde bedeuten, gerade jenes System anzugreifen, das die „Kompradorisierung“ als logische Lösung hervorgebracht hat.

An diesem Punkt angelangt, geht es nicht mehr um Regulierungsfragen, sondern tatsächlich um einen geopolitischen Bruch. Damit stellt sich weltweit – von Berlin bis Brasília und von Kuala Lumpur bis Johannesburg – eine existenzielle Frage: Wenn der Preis für ein Bündnis die dauerhafte Unterordnung ist, lohnt es sich dann noch?

Wer Zugang zu den Märkten, seltenen Erden und KI-Modellen Chinas haben will, muss zwangsläufig das von Washington auferlegte Entweder-oder ablehnen und bei dem Spiel „sie oder wir“, „Abhängigkeit oder Isolation“, „Integration oder Exil“ nicht mitmachen.

Dann muss man allerdings auch bereit sein, die Konsequenzen zu akzeptieren, und die sind: Kapitalflucht, eingefrorene Vermögenswerte sowie eine Sicherheitsarchitektur, die feindselig wird, die von Zuckerbrot auf Peitsche umschaltet. In vielen Staaten fehlt es nicht an der Fähigkeit, Nein zu sagen, sondern an der Bereitschaft, die Folgen zu tragen.

Dies ist der tiefere Grund, weshalb die Schecks, die auf die Republik Nvidia ausgestellt sind, weiterhin eingelöst werden. Derweil schreibt in Santa Clara ein Mann in Lederjacke bereits an seiner nächsten Predigt – an die Adresse der nächsten Regierung, die nur zu bereit ist, Werbesprech und geopolitische Strategie miteinander zu verwechseln.

1 Jeremy Kahn, „Nvidia’s $100 billion OpenAI investment raises eyebrows and a key question: how much of the AI boom is just Nvidia’s cash being recycled?“, Fortune, New York, 28. September 2025.

2 Anissa Gardizy und Sri Muppidi, „In OpenAI megadeal, Nvidia discusses a new business model: chip leasing“, theinformation.com, 23. September 2025.

3 Tabby Kinder, „,Absolutely immense‘: the companies on the hook for the $3tn AI building boom“, Financial Times, London, 14. August 2025.

4 Zu Stablecoins siehe Frédéric Lemaire und Dominique Plihon, „Kryptos spalten die Welt“, LMd, September 2025.

5 Paolo Ardoino auf X, 25. Februar 2025.

6 Ben Bartenstein, Mackenzie Hawkins, Nick Wadhams und Dina Bass, „G42 made secret pact with US to divest from China before Microsoft deal“, Bloomberg, 16. April 2024.

7 „Für ein souveränes Deutschland: Telekom startet Industrial AI Cloud mit Nvidia“, Telekom, 4. 11. 2025

8 Jannis Brühl u. a., „Das steckt hinter den Plänen für das riesige KI-Rechenzentrum in München“, Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2025.

9 Ann Cao und Wency Chen, „Home-grown heroes: how Huawei and DeepSeek are helping China break reliance on US chips“, South China Morning Post, Hongkong, 27. September 2025.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Evgeny Morozov ist Direktor von The Syllabus, einer Plattform zur Auswahl und Aufwertung von Wissen. Sein neuestes Buch „Les Santiago Boys“ (Divergences, Quimperlé, 2024) basiert auf dem gleichnamigen Podcast.

Le Monde diplomatique vom 13.11.2025, von Evgeny Morozov