09.10.2025

Wie ein letzter Gruß

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Wie ein letzter Gruß

Die Anerkennung Palästinas durch Frankreich und andere EU-Staaten kommt viel zu spät

von Benoît Breville

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Noch im Mai 2024 wollte Emmanuel Macron für die Anerkennung des Staates Palästina einen „geeigneten Zeitpunkt“ abwarten. Als Spa­nien, Irland und Norwegen damals diesen Schritt machten, meinte der Präsident, für Frankreich komme das noch zu früh.

Zu früh? Die Zerstörung des Gaza­strei­fens war ja erst acht Monate im Gange; die Anerkennung Palästinas durch Schweden war ja erst zehn Jahre her; die Palästinenser selbst hatten ihre Unabhängigkeit auch erst vor 36 Jah­ren erklärt. Und richtig: Im Mai 2024 hatten erst rund 75 Prozent der UN-Mitgliedstaaten die Anerkennung vollzogen. Da konnte der französische Präsident gut noch etwas zuwarten.

Am Ende wurden es 16 Monate. Am 22. September 2025 verkündete Macron vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Anerkennung des Staates Palästina durch Frankreich – nach Kanada, Großbritannien, Australien und Portugal, die ihm um einen Tag zuvorgekommen waren. „Es ist an der Zeit, den Krieg, die Bombardierungen in Gaza, die Massaker und die Flucht der Bevölkerung zu beenden“, erklärte er.

Angesichts der 65 000 Toten und 170 000 Verletzten, angesichts von 90 Prozent zerstörten oder beschädigten Bauten fragt man sich, warum es nicht schneller gehen konnte. Schließlich hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) bereits am 26. Januar 2024 die „naheliegende Gefahr eines Völkermords“ in Gaza konstatiert, da die israelische Armee absichtlich Zivilisten töte, lebenswichtige Infrastrukturen zerstöre und das Gebiet unter permanenter Belagerung halte, ohne dass ein Zusammenhang mit dem offiziellen Ziel der Eliminierung der Hamas und der Befreiung der Geiseln erkennbar sei.

Im November 2024 sprach auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) von „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und erließ Haftbefehle gegen den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Joav Galant. In vielen Berichten und Analysen über den Gazakrieg ist von systematischer Zerstörung die Rede, bis hin zum Vorwurf des Völkermords.1

Eine vom UN-Menschenrechtsrat beauftragte Untersuchungskommission befand Mitte September, dass die von Israel begangenen Massaker vier von fünf Kriterien erfüllen, die nach der UN-Völkermordkonvention (­CPPCG) von 1948 einen Genozid definieren.2 Jenseits dieser juristischen Begutachtung sprechen die Befunde der UN-Experten für sich: Zehntausende palästinensische Zivilisten wurden in ihren Wohnungen, in Krankenhäusern, Schulen, Moscheen, humanitären Unterkünften oder bei der Verteilung von Lebensmitteln getötet. Hunderte Journalisten, Pflegekräfte und humanitäre Helfer wurden gezielt angegriffen.

Die Ermittler berichten auch über zahlreiche Morde an palästinensischen Zivilisten entlang der von der israelischen Armee vorgeschriebenen Eva­kuie­rungs­wege und in den angeblichen Sicherheitszonen. Dabei wurden auch Menschen getötet, „die eine improvisierte weiße Flagge schwenkten, und selbst Kleinkinder von Scharfschützen in den Kopf getroffen“.

Mit dem Einsatz ungelenkter Bomben gegen dicht besiedelte Gebiete wurden die sanitäre Infrastruktur, die Entsalzungsanlagen, öffentliche Gebäude, Entbindungskliniken und ein Großteil der Bäckereien fast vollständig zerstört. Ein Militärexperte erklärte gegenüber den UN-Ermittlern, Israel werfe über Gaza in einer knappen Woche mehr Bombenlast ab als die USA in ihrem früheren Afghanistankrieg innerhalb eines Jahres.

Hinzu kommt die fast vollständige Abriegelung des Gazastreifens. Israel hat die Versorgung der eingeschlossenen Bevölkerung mit Trinkwasser, Strom und Gas unterbrochen und die Einfuhr von Lebensmitteln, Treibstoff, Medikamenten und anderem medizinischem Material weitgehend blockiert. Humanitäre Organisationen werden gehindert, Hilfe zu leisten. Ein Viertel der Bevölkerung lebt unter Bedingungen, die einer Hungersnot gleichkommen, 39 Prozent haben mehrere Tage hintereinander nichts zu essen.

Dass all diese Handlungen absichtlich erfolgen, was eine Voraussetzung für die Einstufung als Völkermord ist, daran haben die Ermittler keinen Zweifel. Die israelischen Regierenden haben aus ihrer Absicht, den Gazastreifen und seine Bevölkerung zu vernichten, seit dem 7. Oktober 2023 nie einen Hehl gemacht. „An dem Tag erklärte Nissim Vaturi, Vizepräsident der Knesset: „Wir haben jetzt ein gemeinsames Ziel: den Gazastreifen von der Erde zu tilgen.“ Zwei Tage später begründete Verteidigungsminister Galant die vollständige Abriegelung des Gebiets mit dem ungeheuerlichen Satz: „ Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, also handeln wir entsprechend.“

Amnesty International hat zwischen Oktober 2023 und Juni 2024 mehr als hundert solcher Äußerungen gezählt, und danach ging es weiter. So erklärte etwa Netanjahus rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich am 6. Mai 2025: „Gaza wird vollständig zerstört werden.“ Die europäischen Staats- und Regierungschefs können also nicht behaupten, sie hätten nichts gewusst. Nach internationalem Recht wären sie verpflichtet, das zu verhindern, was der IGH eines Tages womöglich als Völkermord qualifizieren wird.

Und was hat die EU bislang getan? Nichts. Dieselbe Kommission, die am 19. September das bereits 19. Paket von Sanktionen gegen Russland verkündet hat, um Moskau für die Invasion in der Ukraine zu bestrafen, hat bislang keine einzige Maßnahme gegen Israel ergriffen. Zwar wären nur die USA in der Lage, die israelische Regierung zur sofortigen Beendigung des Gemetzels zu zwingen – nämlich durch Einstellung ihrer Waffenlieferungen. Aber auch die Europäer könnten im Rahmen ihrer Möglichkeiten handeln.

Die Union ist Israels wichtigster Handelspartner und sein zweitgrößter Waffenlieferant, die EU-Länder gehören zu den beliebtesten Reisezielen der Israelis. Die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten die Visumbefreiung für Israelis aussetzen und individuelle Sanktionen gegen die Verantwortlichen sowie ein Embargo für Militärgüter verhängen können. Sie könnten auch das Assoziierungs­ab­kommen zwischen der Union und Israel aussetzen, was in Artikel 2 des Abkommens für den Fall vorgesehen ist, dass eine der Parteien gegen die Menschenrechte und demokratischen Grundsätze verstößt.

Nichts davon ist geschehen. Stattdessen gestatten Frankreich, Italien, Griechenland und Belgien, dass Schiffe mit Waffen für Israel ihre Häfen anlaufen. Und Macron hat Netanjahu zweimal, im Februar und im April dieses Jahres, trotz des Haftbefehls des IStGH die Benutzung des französischen Luftraums gestattet.3

Überdies leisten die europäischen Staats- und Regierungschefs der israelischen Regierung weiterhin materielle Unterstützung. Im Rahmen des Programms „Horizon Europe“ gewährt Brüssel nach wie vor Subventionen an israelische Universitäten oder Unternehmen, die für das Militär arbeiten. Seit dem 7. Oktober 2023 hat die EU mehr als 130 Projekte dieser Art genehmigt, darunter mit Israel Aerospace Industries, einem der größten Rüstungshersteller des Landes.4 Sie gibt auch Geld für europäische Unternehmen, die Rüstungsgüter an die israelische Armee verkaufen, namentlich BAE Systems, Leonardo, Rheinmetall, Rolls­Royce, Nammo und ThyssenKrupp.

Seit Beginn des Kriegs konnte die Regierung in Tel Aviv auf fast uneingeschränkte politische Unterstützung zählen. Die Staats- und Regierungschefs der EU hielten sich an die is­rae­lische Rhetorik. Sie betonten beharrlich das „Recht Israels auf Selbstverteidigung“ auch dann noch, als Israel im Juni 2025 einseitig und ohne Vorwarnung Iran angriff. Nach wie vor wird auch Israels Staatspräsident Herzog in Europa in allen Ehren empfangen, etwa in Deutschland im Mai dieses Jahres, in den baltischen Ländern in August und in Großbritannien im September.

Dagegen erfahren die Unterstützer der Palästinenser, wenn sie einen Völkermord anprangern und die Einhaltung des Völkerrechts fordern, eine ganz andere Behandlung. In Frankreich, Deutschland und Italien wurden friedliche Demonstrationen verboten, Konferenzen und Benefizveranstaltungen abgesagt, Aktivistinnen und Politiker wegen angeblicher „Rechtfertigung des Terrorismus“ strafrechtlich verfolgt.

So leitete der französische Innenminister Bruno Retailleau am 30. April 2025 ein Verfahren zur Auflösung der Organisation Urgence Palestine ein, mit der fadenscheinigen Begründung, sie rufe zur Gewalt auf. Am 11. September durchsuchte die Polizei die Wohnung des Herausgebers der Website der Union juive française pour la paix (Französische jüdische Union für den Frieden). Kurz darauf, am selben Tag, an dem Macron die Anerkennung Palästinas durch Frankreich verkündete, wies Retailleau die lokalen Behörden an, gerichtlich gegen alle Gemeinderäte vorzugehen, die die palästinensische Flagge auf ihrem Rathaus hissen.

Von Polizei oder Justiz verfolgt, werden die propalästinensischen Aktivisten auch in den Medien verteufelt. Seit dem 7. Oktober 2023 werden die Abgeordneten und Parteimitglieder der Linkspartei La France insoumise fast täglich in den Sendern der Bolloré-Gruppe, in Le Point und Le Figaro, manchmal auch auf France Inter und in den Kolumnen von Le Monde oder Mediapart des Antisemitismus bezichtigt. Dieser infamen Anschuldigung ­waren auch die Kabarettisten Guillaume Meurice und Blanche Gardin, der Politikwissenschaftler Pascal Boniface, die Philosophin Judith Butler ausgesetzt. Und es kann jeden treffen: Ein einziges Wort, sei es auch noch so harmlos, kann eine Hetzkampagne auslösen.

Wer solche Kampagnen orchestriert und die israelische Propaganda verbreitet, genießt dagegen alle offi­ziel­len Ehren. Seit nunmehr zwei Jahren macht sich die Komikerin Sophia Aram im Radiosender France Inter über die Leute lustig, die den Völkermord in Gaza anprangern, und bezeichnet sie als „Idio­ten“, wobei sie natürlich Antisemitismus und Antizionismus gleichsetzt. Dafür wurde sie am 14. Juli dieses Jahres durch die Aufnahme in die Ehrenlegion belohnt, auf Vorschlag des Außenministeriums.

Im neuen Trump-Plan, der zu einem Waffenstillstand und zur Befreiung der israelischen Geiseln führen soll, wird ein palästinensischer Staat zwar erwähnt, aber konkrete Maßnahmen oder gar einen Zeitplan für die Umsetzung dieses Ziels sucht man vergeblich. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Ausbleibens von Sanktionen gegen Israel wirkt die Anerkennung Palästinas durch die französische und andere westliche Regierungen wie eine Wegzehrung für den Gang zum Begräbnis der palästinensischen Selbst­bestimmung. Wie ein letzter Gruß.

1 Siehe Akram Belkaïd, „Genozid-Vorwürfe mehren sich“, LMd, Januar 2025.

2 Siehe „Legal analysis of the conduct of Israel in Gaza pursuant to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“, Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, 16. September 2025.

3 Dagegen hat Netanjahu bei seinem jüngsten Flug nach New York am 25. September den französischen Luftraum gemieden.

4 Weitere Details siehe: „Partners in Crime, EU complicity in Israel’s genocide in Gaza“, Transnational Institute (Amsterdam), 4. Juni 2024.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Benoît Bréville ist Direktor von Le Monde diplomatique, Paris.

Le Monde diplomatique vom 09.10.2025, von Benoît Breville