09.10.2025

Verdrängen und leugnen

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Verdrängen und leugnen

Der Umgang der israelischen Mehrheitsgesellschaft mit den Verbrechen in Gaza

von Gideon Levy

Blick über den Grenzzaun nach Gaza, 30. September 2025 MOSTAFA ALKHAROUF picture alliance/Anadolu
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Das Massaker vom 7. Oktober 2023 hat dem Gazastreifen den Tod gebracht. Falls er überhaupt wieder ins Leben zurückkehrt, wird dieser Prozess Jahre dauern. Aber der Angriff der Hamas und die anschließende israelische Offensive haben auch jede Hoffnung auf ein anderes Israel zunichtegemacht.

Welchen Schaden dieser Krieg in der israelischen Gesellschaft und im israelischen Staat angerichtet hat, lässt sich noch nicht abschätzen. Klar ist aber schon jetzt, dass sich beide durch den Krieg radikal verändert haben. Auch in Israel werden Trümmerbeseitigung und Wiederaufbau Jahre dauern, sofern es überhaupt dazu kommt.

Sowohl Gaza als auch Israel wurden zerstört – jedes auf seine Weise und möglicherweise irreparabel. Die Zerstörung des Gazastreifens ist mit bloßem Auge sichtbar; die Zerstörung Israels ist noch unter der Oberfläche verborgen.

Der 7. Oktober und das Blutbad der Hamas markieren einen historischen Wendepunkt. An diesem Tag hat Israel sein Gesicht verändert. Vielleicht war dieses Gesicht bis zum 7. Oktober unter einer Maske verborgen und wartete nur darauf, sich offen zeigen zu können. Vielleicht ist der Wandel aber auch tiefgreifender.

Auf jeden Fall sind die bösen Geister erwacht, und sie werden nicht so bald wieder verschwinden. Der Gaza­strei­fen ist inzwischen unbewohnbar. Für alle, die sich nach einem Leben in Freiheit und Demokratie sehnen, ist aber auch Israel zu einem feindseligen Ort geworden.

Sofort nach dem 7. Oktober setzte sich dort eine bestimmte Interpreta­tion der Geschehnisse durch, die das politische und existenzielle Bewusstsein des Landes verändert hat. Regierung, Medien und Kommentatoren bezeichneten den Angriff der Hamas sogleich als „größte Katastrophe, die dem jüdischen Volk seit dem Holocaust widerfahren ist“.1

Den Holocaust und den 7. Oktober in einem Atemzug zu nennen, als wären sie vergleichbar, als hätte es zwei Ausrottungen gegeben, war eine absurde Übertreibung, die jeder Grundlage entbehrt – weder die Größenordnung noch das Ziel oder die Mittel sind vergleichbar. Aber die gebetsmühlenartig wiederholte Übertreibung eignet sich perfekt für die Propagandazwecke der Regierung.

Der Vergleich ist nicht zufällig gewählt. Er speist sich aus der Opferrolle, die Israel begleitet, seit es auf den Trümmern des Genozids am jüdischen Volk gegründet wurde. Viele Israelis sind überzeugt, dass dieser Opferstatus dem Land das Recht gibt, Dinge zu tun, die kein anderes Land tun darf (siehe den Beitrag von Peter Beinart auf Seite 3). Mit dieser Analogie, die in der öffentlichen Diskussion sofort zur Selbstverständlichkeit wurde, gab Israel sich selbst grünes Licht für seinen Krieg gegen Gaza: Wenn der 7. Oktober ein Holocaust war, ist der anschließende Genozid legitim.

Dadurch änderte sich das israelische Mindset oder offenbarte sich zumindest ungefiltert und schüttelte alles politisch Korrekte ab. Viele oder wohl die meisten Israelis sind inzwischen der Meinung, es gebe „in Gaza keine Unschuldigen“. Laut einer Umfrage des an die Hebräische Universität Jerusalem angegliederten aChord Center von August 2025 teilen 62 Prozent der Israelis diese Meinung; bei den jüdischen Israelis beträgt der Anteil sogar 76 Prozent.

Diese Behauptung wird der Bevölkerung seit zwei Jahren in allen Varianten eingehämmert. Inzwischen ist häufig auch die Aussage „Es gibt keine unschuldigen Palästinenser“ zu hören – was bedeutet, dass auch die Palästinenser im Westjordanland Strafe verdient haben. Diese Ideologie bereitet den Boden für die Realisierung des alten Traums der israelischen Rechten: ein ethnisch bereinigtes jüdisches Land vom Fluss bis zum Meer.2

Das Massaker, das die Hamas am 7. Oktober verübte, wurde in Israel als Beweis dafür gewertet, dass die Palästinenser von Natur aus blutrünstig sind. Jeder Ansatz, den geschichtlichen, politischen oder sozialen Kontext dieses Angriffs zur Sprache zu bringen, wurde als Rechtfertigungsversuch und somit als Verrat gewertet.

Nachdem UN-Generalsekretär António Guterres als einer der ersten internationalen Stimmen diesen Kontext ansprach, prangerte Israel ihn sofort als Antisemiten an. Für das heftige Sperrfeuer gibt es eine einfache Erklärung: Jede Kontextualisierung untergräbt die Legitimation des israelischen „Gegenschlags“. Deshalb muss ausgeblendet werden, dass den Menschen in Gaza ein Leben ohne Hoffnung im Belagerungszustand zugemutet wird und die Palästinenser von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen werden – auch von den arabischen Ländern.

Noch eine weitere Behauptung ist nach dem 7. Oktober zur Selbstverständlichkeit geworden: die Behauptung, dass Israel sich alles erlauben darf. „Was sollen wir denn Ihrer Meinung nach machen?“, hört man auf Schritt und Tritt, als wäre ein Genozid die einzige mögliche Option.

Der Angriff auf Gaza wird einhellig als rechtmäßiger, vom Völkerrecht gedeckter Akt der Selbstverteidigung dargestellt. Die regierende Rechte, die nie an ein Zusammenleben mit den Palästinensern geglaubt und sie nie als gleichberechtigte menschliche Wesen anerkannt hat, konnte sich in ihr Irrsinnsprojekt einer ethnischen Säuberung des Gazastreifens stürzen, ohne Widerstand von links oder aus der politischen Mitte fürchten zu müssen.

Vorstellungen vom Frieden, einer politischen Lösung, der Diplomatie und der „Zweistaatenlösung“ sind aus dem politischen Diskurs verschwunden. Die verschiedenen Parteien sind nahezu geschlossen der Meinung, es gebe keinen „palästinensischen Partner“ mehr – denn es gibt ja keine Unschuldigen – und somit auch nichts mehr zu besprechen außer der Befreiung der israelischen Geiseln.

Doch damit nicht genug. Israel ging noch einen fatalen Schritt weiter und ächtete jede Solidaritätsbekundung mit den Palästinensern. Jede Äußerung von Empathie oder Besorgnis und erst recht jeder Versuch, Gaza zu helfen, sind in dem Land inzwischen suspekt und in manchen Fällen sogar strafbar.

Die israelischen Araber (20 Prozent der Bevölkerung) wurden mundtot gemacht. Schon nach kurzer Zeit wurden einige von ihnen verhaftet, weil sie in den sozialen Netzwerken Mitgefühl geäußert hatten; andere verloren ihren Arbeitsplatz. Seither halten die arabischen Israelis sich bedeckt.

Der rechtsextreme Minister für öffentliche Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, sorgt dafür, dass das Eintreten für den Frieden geahndet wird. Auch die jüdische Bevölkerung bleibt davon nicht verschont: Zahlreiche linke Ak­ti­vis­t:in­nen wurden wegen ihrer Solidarität mit Gaza verhaftet.3 Ein Mantel des Schweigens hat sich über das Land gelegt.

Fast alle privaten und öffentlich-rechtlichen Medien in Israel haben sich dieser Linie freiwillig und teilweise mit Begeisterung angeschlossen. Ohne dass es eine Zensur gibt – von der Selbstzensur abgesehen –, beschlossen sie vor zwei Jahren, nicht über die in Gaza verübten Gräuel zu berichten.4

Hungersnot, Zerstörung, Massaker an der Zivilbevölkerung werden tagtäglich totgeschwiegen oder ans hinterste Ende des Nachrichtenteils verbannt – als eine Art symbolisches Zugeständnis an die Wahrheit.5 Über die Geiseln und die getöteten israelischen Soldaten gibt es hingegen unzählige Berichte. Noch der uninformierteste Franzose oder Brite bekommt vermutlich mehr Bilder des Leidens in Gaza zu sehen als ein Durchschnittsisraeli.

Das offizielle Narrativ ist für alle bequemer

Die Medien leugnen und verheimlichen umso eifriger, weil sie genau wissen, dass sie damit die Erwartung ihrer Konsumenten erfüllen. So wie die Is­rae­lis nie etwas von der Besatzung wissen wollten, wollen sie jetzt nichts vom Genozid wissen: Die Palästinenser haben ihr Schicksal verdient. Was gibt es da noch zu reden?

Dementsprechend wird jede Information, die aus Gaza kommt, in Zweifel gezogen: Die Opferzahlen seien übertrieben, es gibt keine Hungersnot und so weiter. Andererseits geben die Journalisten eilfertig die Berichte der israelischen Armee weiter. Bei der Bombardierung des Nasser-Krankenhauses wurden 21 Menschen getötet, darunter 5 Journalisten? Dann hatte die Hamas dort sicher ein Hauptquartier versteckt.

Aber was soll man von einer Armee denken, die in weniger als zwei Jahren 20 000 Kinder getötet hat? Und was soll man zu den von der israelischen Armee selbst erhobenen Zahlen sagen, nach denen 83 Prozent der getöteten Palästinenser keinerlei Verbindung zur Hamas hatten?6

Diese Fragen stellt sich niemand. Das offizielle Narrativ ist für alle bequemer: für die Regierung, das Militär, die Medien und ihre Klientel. Was stört, wird unter den Teppich gekehrt, und alle sind zufrieden. Mit Hilfe einer riesigen Propagandamaschinerie schützt und versteckt sich das Land so vor der Wahrheit. Und nur wenige Bür­ge­r:in­nen beschweren sich darüber.

Lügen und Vertuschen ist in Kriegszeiten gang und gäbe. Doch Israel ist ein Sonderfall. Wer die russischen Medien wegen ihrer Berichterstattung über den Konflikt in der Ukraine kritisiert, weiß im Grunde genau, dass sie keine andere Wahl haben. Die israelischen Journalisten dagegen sind frei. Sie haben eine Wahl und kommen ihrer Aufgabe bewusst nicht nach.

Wenn ich Freunden grauenhafte Videos aus Gaza zeige – von denen es jede Menge gibt –, reagieren sie meist reflexartig: „Ist das nicht vielleicht ein Fake? Das kann doch KI-generiert sein. Die Aufnahmen stammen vielleicht aus Afghanistan, oder?“ Das Leugnen ist ein Schutzschild, hinter dem die israelische Gesellschaft sich versteckt, damit sie der Realität nicht ins Auge blicken muss.

Mittlerweile ist es damit allerdings nicht mehr getan. Denn die anderen Länder sehen sehr wohl, welche Gräuel in Gaza verübt werden. Israel ist auf dem besten Weg, ein Paria-Staat zu werden. Seinen Bür­ge­r:in­nen wird im Rest der Welt mit wachsender Feindseligkeit begegnet.

Und was unternehmen wir? Wir werfen dem Rest der Welt vor, antisemitisch zu sein, Israel und die Juden zu hassen. Der Planet ist gegen uns – ganz gleich, wie wir uns verhalten. Dank dieser Opfer-Leier nehmen wir hin, dass Israels internationales Ansehen sich verschlechtert. Das Land hat die Meinung der Weltöffentlichkeit aufgegeben.

Zwar gibt es seit dem ersten Tag des Angriffs auf Gaza Proteste mit zum Teil massenhafter Beteiligung. Sie zielen aber fast ausschließlich auf die Rückkehr der Geiseln und die Absetzung von Netanjahu. Die De­mons­tran­t:in­nen fordern ein Ende des Krieges, führen aber nur das Schicksal der Verschleppten und der Soldaten ins Feld. Alles andere in Gaza wird ausgeblendet. Die einzige Ausnahme ist eine entschlossene und bewundernswerte Randgruppe von Friedensaktivist:innen, die jedoch niedergebrüllt werden.

Dass Netanjahu abtritt, mag eine Voraussetzung sein für die Beendigung des Krieges. Doch die Palästinenserfrage geht weit über die Person des Regierungschefs hinaus. Die faschistischen und fundamentalistischen Strömungen, die seit zwei Jahren massiv auf dem Vormarsch sind und inzwischen in alle Gesellschaftsschichten vordringen, werden nicht mit Netanjahu von der Bildfläche verschwinden.7

Angesichts der massiven internationalen Kritik beginnen die Israelis allmählich zu spüren, dass die Luft dünner wird – auf Auslandsreisen, bei ihren Begegnungen in Wirtschaft, Wissenschaft, Geschäftsleben und Kultur und auch bei ihren persönlichen Kontakten mit dem Rest der Welt. Der Druck auf das Land und seine Bewohner nimmt zu.

Bislang konnte nichts den Genozid und die ethnischen Säuberungen in Gaza stoppen. Von sich aus werden die in ihre eigene Welt eingesperrten, von der Realität abgekoppelten Israelis damit nicht aufhören. Also wird der Rest der Welt Gaza retten müssen.

1 Benjamin Netanjahu in einer Rede vor der Knesset, 12. Oktober 2023.

2 Siehe Alain Gresh, „Gaza – die alte Fantasie von der Vertreibung“, LMd, März 2025.

3 Adi Hashmonai, „ ‚Go to Gaza‘: Anti-war protesters detained overnight, say police berated them“, Ha’aretz, 13. September 2025.

4 Emma Graham-Harrison und Quique Kierszenbaum, „ ‚Journalists see their role as helping to win‘: how Israeli TV is covering Gaza war“, The Guardian, 6. Januar 2024; sowie Anat Saragusti, „‚The world is against us‘: how Israel's media is censoring the horrors of Gaza“, Ha’aretz, 28. Mai 2025.

5 Lorenzo Tondo, „Israeli media ‚completely ignored‘ Gaza starvation – is that finally changing?“, The Guardian, 17. August 2025.

6 Yuval Abraham und Emma Graham-Harrison, „Revealed: Israeli military’s own data indicates civilian death rate of 83 % in Gaza war“, The Guardian, 21. August 2025.

7 Siehe Dahlia Scheindlin, „Konsens gegen Palästina“, LMd, September 2025.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Gideon Levy ist Schriftsteller und Journalist und schreibt für die Tageszeitung Ha’aretz (Tel Aviv).

Le Monde diplomatique vom 09.10.2025, von Gideon Levy