09.10.2025

Jüdisch sein nach Gaza

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Jüdisch sein nach Gaza

Über den Zusammenhang von Opfernarrativen und repressiver Herrschaft

von Peter Beinart

Ralf Peters, Citrus, 2017, C-Print, Diasec, 60 × 141,5 cm
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Wenn man einem Benjamin Netanjahu zuhört, mag man es vielleicht nicht glauben, aber wir Juden sind nicht die Einzigen, die ihre Verfolgungsgeschichte instrumentalisieren, um ihre Vorherrschaft zu rechtfertigen. Die Buren zum Beispiel errichteten während der Apartheid in Südafrika überall Denkmäler, die an die Konzentrationslager der Briten während des Zweiten Burenkriegs (1899–1902) erinnern sollten.

Wir mögen wenig über diese Geschichte wissen und halten sie verglichen mit unserer jahrtausendealten Verfolgung vielleicht für unbedeutend. Doch sie prägte tatsächlich lange das Weltbild vieler burischer Südafrikaner. Diese sahen sich von allen Seiten bedroht, von innen durch die Schwarzen Südafrikaner, die ihnen angeblich nach dem Leben trachteten, und von außen durch die Briten sowie die restliche unzuverlässige, verlogene westliche Welt, die ihre Verfolgung achselzuckend hingenommen hatte.

Heute kommt einem dieses Narrativ paranoid und absurd vor. Doch noch in meiner Kindheit, die ich während der Apartheid zeitweise in Kapstadt verbrachte, glaubte ein Großteil der Weißen Südafrikaner fest daran. Anders als wir es vielleicht wahrhaben wollen, unterscheidet es sich gar nicht so sehr davon, wie wir Juden über Israel sprechen.

Wenn sich Juden einen Staat vorstellen, in dem die Palästinenser „from the river to the sea“ die gleichen Rechte genießen, fürchten viele, dass ihr schönes Tel Aviv in Barbarei und Chaos versinken würde. Ebensolche Ängste schürten damals auch die Weißen Südafrikaner. So sprachen sie mit der gleichen Abscheu über Nigeria und den Kongo wie jüdische Israelis heute über Syrien oder den Irak reden. In dieser Weltgegend sei Gewalt eben endemisch und Minderheiten, die sich nicht selbst zu verteidigen wüssten, seien dem Untergang geweiht.

Simbabwe galt als besonders abschreckendes Beispiel. 1987 behauptete sogar die progressive Politikerin Helen Suzman (1917–2009), die sich in Südafrika jahrzehntelang für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt hatte, dass das Ende der Weißen Vorherrschaft im Nachbarland „20 000 Menschenleben gekostet“ habe, und warnte, ein Machtwechsel in Südafrika könnte noch weit verheerendere Folgen haben.

Wenn mir heute Leute sagen, Juden und Palästinenser könnten nicht gleichberechtigt zusammenleben, weil dergleichen im Nahen Osten schlechterdings unmöglich sei, blicke ich vier Jahrzehnte zurück. Und ich erinnere mich an meine Verwandten, die die Diktaturen und Bürgerkriege nördlich des Limpopo-Flusses als Beweis dafür anführten, dass Schwarze und Weiße in einem demokratischen Südafrika nicht zusammenleben könnten. Die einzigen Südafrikaner, von denen ich dergleichen nie zu hören bekam, waren Schwarze, so wie ich heute selten mitbekomme, dass Palästinenser so etwas behaupten.

Die Weißen Südafrikaner fürchteten sich nicht weniger davor, ins Meer getrieben zu werden, als jüdische Israelis heute. Vielleicht hatten sie sogar noch größere Angst davor, weil ihr Bevölkerungsanteil noch geringer war und sie auf deutlich weniger Verbündete im Ausland zählen konnten. Sie hielten Nelson Mandelas African National Congress (ANC) für eine terroristische Vereinigung und standen mit dieser Einschätzung nicht allein da. Auch die US-amerikanische Regierung stufte den ANC so ein.

Der Rivale des ANC, der Pan-Africanist Congress (PAC), dessen inoffizielles Motto „ein Siedler, eine Kugel“ lautete, flößte ihnen noch mehr Angst ein. Selbst Schwarze Bürgerrechtler, die dem gewaltsamen Widerstand abgeschworen hatten, wie der 1984 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Bischof Desmond Tutu, taten sich schwer damit, die Gewalt zu verurteilen, so wie viele Palästinenser heute.

Die meisten Weißen Südafrikaner hielten es für ausgemacht, dass ihr Leben ohne eine Weiße Armee am seidenen Faden hing. Laut einer Meinungsumfrage von 1979 waren 84 Prozent der Weißen Südafrikaner davon überzeugt, dass „die leibliche Unversehrtheit der Weißen durch eine Schwarze Regierung bedroht“ wäre. Aus der Sicht Weißer Südafrikaner sei „Rassenintegra­tion nationaler Selbstmord“ schrieb der Journalist und Gegner der Apartheid Allister Spark.1 In Bezug auf die Palästinenser sehen das viele jüdische Israe­lis heute genauso.

Ein ähnliches Narrativ wie die Weißen Südafrikaner verbreiteten auch die nordirischen Protestanten. Auch sie rechtfertigten ihren Herrschaftsanspruch mit Verfolgungsgeschichten. Jeden Juli schwenkten sie ihre Fahnen und sangen ihre Lieder zur Erinnerung an die Belagerung von Londonderry im Jahr 1689, als ihre Vorfahren lieber verhungerten, als sich einem katholischen König zu unterwerfen. Auch sie sahen sich von innen und außen bedroht. So fürchteten sie, die „katholischen Horden“ könnten Nordirland vom Vereinigten Königreich abspalten und einem – in ihren Augen – rückständigen und autoritären Irland einverleiben.

Die protestantischen Iren hatten außerdem eine Heidenangst davor, von London im Stich gelassen zu werden. Auch hier gibt es eine Parallele zu den Weißen Südafrikanern und vielen jüdischen Israelis: Man traute dem halbherzigen und doppelzüngigen Westen nicht. Für die Protestanten war es eine Horrorvorstellung, dass die Katholiken ihnen rechtlich gleichgestellt werden könnten. Sie sahen nur den Terror der IRA und waren blind für die Unterdrückung der katholischen Iren. Es schauderte ihnen bei dem Gedanken, wozu „die Killer“ imstande wären, wenn man ihnen die Staatsgeschäfte überließe. Als unter dem Druck der britischen, irischen und US-amerikanischen Regierung die Protestanten mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ihre Vorherrschaft aufgaben, bezeichnete ihr Anführer Ian Paisley (1926–2014) dies tatsächlich als „Vorspiel zum Genozid“.

Aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) sind ähnliche Äußerungen von Weißen Südstaatlern überliefert. Ihre Opferstory war die „Re­cons­truc­tion“ genannte Wiedereingliederung der ausgetretenen Südstaaten in die Union. In diesem Narrativ der inneren und äußeren Feinde wurde der Süden nach dem Bürgerkrieg von gewalttätigen Schwarzen und der fernen Bundesregierung in Washington ausgeplündert.

So erklärte etwa Alabamas Gouverneur George Wallace noch 1963, während der Reconstruction sei „der Süden über den Tisch gezogen worden“. Er sagte dies in einer Rede, in der er vor der Bürgerrechtsbewegung warnte. Hier seien die gleichen teuflischen Kräfte am Werk wie anno 1865: Schwarze, die an die Macht strebten, unterstützt von linken Nordstaatlern.

Keine 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung der euro­päischen Juden verglich Wallace den angeblich diskriminierenden behördlichen Umgang im Bundesstaat Mississippi gegenüber Weißen mit der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die deutschen Nazis.

Das war natürlich ein extremer Vergleich, doch die darunterliegenden Ängste waren allgegenwärtig. Mitte des 20. Jahrhunderts betrachteten die meisten Weißen in den Südstaaten die Gleichberechtigung der Schwarzen als monströsen Irrsinn. Sie konnten sich nicht von dem Konzept der Vorherrschaft lösen. Es gab für sie nur ein Entweder-oder um die Vorherrschaft, erklärt der Historiker Jason Sokol, der über die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung forscht: Rechte für Schwarze hieß für sie, dass nun „die Weißen ‚das Joch tragen‘ müssten“.2

Warum lagen diese verängstigten Anhänger der White Supremacy falsch? Warum sind die Genossen vom ANC und PAC nach dem Ende der Apartheid nicht in das Wohnviertel meiner Großmutter gestürmt und haben reihenweise Weiße massakriert? Warum hat die IRA nicht die protestantischen Viertel von Londonderry heimgesucht?

Die Antwort auf diese Fragen ist im Grunde verblüffend simpel: Weil die meisten Menschen – ob Schwarz, Weiß, katholisch, muslimisch, palästinensisch oder was auch immer – nicht gern zu den Waffen greifen. Sie wollen weder töten noch getötet werden. Sie tun es nur, wenn sie das Gefühl haben, es gebe keine andere Wahl.

In der Geschichte der Emanzipations- und Unabhängigkeitsbewegungen hat sich immer wieder gezeigt, dass die Unterdrückten aufhören, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie mitbestimmen können und sich dadurch Gesprächskanäle zu den Mächtigen öffnen. Das bringt die politische Gewalt zwar nicht zum Verschwinden, aber es verringert sie.

Warum gab es beispielsweise in Südafrika keinen Guerillakrieg wie in Simbabwe? Weil die Weiße Regierung schneller begriffen hatte, dass sich ein Aufstand nur dadurch verhindern ließ, wenn man den Schwarzen das Wahlrecht einräumt. Aus demselben Grund sind die Straßen von Alabama heute sicher. Man stelle sich das Ausmaß rassistisch motivierter Gewalt in Wallace’ Heimatstaat vor, hätten die Schwarzen in den Südstaaten 1965 nicht das Wahlrecht erhalten.

Oder denken wir an die brutale „Halskette“ des ANC. Mit dem sogenannten necklacing wurden Schwarze Kollaborateure des Apartheidregimes bestraft. Die Genossen legten dem Unglücklichen einen in Benzin getränkten Reifen um den Hals und zündeten ihn an. Noch 1985 erklärte Nelson Mandelas Frau Winnie, die damals eine Autorität war unter den Schwarzen Südafrikas: „Mit unseren Streichholzschachteln und Halsketten werden wir dieses Land befreien.“

Der ANC hat diese Praxis nie verurteilt, und den Weißen Südafrikanern schauderte bei dem Gedanken, solchen Leuten die Geschicke des Landes zu überlassen. Doch als ein unblutiges Ende der Apartheid am Horizont erschien, „befürwortete kaum noch jemand das Necklacing“, erklärt der ugandische ­Anthropologe und Politikwissenschaftler Mahmood Mamdani.3 Die „Halskette“ war eine grausame Antwort auf ein grausames System. Mit dem Untergang des Systems verschwand auch diese ­Praxis.

Mamdanis im Grunde simple Feststellung, dass Inklusion zu mehr Sicherheit führt, bestätigen unzählige Forschungsarbeiten. Eine 2010 veröffentlichte Untersuchung über 146 ethnische Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs ergab, dass ethnische Gruppen, die von der staatlichen Macht ausgeschlossen wurden, dreimal so häufig zu den Waffen gegriffen haben wie solche, die in Regierungen eingebunden wurden. Und die israelische Konfliktforscherin Limor Yehuda stellte in ihren Buch „Collective Equality“ fest, dass es in Ländern, die „politische Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung“ praktizieren, vergleichsweise häufiger zu Bürgerkriegen kommt.4

1 Allister Sparks „Tomorrow Is Another Country. The Inside Story of South Africa’s Road to Change“, Chicago (University of Chicago Press) 1996.

2 Jason Sokol, „There Goes My Everything. White Southeners in the Age of Civil Rights, 1945–1975“, New York (Knopf) 2006.

3 Mahmood Mamdani, „Neither Settler, Nor Native. The Making and Unmaking of Permanent Minorities“, Cambridge (Cambridge University Press) 2020.

4 Limor Yehuda, „Collective Equality. Human Rights and Democracy in Ethno-national Conflicts“, Cambridge (Cambridge University Press) 2023.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Peter Beinart ist Journalist. Der vorliegende Text basiert auf einem Auszug aus seinem Buch „Being Jewish after the Destruction of Gaza“, London (Atlantic Books) 2025.

Le Monde diplomatique vom 09.10.2025, von Peter Beinart