11.09.2025

Horror, Alltag, Preise

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Horror, Alltag, Preise

Der internationale Erfolg lateinamerikanischer Schriftstellerinnen

von Fabien Palem

Lotte Keijzer, The Intellectual, 2025, Acrylfarbe und Buntstifte auf Leinwand, 50 × 50 cm
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Im April 2024 schaffte es die argentinische Schriftstellerin Selva Almada mit der englischen Übersetzung ihres Romans „No es un río“1 auf die Shortlist des britischen Booker Prize. Damit reihte sie sich ein in die Riege lateinamerikanischer Autorinnen, die in den letzten Jahren zu den Finalistinnen des renommierten Preises gehörten. In der Vorauswahl für 2024 kam ein Viertel der Werke aus Südamerika.

Der Preis ging an eine andere Autorin, doch die Nominierung verschaffte Almada Zugang zum gewichtigen angelsächsischen Markt. In den letzten zehn Jahren hat der Booker Prize auf diese Weise zahlreiche „Latinas“ bekannt gemacht. Aus Argentinien waren das – neben ­Almada – ­Gabriela ­Cabezón ­Cámara, ­Ariana ­Harwicz, Claudia ­Piñeiro oder ­Samanta ­Schweblin, aus Mexiko Fernanda ­Melchor und ­Guadalupe Nettel, aus ­Peru Gabriela Wiener.

Es gab Verfilmungen wie „Die, My Love“ der Regisseurin Lynne Ramsay (2025) nach dem Roman „Matate, amor“2 von Ariana Harwicz und die Net­flix-Produktionen „Fever Dream“ (2021) nach dem Roman „Distancia de rescate“3 von Samanta Schweblin und „Temporada de huracanes“ nach dem gleichnamigen Buch4 von Fernanda Melchor. Hinzu kommen begeisterte Rezensionen und Porträts in der internationalen Presse und Übersetzungen in Dutzende Sprachen.

Die lateinamerikanische Literatur ist also im Aufwind, und der kommt vor allem durch die Frauen. Schon hört man Vergleiche mit dem Boom des lateinamerikanischen Romans in den 1960er und 1970er Jahren, als Autoren wie der Argentinier Julio Cortázar, der Peruaner Mario Vargas Llosa, der Kolumbianer Gabriel García Márquez und der Mexikaner Carlos Fuentes gefeiert wurden. Augusto Roa Bastos aus Paraguay, der ebenfalls zu dieser Welle gehörte, warf einen ebenso klaren wie kritischen Blick auf diese Begeisterung: „Die Konsumgesellschaft, in der wir leben, hat entdeckt, dass man eine Re­gion mit vielen Autoren ebenso gut ausbeuten kann wie eine Region mit großen Erdölvorkommen.“5

Die 2015 verstorbene spanische Literaturagentin Carmen Balcells galt damals als zentrale Figur. Sie vertrat sechs Nobelpreisträger, darunter vier Lateinamerikaner: neben García Márquez und Vargas Llosa den Guatemalteken Miguel Ángel Asturias und den Chilenen Pablo Neruda. Balcells präsentierte einer breiten Leserschaft Autoren aus Ländern, die Europa als „peripher“ ansah, und sorgte für ihren Erfolg – und für die zunehmende Professionalisierung des Schriftstellerberufs.

Die bislang fast unbekannte Figur der Literaturagentin erhielt durch sie ein Gesicht. „Der Boom war in erster Linie der Verdienst einer Frau, die sehr talentierte Autoren ausgewählt und zum Arbeiten gebracht hat“, sagt ­Gabriela Cabezón Cámara. „Das war eine Machowelt, eine Zeit, als sich die Leute weigerten, von einer Chirurgin operiert zu werden oder in ein Flugzeug zu steigen, das von einer Frau gesteuert wurde. Man war noch nicht bereit, eine weibliche Stimme zu hören.“

Die Schriftstellerinnen von heute verleugnen dieses Erbe nicht, bestehen aber darauf: Das ist nicht „der neue Boom“.

„Es hat lediglich ein Wechsel der Beleuchtung stattgefunden wie im Thea­ter“, erklärt die Ecuadorianerin María Fernanda Ampuero. „Zuvor waren die Scheinwerfer auf die männlichen Autoren gerichtet. Die Frauen waren zwar auch auf der Bühne, aber im Dunkel. Um sie zu sehen, musste man wissen, dass sie da waren, und genau hinschauen.“ Der argentinische Schriftsteller Enzo Maqueira, einer der wenigen Männer seiner Generation, der einen Platz im neuen Ökosystem gefunden hat, ergänzt: „Der Boom bestand aus drei, vier Männern, viel Talent, enorm viel Politik und einer guten Prise Marketing. Die heutige Bewegung ist viel authentischer und in unseren Ländern verwurzelt.“

Der Erfolg der lateinamerikanischen Autorinnen ist auch Ausdruck der Lebendigkeit feministischer Forderungen in einer Region, die noch männlich dominiert ist. Samanta Schweblin, die seit elf Jahren in Deutschland lebt, erlebt es so: „In Berlin ist der Feminismus überall, aber er macht Party. In Lateinamerika befindet er sich im Krieg.“ Wie der Boom im Kielwasser einer politischen Ära entstand, die durch die Kubanische Revolution eröffnet worden war, ist die gegenwärtige Welle eng mit den feministischen Bewegungen der letzten Jahre von Buenos Aires bis Quito, von Santiago de Chile bis Bogotá verbunden.

Wechsel der Beleuchtung

Früher wurde das Bild des Subkontinents von weißen Männern gezeichnet, von Abenteurern, manchmal Revolutionären, oft Frauenhelden. Heute erzählen sehr unterschiedliche, meist weibliche Akteure aus der Region.

Die Ecuadorianerin und Horrorspezialistin Ampuero schafft in ihren Kurzgeschichten eine Atmosphäre ständiger Spannung rund um ihre Heldinnen, über denen eine männliche Bedrohung schwebt.6 Viele Autorinnen pflegen eine Literatur des Unheimlichen, die sich um soziale Schrecken, aber auch um das Fantastische des Alltags dreht – wie die Argentinierinnen ­Mariana ­Enríquez,7 Schweblin und ­Harwicz (die seit 2007 in Frankreich lebt).

Es ist vorbei mit den Schriftstellertitanen und ihren epischen Erzählungen. Das große Abenteuer, die atemberaubende Fiktion ist heute eher inspiriert von der Pein des Alltäglichen. „Das Persönliche ist politisch“ sagt ­Guadalupe Nettel. „Zu Zeiten des Booms gab es den totalen Schriftsteller. Heute bekommt Annie Ernaux den Nobelpreis. Das ist recht aufschlussreich.“

Die Vorstellung jedoch, dass sich ihr Erfolg auf die Behandlung spezifisch weiblicher Themen reduzieren ließe, ärgert die Autorinnen. „Natürlich gibt es Berührungspunkte zwischen unseren Werken wie überhaupt in der Literatur“, räumt Ampuero ein. „Aber hartnäckig nach bestimmten Gemeinsamkeiten zu suchen, nur weil wir Frauen sind, das ist beleidigend. Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung aus und schreiben schon seit jeher, hier in Mexiko mindestens seit Sor Juana ­Inés de la Cruz.“8

„Es sind die Leserinnen, die die Situation auf dem Büchermarkt verändert haben. In Lateinamerika sind 70 Prozent der Leserschaft Frauen“, erinnert Schweblin, die eine der bekanntesten und am meisten übersetzten Schriftstellerinnen Argentiniens ist. In „Das Gift“ saugt das Fantastische die Banalität des Alltags förmlich auf: Im Abstand von einigen Jahren durchleben zwei Mütter dieselbe Erfahrung, die ihre Mutterliebe und ihre Beziehung auf die Probe stellt. Der Leser versinkt in einem seltsamen Universum, das sehr real und zugleich vergiftet ist.

Schweblin wundert sich, dass sie immer gefragt wird, wie sie über die Mutterschaft schreiben könne, ohne selbst Mutter zu sein. „Es ist interessant, wie sehr das die Leute irritiert“, erklärt sie. „Ich bin zwar nicht Mutter, aber seit 46 Jahren Tochter. Das ist eine andere Perspektive auf die Mutterschaft. Niemand würde einen Krimiautor fragen, ob er am Wochenende Leute umlegt, damit er dann über Morde schreiben kann! Die Literatur ist eine Sache der Neugier. Schreiben heißt, in die Haut eines anderen zu schlüpfen.“

Die lateinamerikanischen Autorinnen mögen das Leben von Frauen ins Zentrum ihrer Werke stellen, aber sie schreiben auch gern über Abseitiges und unbekannte Welten. „An den Rändern gibt es etwas, das uns eine Freiheit verleiht, die im Zentrum nicht zu finden ist“, beschreibt es Cabezón ­Cámara, Autorin von „Las aventuras de la China Iron“ (Random House, 2017), einer Fabel, die das argentinische Nationalepos vom Gaucho Martín Fierro9 neu interpretiert. Ihre Geheimwaffe ist dabei die Sprache: Sie verflicht das indigene Guaraní mit Spanisch und Englisch und eröffnet so ein Feld ganz neuer Möglichkeiten. Sie erzählt die Geschichte der 14-jährigen China Iron, der indigenen Ehefrau Fierros, die sich in die junge Britin Liz verliebt und ihren Gaucho-Ehemann verlässt.

Fernanda Melchor erkundet in „­Saison der Wirbelstürme“ die Gewalt, die das Leben vieler in Mexiko prägt – junger Männer, die in Langeweile, Armut und Kriminalität gefangen sind und mit Drogen und Sex die Zeit totschlagen. Die kolumbianische Schriftstellerin Cristina Bendek schildert das Alltagsleben auf der dicht bevölkerten Karibikinsel San Andrés, von der sie stammt. Jenseits touristischer Klischees erzählt ihr Roman „Los cristales de la sal“ (Charco Press, 2018) die verborgene Geschichte der Insel und ihrer schwarzen Bevölkerung, der Raizales.

Während die Autoren des Booms von europäischen, vor allem spanischen Verlagen abhängig waren, hat sich inzwischen in ganz Lateinamerika eine unabhängige Verlagslandschaft entwickelt. Autorinnen und Verlegerinnen veröffentlichen sich gegenseitig, ein Netzwerk, das ständig neue Talente ans Licht bringt. Der Aufruf von Roa Bastos zur Emanzipation wurde erhört: Anders als beim Schwarzen Gold werden die Werke der lateinamerikanischen Autorinnen exportiert, ohne dass die lokale Bevölkerung ihres literarischen Reichtums beraubt würde.

1 „Not a River“; auf Deutsch: „Kein Fluss“, übersetzt von Christian Hansen, Berlin (Berenberg) 2023.

2 „Stirb doch, Liebling“, übersetzt von Dagmar Ploetz, München (C. H. Beck) 2019.

3 „Das Gift“, Roman, übersetzt von Marianne Gareis, Berlin (Suhrkamp) 2015.

4 „Saison der Wirbelstürme“, übersetzt von Angelica Ammar, Berlin (Wagenbach) 2019.

5 Zitiert im zweiten Teil des Dokumentarfilms „Impriman la leyenda“ von Cecilia Priego, Canal Encuentro, 2020.

6 María Fernanda Ampuero, „Pelea de gallos“, Madrid (Páginas de Espuma) 2018.

7 Mariana Enríquez, „Unser Teil der Nacht“, übersetzt von Inka Marter und Silke Kleemann, Stuttgart (Tropen) 2022.

8 Dichterin und Dramatikerin, lebte von 1648 bis 1695 im Vizekönigreich Neuspanien, dem heutigen Mexiko.

9 Siehe „Die Legende vom Gaucho“, LMd, Juli 2023.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Fabien Palem ist Journalist.

Bücher auf Deutsch

Sie haben sich immer zu Wort gemeldet, wurden aber kaum wahrgenommen. Zunächst interessierten ihre tragischen Schicksale: Die argentinische Lyrikerin Alfonsina Storni beging Selbstmord, die uruguayische Dichterin Delmira ­Agustini wurde von ihrem Ehemann ermordet, die chilenische Erzählerin Maria Luisa Bombal verstummte nach wenigen Publikationen.

Als die Autoren des Booms, das Quartett der Herren, Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa, weltweite Erfolge feierten, erschienen gleichzeitig auch wunderbare Romane von den Mexikanerinnen Rosario Castellanos oder Elena Garro, um nur zwei inzwischen zu Kultautorinnen avancierte Namen zu nennen. Die Kritik schenkte ihnen keine Beachtung. Die Lyrikerin Alejandra Pizarnik wurde dank Julio Cortázar bekannter, aber erst nach ihrem Selbstmord international berühmt.

Auch in Deutschland richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit zwei Jahrzehnte lang vornehmlich auf diese vier Autoren, und die gesamte Literatur des Kontinents wurde meist mit dem irreführenden Begriff des magischen Realismus charakterisiert – der nur auf wenige zutraf. Erst Isabel Allende verdrängte das Patriarchat mit ihrem Welterfolg „Das Geisterhaus“ (deutsche Erstveröffentlichung 1984) von den ersten Plätzen, wogegen viele Autoren und Kritiker polemisierten.

In letzter Zeit kamen nur wenige Bücher aus Lateinamerika zu uns in den deutschsprachigen Raum, vorwiegend weibliche Stimmen, auch die Resonanz ist bescheiden. Die Großverlage haben den Kontinent leider aus den Augen verloren, aber es engagieren sich unabhängige Häuser. Dabei könnten wir durch ­diese Werke überraschende Sichtweisen auf den Kontinent gewinnen und die wachsende Selbstbestimmtheit der Frauen in großartigen Texten kennen lernen.

Hier meine Hotlist: Selva Almada führt uns zu dunklen Gewässern in „Kein Fluss“ (Berenberg, 2023), María Gainza in die Kunstwelt in „Schwarzwelt“ (Wagenbach, 2023); Claudia Piñeiro entlarvt kriminelle Machenschaften von Politikern in „Der Privatsekretär“ (Unionsverlag, 2017), und Samanta Schweblin zeigt beängstigende Fantasiewelten in „Das gute Übel“ (Suhrkamp, 2025) – alle vier sind Argentinierinnen.

Lina Meruane erzählt von Palästina in „Heimkehr ins Unbekannte“ (Berenberg, 2020) und Maria José Ferrada von einer besonderen Vater-Tochter-Reise in „Kramp“ (Berenberg, 2021) – beide Chileninnen. Die Kolumbianerin Maria Ospina erläutert Migration anhand von Zugvögeln in „Für kurze Zeit nur hier“ (Unionsverlag, 2025), die Uru­guaye­rin Mercedes ­Rosende verwickelt ihre ­übergewichtige Heldin in kriminelle ­Abenteuer („Ursula fängt Feuer“, Unions­verlag, 2025), und die Mexikanerin ­Fernanda Melchor schildert die omnipräsente Gewalt gegen Frauen in „Saison der Wirbelstürme“ (Wagenbach, 2019). Das sind nur einige Beispiele, denn vor uns haben wir ein Kaleidoskop aufregender, verstörender, poetischer oder harter Stimmen: Nicht länger interessieren uns die Biografien, sondern die Werke dieser Autorinnen.

⇥Michi Strausfeld

Michi Strausfeld engagierte sich jahrzehntelang als Vermittlerin lateinamerikanischer Literatur im deutschen Sprachraum. Sie ist Autorin u. a. von „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren: Lateinamerika erzählt seine Geschichte“, Frankfurt a.M. (S. Fischer) 2019 und kürzlich „Die Kaiserin von Galapagos. Deutsche Abenteuer in Lateinamerika“, Berlin (Berenberg) 2025.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.09.2025, von Fabien Palem