11.09.2025

Das Erdoğan-Paradox

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Das Erdoğan-Paradox

Wie der Autokrat versucht, trotz allem noch Wahlen zu gewinnen

von Jean Michel Morel

Erdoğan und Bahçeli bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Schlacht von Manzikert, 26. August 2025 MUHAMMED SELIM KORKUTATA picture alliance/Anadolu
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Soll er seinen politischen Feinden die Hand reichen – oder sie weiterhin verfolgen? Vor dieser Frage steht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

In den vergangenen Monaten hat er sich, zumindest was die säkulare Opposition angeht, offensichtlich für die zweite Möglichkeit entschieden, als er den beliebten Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) am 19. März verhaften ließ. İmamoğlu wurde nicht nur wegen „Korruption“ und der „Gründung und Leitung einer kriminellen Organisa­tion“ angeklagt, sondern auch wegen „Veruntreuung öffentlicher Mittel“.1 Ihm wurde sogar sein Universitätsabschluss aberkannt, den er vor 30 Jahren erworben hatte. İmamoğlus Verhaftung löste überall im Land Proteste aus, sowohl in den von der CHP regierten Metropolen als auch in kleineren Städten, die traditionell Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zugeneigt sind. Dabei wurden tausende Demonstrierende von der Polizei festgenommen.

Erdoğan hat bei alldem die Präsidentschaftswahl im Kopf, die 2028 ansteht – und das entscheidende Hindernis, das seiner Wiederwahl im ­Wege steht und ihn dazu zwingen könnte, seine autokratischen Bestrebungen zu bremsen: Die türkische Verfassung gestattet dem Präsidenten nämlich nur zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten. Erdoğan wurde 2014 gewählt, als erstmals die Direktwahl eingeführt worden war, und 2018 im Rahmen des neuen Präsidialsystems. Vor der Wahl von 2023, die Erdoğan gegen den CHP-Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu gewann, argumentierte der Präsident, dass die Zählung der Amtszeiten durch die Einführung des Präsidialsystems wieder von vorn beginne. Um 2028 noch einmal kandidieren zu können, müsste das Parlament einer erneuten Verfassungsänderung zustimmen.

Dazu gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste: Erdoğan müsste drei Fünftel der Nationalversammlung auf seine Seite ziehen, das wären 360 Abgeordnete. Doch bei den Parlamentswahlen von 2023, die gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl abgehalten wurden, konnte die AKP nur noch 268 der insgesamt 600 Parlamentssitze gewinnen. Und ihre Verbündete, die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), kam lediglich auf 50 Mandate.

Damit liegen beide Parteien zusammen unter der kritischen Schwelle von 360 Sitzen. Außerdem ist für eine Verfassungsänderung die Zustimmung der Bevölkerung durch ein entsprechendes Referendum zwingend vorgeschrieben. Angesichts einer zweistelligen Inflationsrate (33,5 Prozent im Juli), der kontinuierlichen Abwertung der türkischen Lira in den vergangenen drei Jahren und der heftig umstrittenen staatlichen Repression wäre eine Volksbefragung für Erdoğan allerdings sehr riskant.2

Die zweite Möglichkeit für seine erneute Kandidatur: 400 Abgeordnete (zwei Drittel der Nationalversammlung) stimmten der Verfassungsänderung zu; in diesem Fall bräuchte es kein Referendum mehr. Doch selbst wenn Erdoğan diese Stimmen zusammenbrächte, gäbe es keine Garantie, dass er die Präsidentschaftswahl gewinnt.

Schon 2023 gewann der CHP-Kandidat Kılıçdaroğlu fast 48 Prozent der Stimmen, obwohl er längst nicht so charismatisch ist wie İmamoğlu. In den Reihen der CHP finden sich zudem noch weitere Prominente, die Erdoğan in Schwierigkeiten bringen könnten: etwa Mansur Yavaş, der 2024 wiedergewählte Bürgermeister von Ankara, dessen Popularität weit über die Grenzen der Hauptstadt hinausreicht, oder der Parteivorsitzende Özgür Özel, der die CHP zu ihrem Erfolg bei den Kommunalwahlen von 2024 führte, als sich die Partei in wichtigen Großstädten, aber auch in einigen traditionellen AKP-Hochburgen am Schwarzen Meer und in Anatolien durchsetzte.

Die Unsicherheit angesichts der letzten Wahlergebnisse könnte den Präsidenten dazu zwingen, die Unterstützung anderer Parteien zu suchen. Die linke kurdische Partei für Emanzipa­tion und Demokratie der Völker (DEM) kommt in der Nationalversammlung auf 56 Abgeordnete. Erdoğan könnte versuchen, die DEM gegen – noch näher zu bestimmende – Zugeständnisse auf seine Seite zu ziehen. Aber auch dann würde er noch nicht über die entscheidende Mehrheit verfügen.

Auch gemeinsam mit den fünf Abgeordneten der islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei (YRP) würde es nicht reichen. Alternativ könnte er auf die 29 Abgeordneten der Guten Partei (İYİ) zugehen, eine Formation aus MHP-Dissidenten und rechten Ex-CHPlern. Da Meral Akşener, die Parteigründerin, selbst gerne Präsidentin werden möchte, würde sie möglicherweise einer Reform zustimmen, die ihr in Zukunft selbst nutzen könnte.

Doch welche Gegenleistungen könnte Erdoğan den umworbenen Parteien bieten? Es dürfte schwierig sein, gleichzeitig die YRP, die für ein neues Kalifat und die Einführung der Scharia eintritt, und die laizistische, kemalistische İYİ zufriedenzustellen, zumal der islamisch-konservative Präsident das Erbe des Staatsgründers Kemal Atatürk ständig mit Füßen tritt.

Kurdische Po­li­ti­ke­r:in­nen wiederum dürften sich nur schwer überzeugen lassen, gemeinsam mit Meral Akşener zu stimmen. Als Innenministerin ließ sie in den 1990er Jahren die Aufstände in der kurdischen Region Bakur brutal unterdrücken, ordnete Umsiedlungen sowie Räumungen von Dörfern durch das Militär an und unternahm nichts gegen die vielen Morde an kurdischen Ak­ti­vis­t:in­nen und Intellektuellen.

Erdoğan wird diese komplizierte Gleichung nur lösen können, wenn er sich dazu durchringt, die „kurdische Frage“ ernsthaft anzugehen. Bereits im August 2024 wies er in diese Richtung: In einer Rede in Ahlat zum Jahrestag des seldschukischen Siegs (im Bündnis mit kurdischen und arabischen Stämmen) über die byzantinischen Truppen im Jahr 1071 sagte er: „Wir werden uns im Zeichen der Mondsichel vereinen und keinen Unterschied zwischen Türken, Kurden, Arabern, Sunniten und Aleviten machen.“3

Nach dieser Erklärung ging MHP-Chef Devet Bahçeli, dessen Partei stets antikurdische Ressentiments geschürt hatte, am 1. Oktober 2024 in der Nationalversammlung auf mehrere DEM-Abgeordnete zu und reichte ihnen demonstrativ die Hand, darunter auch dem Co-Vorsitzenden Tuncer Bakırhan.

Glaubwürdiger wäre die AKP-Regierung allerdings, wenn sie auf die Forderungen der DEM einginge, das heißt den Rechtsstaat wiederherstellt, alle politischen Gefangenen amnestiert und Abdullah Öcalan, Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sowie Selahattin Demirtaş4 und Figen Yüksekdağ endlich in die Freiheit entlassen würde. Demirtaş war als Kandidat der DEM-Vorgängerpartei HDP (Demokratische Partei der Völker) 2014 gegen Erdoğan angetreten und sitzt wie die ehemalige HDP-Co-Vorsitzende Yüksekdağ seit 2016 im Gefängnis.

Zudem müsste das Innenministerium seine Zwangsverwalter (kayyum) aus 16 Städten abziehen und die regulär gewählten kurdischen Bür­ger­meis­te­r:in­nen wieder ins Amt einsetzen. Auch die Anerkennung der kulturellen und sprachlichen Eigenständigkeit der Kurd:innen, die seit den 2015 unterbrochenen Verhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung auf Eis liegt, dürfte nicht länger aufgeschoben werden.

Drei Wochen nach seinem historischen Auftritt im Parlament Anfang Oktober ergriff Bahçeli erneut die Ini­tiative und reichte diesmal Öcalan die Hand: „Wenn der Terroristenführer aus seiner Isolation entlassen wird, soll er im Parlament auftreten. Er soll laut und deutlich sagen, dass endgültig Schluss ist mit dem Terrorismus und seine Organisation aufgelöst wird“, verkündete der MHP-Chef.5

Im darauffolgenden Februar forderte der 76-jährige Öcalan, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı inhaftiert ist, tatsächlich die PKK dazu auf, die Waffen niederzulegen. Die Organisation genießt ohnehin nur noch wenig Rückhalt in der kriegsmüden Bevölkerung. Öcalan, der eine türkische Mutter und einen kurdischen Vater hat, sprach schon früher davon, dass die Zeit reif sei für einen „großen Paradigmenwechsel“ und die Wiederherstellung der „brüderlichen Bande“ zwischen Türken und Kurden.6

Auf einem Kongress Anfang Mai wurde dieser radikale Kurswechsel von den PKK-Kadern dann auch beschlossen. Laut der Politologin Iris Lambert sind die ehemaligen Kämpfer der Ansicht, dass es ihnen gelungen ist, die kurdische Frage wieder auf die nationale und internationale politische Agenda zu bringen. Nun wollten sie „ihren Kampf für die politischen und kulturellen Rechte der Kurdinnen und Kurden in eine Auseinandersetzung überführen, die fortan auf demokratischem Wege geführt werden kann.“7

Öcalan selbst hatte in seiner Botschaft keinerlei Bedingungen gestellt. Das galt jedoch nicht für die restliche PKK-Führung. Sie forderte die Freilassung des Parteigründers oder zumindest Freigang sowie einen rechtlichen Rahmen für den Friedensprozess mit allen notwendigen juristischen Garantien für die PKK-Kämpfer. Niemand dürfe verbannt werden, und für alle müsse es eine komplette Amnestie ­geben.

Am 2. Juni gaben Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş (AKP) und die beiden Co-Vorsitzenden der DEM, Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan, zusammen eine Pressekonferenz. Kurtulmuş betonte die Notwendigkeit eines gemeinsamen Engagements aller politischen Kräfte: „Dank der neuesten Erklärungen aus İmralı und der Entscheidung, die Organisa­tion zu entwaffnen, stehen wir nunmehr an einem Punkt, an dem die Debatten in der Großen Nationalversammlung der Türkei, dem Herzen der nationalen Willensbildung, weitergeführt werden können. Das ist eine historische Chance.“8 Um diesem Versöhnungswillen mehr Substanz zu verleihen, wurde am 5. August ein Parlamentsausschuss für nationale Solidarität, Brüderlichkeit und Demokratie mit dem Ziel gegründet, „den Frieden zu stärken“.

Die politischen Rochaden, die Präsident Erdoğan nach und nach in der Türkei ins Werk setzt, haben auch Folgen für das benachbarte Syrien. Anfang des Jahres bombardierte die türkische Luftwaffe noch die zivile und militärische Infrastruktur der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (Rojava), die von den mehrheitlich kurdischen Demokratischen Kräften Syriens (SDF) kontrolliert wird. Öcalans Aufruf zur Versöhnung bewog die Regierung in Ankara dazu, die Angriffe auszusetzen. Seitdem überfliegen nur noch Drohnen die Region.

Mazlum Abdî, der Oberbefehlshaber der SDF, unterzeichnete im März auf Drängen des Syrien-Sondergesandten der US-Regierung Thomas Joseph Barrack mit der neuen Regierung in Damaskus ein Abkommen, nach dem seine Truppen in die neue Nationalarmee des Landes integriert werden sollen (siehe den Beitrag von Emmanuel ­Haddad auf Seite 8 f.).

Dennoch ist längst nicht alles geregelt. Die SDF wollen, dass ihre Verbände als solche bestehen bleiben, und weigern sich, ihre Kämpfer einzeln in die syrische Armee zu integrieren. Allein die Auflösung der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), die im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) eine wichtige Rolle spielten, ist für die Kurd:in­nen unvorstellbar.

Obwohl Erdoğan das zwischen Abdî und Damaskus unterzeichnete Abkommen anerkannt hat, fordert er weiterhin eine Entwaffnung der SDF, was diese ablehnen, weil es immer noch kein offizielles Waffenstillstandsabkommen mit der türkischen Armee gibt und der IS weiterhin im Südosten Syriens angreift – auch wenn die Islamisten nach ihrer Niederlage von 2019 geschwächt sind.9

Für den türkischen Präsidenten ist die kurdische Frage unmittelbar mit den Hürden verknüpft, die seiner Wiederwahl im Wege stehen. Will er über 2028 hinaus an der Macht bleiben, muss er erstens die Beziehungen zu den 17 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei durch eine Rückkehr zur Demokratie befrieden. Und er muss zweitens den Konflikt mit den kurdischen Nachbarn in Syrien beenden.

1 Siehe Günter Seufert, „Erdogans Kalkül“, LMd, Juni 2025

2 Siehe Ariane Bonzon, „Die Erde bebt und was macht Erdogan?“, LMd, März 2023.

3 Anadolu, 25. August 2024.

4 Siehe Selahattin Demirtas, „Wir waren die Zukunft der Türkei“, LMd, Juli 2016.

5 Lara Villalón, „Turquie. La dissolution du PKK, une décision historique mais un processus imprécis“, ­Orient XXI, 12. März 2025.

6 Cathy Dos Santos, „Après l’appel d’Öcalan à déposer les armes, la Turquie doit libérer le chef historique du PKK“, L’Humanité, 27. Mai 2025.

7 Iris Lambert, „Dissolution du PKK: fin de la lutte ou poursuite par d’autres moyens?“, Sciences Po, 22. Mai 2025.

8 „Le président du Parlement turc et la délégation du DEM Parti appellent à saisir l’opportunité historique de paix“, Rojinfo, 2. Juni 2025.

9 Siehe Jean Michel Morel, „Provinzen des Kalifats“, LMd, März 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Jean Michel Morel ist Journalist und Redakteur des Onlinemagazins Orient XXI.

Le Monde diplomatique vom 11.09.2025, von Jean Michel Morel