Gnadenlose Diener der Hindunation
Vor 100 Jahren wurde in der Stadt Nagpur die paramilitärische Organisation RSS gegründet
von Guillaume Delacroix

Jeden Morgen um sechs treffen sich um die 20 Männer aus dem Stadtviertel Shankar Nagar im Park Shivaji von Nagpur (Maharashtra) unter der safrangelben Fahne der Hindunationalisten zur körperlichen Ertüchtigung und zum Beten. „Sangh daksh!“, befiehlt ihr Lehrmeister zu Beginn: „Stillgestanden!“ Die Männer legen die rechte Hand aufs Herz, die linke wird zur Faust geballt und nach unten gestreckt, der Kopf gesenkt – bis ein „Aaram!“ ertönt: „Rühren.“
Das Ganze dauert etwa eine Stunde: aufwärmen, laufen, lockern, atmen, etwas Kampfsport, einige Yogaübungen, zehn Minuten religiöse Unterweisung und zum Schluss ein Gebet. Am Ende wird die Fahne wieder eingezogen, und alle verschwinden in ihren Alltag.
Die Gruppe von Shankar Nagar ist eine Shakha (wörtlich „Zweig“) des radikalhinduistischen Freiwilligenkorps Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). In allen Nagpurer Vierteln gibt es eine Shakha, ebenso in allen anderen Städten Indiens und überall im ländlichen Raum. Unmöglich zu sagen, wie viele Shakhas es insgesamt sind: Das RSS besitzt keine Satzung und zieht weder Beiträge ein noch verteilt es Ausweise. Insgesamt soll die Organisation zwischen acht und zehn Millionen Mitglieder haben, die von Freiwilligenteams angeworben werden.
Jeder bekommt außerdem eine Fortbildung als Ersthelfer: „Sie betrachten es als ihre Mission, der Gemeinschaft zu dienen“, erklärt Balveer Arora, Politologe und ehemaliger Rektor der Jawaharlal-Nehru-Universität (JNU) in Neu-Delhi: „Sie sind stets die Ersten, die bei einem Zugunglück, einem Erdbeben oder einer Überschwemmung zu Hilfe eilen und somit das Versagen der staatlichen Organe kompensieren.“
Die Organisation, die im September 1925 gegründet wurde und schon mit der britischen Kolonialmacht kollaborierte, zeigte sich gegenüber den wechselnden Regierungen Indiens erstaunlich flexibel. Anfangs sei das RSS dabei eine rein soziokulturelle Bewegung gewesen, sagt Arora. Der politische Flügel kam erst 1951 mit der Gründung der Bharatiya Jana Sangh (Indische Volksvereinigung, BJS) hinzu, aus der 1980 die Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP) hervorging, mit der Narendra Modi 2014 an die Macht kam und seitdem ununterbrochen den Premierminister stellt.
Im Laufe der Jahre expandierte das RSS mit etwa 40 Unterorganisationen zu einem dichten Netzwerk namens Sangh Parivar (Familie der Organisationen). Es durchdringt heute sämtliche Gesellschaftsbereiche Indiens, wo 80 Prozent der Bevölkerung (1,4 Milliarden Menschen) hinduistisch sind: Wohltätigkeits- und Hilfsorganisationen, Studenten-, Bauern- und Arbeitergewerkschaften, religiöse Orden, Vereine zur Förderung von Kultur und Literatur, Verlage, Presseorgane und so weiter und so fort.
„Der RSS funktioniert wie ein soziokulturelles Franchisesystem“, erklärt der 67-jährige Unternehmer Ramesh Mantri, der Linsen und Trockenfrüchte vertreibt. Nur dass beim RSS alle auf der gleichen Stufe stünden. Gemeinsam arbeite man „am sozialen Miteinander, wie es uns die ‚Bhagavad Gita‘ lehrt“. Der „Gesang des Erhabenen“ aus dem Sanskritepos „Mahabharata“ ist das wichtigste religionsphilosophische Gedicht des Hinduismus und soll zwischen dem 5. und 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein.
Mantri trägt das Tilaka auf der Stirn, das rote hinduistische Segenszeichen. Im RSS ist er nur ein einfacher Swayamsevak, ein Freiwilliger. Seine Eltern waren bereits Mitglieder der Organisation, genau wie heute seine Kinder: „Ich wäre bestimmt ein anderer Mensch, wenn ich nicht dem RSS angehören würde.“
Jedes Jahr zwischen Ende Juni und Anfang Juli werden die RSS-Anhänger dazu aufgerufen, für ihre Shakha zu spenden: „Man steckt das Geld in einen Umschlag und legt ihn unter der Safranfahne ab. Jeder spendet so viel, wie er kann, das können 10 Rupien [circa 1 Euro] oder 1 Lakh [circa 1000 Euro] sein“, erklärt Mantri. Die Spenden sind offiziell die einzige Einnahmequelle, mit der unter anderem die 6 000 Pracharaks (Prediger) finanziert werden. Sie haben ein Keuschheitsgelübde abgelegt und sind hauptberuflich für das RSS tätig. Der 74-jährige Narendra Modi, der bereits mit acht Jahren dem Freiwilligenkorps beitrat, war von 1971 bis 1987 Pracharak.
Die Pracharaks sind dazu angehalten, ein bescheidenes Leben zu führen; sie essen meist bei Mitgliedern und deren Familien und verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, durchs Land zu reisen, um die Shakhas und das Sangh-Parivar-Netzwerk zu kontrollieren. Ihre Reiseausgaben werden durch Spenden gedeckt.
Wenn man in den Straßen von Nagpur, wo das RSS vor 100 Jahren gegründet wurde und auch seine Führung sitzt, die Spenden erwähnt, erntet man ein ironisches Lächeln. Es wird gemunkelt, dass in den Privatjets und Hubschraubern, die ständig auf dem Flughafen landen und wieder abheben, Koffer voller Geld transportiert würden, das die indische Elite der Hinduorganisation spendet.
Die für ihre Orangenzucht berühmte Stadt liegt in der geografischen Mitte des Lands, fast gleich weit entfernt von den vier großen Metropolen Neu-Delhi, Mumbai, Chennai und Kolkata. In Nagpur lagern die Goldreserven der Zentralbank, hier kreuzen sich die wichtigsten Straßen und Eisenbahnlinien.
Nagpur ist der Geburtsort von RSS-Gründer Keshav Baliram Hedgewar (1889–1940). Nach dem Vorbild von Mussolinis faschistischen Schwarzhemden organisierte der Arzt aus der Kaste der Brahmanen zuerst ein Jugendtrainingslager. Dort lernten die Jungen den Umgang mit dem Lathi, einem Bambusstock, den indische Polizisten noch heute tragen. Die RSS-Uniform besteht aus einem weißen Hemd und einer schwarzen Kappe; 2016 wurden die weiten Kakishorts durch eine dunkelbraune lange Hose ersetzt.
Das RSS leitet heute das größte Netzwerk schulischer Einrichtungen in Indien. In einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, wird die Pädagogik zum Schlüssel der nationalistischen Indoktrination. Laut einem Referenten des Informationsministeriums (das ausländische Journalisten sorgsam überwacht) unterhält die RSS-Bildungsorganisation Vidya Bharati (Indische Weisheit) etwa 30 000 Schulen. Ihre Zahl habe sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, sodass man ungefähr 7 Millionen Kindern aus staatlichen Schulen abwerben könnte.
„Das RSS hat durch ihre Schulen einen großen Einfluss auf die Grund- und Sekundarschulbildung, aber auch auf das nationale Bildungssystem“, erklärt Balveer Arora. Immer mehr Lehrer- oder Schulleiterposten würden mit RSS-Mitgliedern besetzt und die Lehrpläne in deren Sinne umgeschrieben.
So wird den Kindern eingetrichtert, sie stammten von den Ariern ab. Sie lernen nichts mehr über die islamische Mogulzeit (1526–1858). Auch der Name des ersten Staatschefs des unabhängigen Indiens, Jawaharlal Nehru, wird systematisch aus den Schulbüchern getilgt, weil er Sozialist und „Säkularist“ war. Dasselbe geschieht im Hochschulbereich. Inzwischen leitet ein RSS-Mitglied die University Grants Commission (UGC), das Kontrollorgan der staatlichen Universitäten. „Seit die BJP an der Macht ist, wurde die Jawaharlal-Nehru-Universität, früher eine Bastion des liberalen Denkens, komplett umgekrempelt“, berichtet deren ehemaliger Rektor Arora.

Frühsport und Fahnenappell
Kurz nachdem die BJP im Juni 2024 bei den Parlamentswahlen gewonnen, die absolute Mehrheit im Unterhaus des Parlaments (Lok Sabha) allerdings verfehlt hatte, erreichte die Unterwanderung des Staats durch den RSS einen neuen Höhepunkt. Im Wahlkampf waren Risse zwischen der BJP und dem RSS sichtbar geworden: Der Personenkult um Modi und dessen ausgeprägter Narzissmus kommen bei der Organisation nicht gut an. RSS-Chef Mohan Bhagwat kritisierte nach dem schlechten Wahlergebnis sogar offen die „Arroganz“ der BJP.1
Der geschwächte Modi handelte schnell: Wenige Wochen nach seiner Wiederwahl hob er per Dekret das Verbot für Beamte auf, sich im RSS zu engagieren. Bis dahin waren RSS-Mitglieder vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen, weil die Organisation in der Vergangenheit dreimal verboten worden war: 1948 nach der Ermordung Mahatma Gandhis durch einen RSS-Sympathisanten; 1975, als Premierministerin Indira Gandhi den Ausnahmezustand verhängt hatte; und 1992 nach der Zerstörung der Babri-Moschee von Ayodhya (Uttar Pradesh) durch Hindufundamentalisten.
Bis heute berufen sich die Anführer des RSS auf den rechtsextremen Denker Vinayak Damodar Savarkar (1883–1966). Sein 1923 veröffentlichtes Pamphlet „Essentials of Hindutva“ machte den Begriff Hindutva populär. Laut Savarkar sind Indien und der Hinduismus ein und dasselbe. Letzterer sei keine Religion wie jede andere, sondern eine Lebensweise für eine ganze Zivilisation. Mit der indischen Verfassung und der in ihr festgelegten föderalen Struktur des Lands sei diese identitäre Vorstellung allerdings unvereinbar, erklärt Eswaran Sridharan, akademischer Leiter des Instituts für Indienstudien der Universität von Pennsylvania in Neu-Delhi.
Auch Modi beruft sich auf Savarkar. Als er im Februar 2025 Marseille besuchte, um das nahe gelegene internationale Kernfusionprojekt ITER – an dem auch Indien maßgeblich beteiligt ist – zu besichtigen, lobte er später öffentlich den „Mut“ Savarkars. Dieser war 1909 angeblich von einem Schiff, das ihn nach seiner Verhaftung in London nach Indien bringen sollte, nach Marseille geschwommen.2 Laut Arun Shourie, der um die Jahrtausendwende in der ersten BJP-Regierung Minister war, ist diese Geschichte jedoch komplett erfunden.3
Im November 2022 nutzte Modi die Vorbereitungen zum G20-Gipfel, den Indien 2023 ausrichten sollte, und lud ausländische Diplomaten auf die Andamanen ein, um das ehemalige britische Kolonialgefängnis zu besuchen, in dem Savarkar von 1911 bis 1921 einsaß. Keiner dieser Diplomaten hielt es für angebracht, daran zu erinnern, dass Savarkar 1939 gefordert hatte, man solle Indiens Muslime genauso verfolgen wie die Nazis in Deutschland die Juden.4
Das Projekt, Indien von einem säkularen Staat in einen ethnisch-nationalistischen Staat zu verwandeln, war die Idee von Madhav Sadashivrao Golwalkar (1906–1973), dem Verfechter der Hindu Rashtra (Hindunation). Golwalkar leitete das RSS in der Nachfolge von Hedgewar mehr als 30 Jahre lang. Der Mann mit den langen Haaren und dem buschigen Bart, der wie ein Halbgott verehrt wurde, war ebenfalls Hitler-Anhänger.
Golwalkar machte das RSS vor allem durch zwei Schriften populär, deren Lektüre für jedes Mitglied verpflichtend ist: „We or Our Nationhood Defined“ (Bharat Publications, 1939) und „Bunch of Thoughts“ (Sahitya Sindhu Prakashana, 1966). Darin nimmt er seine drei Obsessionen ins Visier: Muslime, Christen und Kommunisten. In ersterem Buch schreibt er: „Fremde Rassen müssen entweder die Kultur und Sprache der Hindus übernehmen, oder sie müssen sich, um im Land bleiben zu dürfen, komplett der Hindunation unterwerfen; ohne Ansprüche zu stellen, Privilegien zu verdienen oder irgendwelche Vorzugsbehandlung – nicht einmal bürgerliche Rechte.“
Besucher der RSS-Zentrale in Nagpur bekommen indes eine andere Geschichte zu hören. Die Zentrale ist in einem unscheinbaren Gebäude in der Nähe des gigantischen, staubigen Sportplatzes Reshimbagh untergebracht. Am Fuße einer riesigen Hedgewar-Statue wird einem erzählt, dass die Organisation „inklusiv“ sei und alle Menschen mit „offenen Armen“ empfange, „Muslime und Christen inbegriffen“. Obwohl keine einzige Frau zu sehen ist, gibt es, wie meine Gastgeber betonen, einen parallelen Frauenzweig mit Büros einen Kilometer entfernt im Stadtteil Dhantoli.
Das 1936 gegründete Rashtra Sevika Samiti (Nationale Frauenfreiwilligenkomitee) ist allerdings bescheidener als sein großer Bruder. Es hat nur 4000 Shakhas, in denen die Vermittlung traditioneller Familienwerte durch die Lehre vedischer Schriften und Kampfkünste an erster Stelle steht.5
„Die RSS-Aktivisten sind Meister der Doppelzüngigkeit“, erklärt Nilanjan Mukhopadhyay, Journalist und Autor von „The RSS: Icons of the Indian Right“ (Tranquebar, 2019). „Sie beteuern, nichts gegen Muslime zu haben, zugleich aber bezeichnet Innenminister Amit Shah sie als ‚Termiten‘, von denen sich Indien befreien müsse. Sie wiederholen ständig, dass die derzeitige Regierung niemanden diskriminiert und allen Bedürftigen hilft; kein Wort darüber, dass das Regime andauernd gegen die Menschenrechte und den Verfassungsartikel 14 verstößt, der allen Bürgern Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.“ RSS-Chef Bhagwat verkündet öffentlich, die LGBT-Community habe „das Recht zu leben wie die anderen“, während die Wortführer der Organisation Homosexualität regelmäßig als „krankhafte Störung“ bezeichnen.6
Das Weltbild der RSS-Ideologen sei tatsächlich denkbar schlicht, erklärt der Politikwissenschaftler Jyotirmaya Sharma von der Universität Hyderabad in seinem Standardwerk zur Hindutva7 : Hindus seien arischen Ursprungs, und zu Indien gehörten nur diejenigen, die es als ihr Vaterland (pitribhumi) und heiliges Land (punyabhumi) betrachten; das treffe auf Hindus, Jains, Sikhs und Buddhisten zu, nicht aber auf Muslime, Christen, Zoroastrier und Juden; diese vier Religionen seien Indien fremd.
Vilas Kale, ein Schmuckhändler aus Nagpur, erklärt stolz: „Vinayak Damodar Savarkar war der Erste, der den Hindus ihr Selbstvertrauen zurückgegeben hat, als er erklärte, dass der Hinduismus, anders als im Westen behauptet, keine heidnische Religion ist.“ Selbst nach der Unabhängigkeit 1947 hätten sich die Hindus noch für ihre Religion geschämt. Das RSS habe ihnen geholfen, dieses Gefühl zu überwinden. „Und Narendra Modi, der 2014 an die Macht kam, hat die Wiederherstellung unseres Stolzes vollendet“, schwärmt der 74-Jährige, der in einer Villa mit üppigem tropischem Garten wohnt.
Auch Kale nimmt jeden Morgen am Fahnenappell seiner Shakha teil. Seit seiner Kindheit gehört er dem RSS an, wie schon sein Vater und sein Onkel. „Das Interessanteste, was ich gelernt habe, ist kultureller Natur. Die Hauptaufgabe der Organisation ist, das Erbe unserer Zivilisation zu bewahren, die Werte, auf denen unsere Gesellschaft gründet. Es geht nicht darum, dass die hinduistischen Götter anderen überlegen wären, sondern um die Frage, warum Indien jahrhundertelang von anderen Kulturen und Religionen unterworfen und von außen angegriffen wurde.“
Für Kale begann Indiens Niedergang, als sich ab dem 8. Jahrhundert der Islam auf dem Subkontinent ausbreitete. Die muslimische Präsenz dauerte tausend Jahre an und gipfelte im Mogulreich, das dann vom British Empire abgelöst wurde. „1200 Jahre Sklaverei“, wettert Modi für gewöhnlich und ignoriert die historische Forschung zum inspirierenden und fruchtbaren Zusammenleben von Hindus und Muslimen seit dem Mittelalter, während der Renaissance und noch zu Beginn der Neuzeit.
Mit keinem Wort erwähnt Kale jedoch die antimuslimischen Übergriffe, die in BJP-regierten Bundesstaaten wie Uttar Pradesh, Madhya Pradesh oder Uttarakhand immer mehr zunehmen. „Hinduismus und Fanatismus schließen sich aus“, versichert er. „Ihrem Wesen nach sind Hindus friedlich. Wenn Einzelne Andersgläubige angreifen, sind das Ausnahmen.“ Als Beweis fügt er an, dass Indien eins der wenigen Länder sei, das noch nie einen Krieg begonnen hat. Ihm zufolge habe das RSS lediglich darauf hingewirkt, die Hindus zu „einen“, die zu lange „gespalten“ waren. Damit benennt der Schmuckhändler tatsächlich das Erfolgsrezept der hindunationalistischen Bewegung, mit dem sie sowohl die aufstrebende Mittelschicht als auch die benachteiligten Massen erreicht.
Wenn Modi vor jubelnden Menschenmengen verkündet, das 21. Jahrhundert werde „das Jahrhundert Indiens“, verspricht er damit zu heilen, was der indische Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul (1932–2018) einst als Indiens „verwundete Kultur“ bezeichnet hatte.8
Modi verspricht, die Demütigung, die sein Volk unter dem Joch der Invasoren erleiden musste, wiedergutzumachen und ihm sein verdientes Prestige zurückzugeben.
Rama-Tempel auf den Ruinen einer Moschee
Der in hindunationalistischen Kreisen gut vernetzte Journalist Swapan Dasgupta, der von 2016 bis 2021 für die BJP im Oberhaus des Parlaments (Rajya Sabha) saß, analysiert es wie folgt: „Nach zwölf Jahrhunderten unter fremder Besatzung haben die Hindus immer noch das Gefühl, keine Souveränität zu besitzen. Die schmerzhafte Erinnerung an die Versklavung verstärkt den Minderwertigkeitskomplex gegenüber den angeblich so virilen Muslimen und überheblichen Westlern, der die Hindus bis vor Kurzem geprägt hat.“
Modis ehrgeizigem Ziel steht allerdings ein großes Hindernis im Weg: das hierarchische Kastensystem, das die indische Gesellschaft seit drei Jahrtausenden strukturiert und spaltet. Man wird in eine Kaste hineingeboren, heiratet innerhalb seiner Kaste, und wehe, man verstößt gegen die Regeln. Hartosh Singh Bal, Chefredakteur von The Caravan, einer der letzten unabhängigen Zeitungen Indiens, erklärt, dass die Hindunationalisten die interne Sprengkraft des Kastenwesens und die Notwendigkeit eines Gemeinschaft stiftenden Elements erkannt hätten: „Daher rührt das Interesse, die Muslime zum gemeinsamen Feind zu erklären.“
Zum Spaltpilz entwickelten sich auch die staatlichen Maßnahmen, die insbesondere seit den 1990er Jahren unternommen wurden, um die sozialen Verwerfungen des Kastensystems zu lindern, das seit der Unabhängigkeit von den politisierten unteren Kasten immer stärker infrage gestellt wurde. Die oberen Kasten, die glauben, dass ihnen die gesellschaftliche Macht rechtmäßig zustehe, übten scharfe Kritik an der institutionalisierten positiven Diskriminierung zugunsten der unteren Kasten, die über ein Quotensystem endlich Zugang zu höher dotierten Ämtern im öffentlichen Dienst bekamen und nicht mehr nur die niederen, schlecht bezahlten Arbeiten verrichten mussten. Das ging so weit, dass sich Studierende aus höheren Kasten aus Protest selbst anzündeten.
Das RSS, das positive Diskriminierung ebenfalls ablehnt, verwendete viel Energie darauf, die Kritik am Kastensystem zu unterdrücken und die soziale Wut der unteren Kasten auf Muslime umzulenken. Bislang hatte sich die BJP auch geweigert, eine Volkszählung nach Kasten durchzuführen – die letzte fand 1931 statt –, weil sie fürchtet, dass die unteren Kasten und andere Benachteiligte, die noch nicht einmal in dieser Klassifikation auftauchen, erkennen könnten, dass sie 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Doch schließlich musste die BJP der Opposition nachgeben. 2026 soll nun eine Volkszählung stattfinden, die auch die Kastenzugehörigkeit abfragt.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum das RSS so viel Energie auf Ayodhya verwendet hat. Die kleine Stadt in der Gangesebene, die heute ironischerweise als „Mekka der Hindus“ bezeichnet wird, war für seine Moschee berühmt, die im 16. Jahrhundert auf Befehl des ersten Mogulherrschers Babur erbaut wurde. Seit seiner Gründung hatte das RSS immer wieder angekündigt, die Moschee abzureißen und an ihrer Stelle einen Tempel zu Ehren Ramas zu errichten. Der Avatar von Gott Vishnu soll nämlich genau an dieser Stelle zur Welt gekommen sein.
Am 6. Dezember 1992 rückten fanatische Anhänger des Vishwa Hindu Parishad (VHP, religiöser Arm des RSS) mit Spitzhacken und Hämmern an und zerstörten die Moschee. Danach kam es monatelang in ganz Indien zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen mit mehreren tausend Toten. Nach langem juristischen Hickhack weihte Premierminister Modi schließlich 2024 an derselben Stelle einen Rama-Tempel ein.
Singh Bal kommentiert: „Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist es dem RSS gelungen, ein politisches System zu etablieren, in dem ihm alle Parteien aus Furcht, als antihinduistisch abgestempelt zu werden, Gefolgschaft leisten. Wie das RSS das Land verändert hat, erkennt man auch daran, dass keine Partei gegen den Tempelbau in Ayodhya protestiert hat.“
Aber auch das Freiwilligenkorps hat sich verändert. Laut Swapan Dasgupta sei das RSS gegründet worden, um „Leute, die damals nichts anderes zu tun hatten, unter einer Fahne zu versammeln. Die Eltern freuten sich, dass die Organisation ihren Kindern eine Beschäftigung bot. Aber heute gibt es Smartphones und keine Langeweile mehr; das ist eine große Herausforderung für das RSS.“ Dabei hat sich die Organisation schon früh die neuen Medien zunutze gemacht und verbreitet heute mithilfe einer Trollarmee, die schätzungsweise 10 000 Personen umfasst, über die sozialen Netzwerke in allen indischen Sprachen seine Propaganda und Desinformation.
Im Februar 2025 ist die RSS-Leitung in ein neues Hauptquartier in Neu-Delhi gezogen, eine weitere Demonstration ihrer Macht. Das zwölfstöckige Hochhaus im Stadtteil Jhandewalan liegt nur zehn Autominuten entfernt vom Connaught Place, dem Zentrum der Hauptstadt. Trotz seiner historischen Bedeutung rückt Nagpur nun in den Hintergrund.
Und auch im Ausland wird das RSS immer aktiver. Es will die indische Diaspora in 25 Ländern, insbesondere in den USA und in Großbritannien, für seine Sache gewinnen.9 Auch die Europäische Union wird bald ihren ersten traditionellen Hindutempel bekommen; er entsteht gerade in der französischen Gemeinde Bussy-Saint-Georges (Region Île-de-France) und soll 2026 eingeweiht werden.
3 Arun Shourie, „The New Icon. Savarkar and the Facts“, New York (Viking Press) 2025.
8 V. S. Naipaul, „Indien. Eine verwundete Kultur“, Zug (Edition Sven Erik Bergh) 1978.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Guillaume Delacroix ist Journalist und (zusammen mit Sophie Landrin) Autor von „Dans la tête de Narendra Modi“, Arles (Actes Sud) 2024.


